Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Siebenundzwanzigstes Kapitel

An einem schönen Augustabend des nämlichen Sommers lehnten Jean und die Mutter wieder an ihrem Fenster, die Ellbogen auf das rote Kissen des breiten Steingesims stützend.

Zwischen ihnen hatte ein heftiger Sturm getobt, eine lange qualvolle Uneinigkeit, die einzige allerdings seit jenen fernen schweren Tagen, aber jetzt waren die Wolken verweht, die Gemüter waren beschwichtigt und versöhnlich gestimmt, sie fanden sich wieder.

Die Sache war die: Seine Dienstzeit als Matrose ging dem Ende zu, und die Mutter hätte gewünscht, daß er das einzig Vernünftige thue, nämlich in Brest bleiben, um die Kurse in Schiffahrtskunde jetzt zu besuchen.

Wenn er sich recht ins Zeug legte, so glaubte die Mutter, daß er im nächsten Jahr schon bei irgend einer der großen Dampfschiffgesellschaften, vielleicht einer des Mittelmeers, Anstellung finden konnte, und dann hätte sich die Zukunft für beide gelichtet.

Allein Jean, der während der Seefahrt kein Mathematikbuch aufgeschlagen und sich nur mit der praktischen Seite seines Berufs beschäftigt hatte, war sich wohl bewußt, daß Algebra und Trigonometrie etwa in den Zustand unentwirrbarer Wollsträhne geraten waren in seinem Kopf, und stellte sich mit kindischer Angst vor, welche Mühe er kosten würde, diese abstrakten Begriffe wieder in Ordnung zu bringen. Ersparnisse hatte er während des Aufenthalts in amerikanischen Seehäfen auch nicht gemacht, folglich hätte die Nadel der Goldstickerin unausgesetzt an der Arbeit sein müssen, und mit geheimem Selbstvorwurf sagte er sich, der Gedanke, mit einundzwanzig Jahren von der Arbeit seiner Mutter zu leben, sei ihm unerträglich.

Trotz seines warmen Kinderherzens war er von jeher schwierig zu lenken gewesen, und schon rührte sich der Eigensinn, die böse Laune, schon hatten seine Augen und seine Stimme alle Weichheit eingebüßt, als die Mutter ihm auch noch einen ungeschickten Vorwurf machte, einen jener Vorwürfe, die aus mißverstandener Zärtlichkeit hervorgehen und so leicht die Herzen auf eine Zeit lang verschließen.

Dann hatte er sich hinter seinen Trotz verschanzt, in schweigendem Eigensinn den Plan verfolgt, der so bequem und verlockend vor ihm lag, der ihn aller Schwierigkeiten und Mühsal entheben mußte – von neuem in der Kriegsmarine zu dienen! . . . Zudem hatte Jean den Reiz noch nicht erschöpft, den dieser Dienst und dieses Leben auf so viele junge Menschen ausüben.

*

Seit gestern war es nun niet- und nagelfest, verbrieft, endgültig entschieden – er hatte sich, ohne mit der Mutter darüber zu sprechen, auf weitere fünf Jahre an den blauen Kragen gebunden!

Als er dann heute früh erwacht war, hatte ihn beim Gedanken an diesen unwiderruflichen Schritt doch ein gewisses Angstgefühl beschlichen, einer Todesahnung vergleichbar. Beim Frühstück hatten Mutter und Sohn zuerst schweigend dagesessen, dann war ganz beiläufig in kurzen, abgerissenen Worten die Mitteilung an die Mutter erfolgt, und diese, der schon lange etwas Derartiges geschwant haben mochte, hatte ihn ohne einen Laut der Ueberraschung angesehen mit einem tiefschmerzlichen Blick, der alsbald von Thränen verdunkelt wurde. Da war bei ihm das Eis gebrochen, er hatte die Arme um sie geschlungen, und das Schlimmste war überstanden gewesen. Lange hatten sie eng umschlungen bei einander gesessen, die Herzen voll Zärtlichkeit und Verzeihung, die beiden Verlassenen, denen die Zukunft von neuem ein erschreckendes Antlitz zukehrte.

»Ach, wie hast du nur wünschen können, daß ich's anders mache!« sagte er mit sanftem Vorwurf.

Und er überzeugte sie beinahe davon, daß er recht habe. Er war ja wieder einmal ganz ihr Kind, und die Freude, ihn wieder gefunden zu haben, bewirkte, daß sie all seine Gründe gelten ließ, ohne mit ihm zu rechten, ohne sie auch nur selbständig zu beurteilen.

Den Nachmittag über hatten sie dann auf dieser neuen Grundlage neue Zukunftspläne geschmiedet und Mittel und Wege erwogen, wie die gegebenen Verhältnisse sich zum Besten wenden ließen.

Er wollte so rasch als möglich in See zu kommen suchen, und es traf sich, daß sein Name auf der Einschiffungsliste obenan stand. Ein Offizier, den er an Bord der »Resoluta« kennen gelernt hatte, wollte dafür sorgen, daß er in etwa vierzehn Tagen mit dem »Navarin« eine zehnmonatliche Fahrt um die Welt antreten könne. Während dieser langen Reise, die nicht die Zerstreuung der Landungen bot, würde er unausgesetzt auf hoher See gehörig arbeiten, und jetzt, da er Obermatrose war, würde er's auch zu Ersparnissen bringen. Dann konnte er, nach Brest zurückgekehrt, neben dem Matrosendienst die Kurse besuchen, was so viele thun, und hatte er sein Examen bestanden, so würde er gewiß schon nach zwei statt erst nach fünf Dienstjahren den Abschied bekommen.

In vollständiger Einigkeit, beruhigten Gemüts und entschlossenen Sinns sahen die beiden von ihrem Fenster aus den Sommerabend zur Neige gehen. In der Stille ihren Gedanken nachhangend, ließen sie ihre Blicke auf dem ruhen, was der beschränkte und düstere Rahmen, worein sie zufällig geraten waren, darbot, und sahen die eintönigen Bilder nach und nach in Dunkelheit versinken, erst die kleine Gartenterrasse unter ihnen, dann den Granit der Mauern, die Schieferplatten der Dächer, zuletzt auch die hohen Schornsteine, die sich lange scharf vom gelblichen Abendhimmel abhoben. Was die ungewisse Zukunft ihnen bringen würde, hing einzig und allein von ihrer Arbeits- und Willenskraft ab, aber sie fühlten sich voll Zuversicht und namentlich voll inniger Zusammengehörigkeit nach dieser bösen Zeit des Unfriedens, worunter beide gleich schwer gelitten hatten und die der Mutter fast die Möglichkeit der allerbittersten Enttäuschung gezeigt hatte, die ihr hätte beschieden sein können – die Möglichkeit eines Zweifels an ihrem Jean.


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