Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Vierundfünfzigstes Kapitel

Als aber die Abenddämmerung dieses zweiten Tages hereinbrach, fiel ihr unsteter Blick, während sie immer noch mit trockenen Augen, fieberglühenden Schläfen, zerrissener, verödeter Seele auf demselben Stuhl saß, auf zwei an der Wand hängende Bilder – eine ganz in weiße Schleier gehüllte Madonna, zu deren Füßen die Jahreszahl von Jeans erster Kommunion stand, und auf ein Kruzifix aus Elfenbein . . .

Die hilfsbereiten Frauen hatten sie jetzt verlassen, weil sie ihnen ruhiger erschienen war. Sie war allein, allein, wie fortan bis zu ihrem Tod.

In den alles umspinnenden abendlichen Schatten war ein letzter Abglanz des scheidenden Tages an der Wand haften geblieben, auf diesen hellen Punkten – einer Mahnung, einem Fingerzeig gleich. Und während sie aus heißen, eingesunkenen Augen darauf hinstarrte, rührte sich etwas in ihr, eine Weichheit stieg auf, dieses Mal aber im tiefsten, geheimsten Grund ihrer Seele, es wurde stiller, milder in ihr, und mit einemmal begannen die Thränen zu fließen, aber es waren andre, minder bittere Thränen . . . Ihr Widerstand war gebrochen, beendigt; von einem inneren Drang getrieben, stand sie plötzlich auf, um sich vor den Heiligen niederzuwerfen, nach oben gerichteten Blickes die Kniee zu beugen, und ihr ganzes Wesen zerfloß in Weichheit, löste sich auf in einen linden Thränenstrom . . .

Das himmlische Wiedersehen trat dieser Mutter vor Augen, alle Verheißungen von Ewigkeit, alle strahlenden Verlockungen der christlichen Unsterblichkeitslehre, wie die Einfältigen im Geist sie auffassen, und wie sie sein müssen, um Trost zu gewähren. Ihren Jean, ihren Vielgeliebten, da oben wiederzufinden, ihren Jean, der noch ganz er selbst, ganz menschlich, ganz ihr Kind sein würde, ja der noch sein irdisches Kinderlächeln haben, sich an das Haus in der Provence erinnern würde – und an das braune Filzhütchen und die sonnige Osterzeit!

O ja! Jetzt war ihre Seele beschwichtigt, wie wenn man ein Fieber mit frischem Wasser kühlt. Zwischen den Seelen von Mutter und Sohn, die eine der andern entsprungen, hatte sich wieder ein mystisches Band geknüpft, und dieses Band verlieh der Zurückgebliebenen die Illusion einer Fortdauer des ins Nichts versunkenen Geistes . . .

Gewillt, sich in ihr Schicksal zu finden, erkannte sie jetzt auch die Möglichkeit, ihr einsames Dasein fortzuspinnen, das Leben wieder aufzunehmen, gleichsam unter dem aus weiter Ferne auf sie gerichteten, halb verschleierten Blick des Sohnes. Sie konnte sich vorstellen, daß sie die verödete Wohnung wieder in Ordnung bringen und sie nie mehr verlassen würde, daß sie sich um seinetwillen, ihm zu Ehren, schickliche Trauerkleidung beschaffen werde wie eine Dame. Und von Schluchzen unterbrochen, sprach sie die Worte: »Ja, Herr, mein Gott, ich werde mich beugen. Ich werde weiterleben und weiterarbeiten . . . so gut ich kann . . . bis zu der Stunde, wo du, mein Herr und Gott, mich zu dir rufen wirst . . .«

*

O Heiland derer, die da weinen, o du gelassene, lilienweiße Jungfrau, o all ihr anbetenswerten Legenden, die nichts je ersetzen wird, die ihr allein der Mutter ohne Kind, dem Sohn ohne Mutter Kraft verleiht, das Leben zu ertragen, die ihr den Thränen gelinderen Lauf gebt und den schwarzen Abgrund des Todes mit euerm Trosteslächeln kränzt – seid gepriesen!

Und wir, die wir euch auf ewig verloren haben, wir küssen weinend die Spuren, die euer Fuß dem Staub aufdrückte, als ihr von uns ginget . . .

 

Ende.


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