Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Vierundzwanzigstes Kapitel

In den Tropen an einem wunderbaren Abend, wo der australische Passat mit seiner erlesensten Milde wehte.

Von gesunder Muskelermüdung beschlichen, sanft gewiegt von der Bewegung des Schiffs wie ein Kind, das man einschläfert, lag Jean ausgestreckt auf dem Deck beim allmählichen Auftauchen der Sterne mitten unter einer Schar von Müßigen in weißer Jacke, die alle heraufgekommen waren, sich nach und nach gleichfalls ausstreckten oder in gedrängten Gruppen zusammensetzten, um die so herrliche Nacht zu verbringen. In dieser Ruhe, die dem Schlaf voranging, verdüsterte sich sein Gemüt wie gewöhnlich wieder durch allerlei Zukunftsnöte und die Vorstellung des Examens.

Zu seiner Rechten hatte er die beiden Lieblingskameraden, Le Marec, den Obermatrosen vom Steuer, und Joal von der Marineartillerie, die beide von der Nordküste stammten, und in diesem Augenblick von jungen Landsleuten umringt waren, die ihnen mit Ehrfurcht zuhörten.

Zu seiner Linken einen Kreis von Basken, besondere Leute, die sich untereinander in einer unverständlichen vorsintflutlichen Mundart unterhielten.

Etwas weiter entfernt ertönte Chorgesang: ein lustiges Lied, dessen Kehrreim vom alten Neptun, dem König der Wasser, unaufhörlich wiederkehrte.

Die Bretonen erzählten sich eine Geschichte von Nacht und Nebel, die Jean zusammenhangslos vorkam, weil er anfangs nicht aufgemerkt hatte. Es handelte sich um eine geheimnisvolle Brigg, die man dienstunfähig und ohne Mannschaft an einem frühen Winterabend im Kanal angetroffen hatte, eine Art von großem Wrack, das man aus Furcht, Tote darauf zu finden, nur zögernd bestiegen habe. Die Basken in der ganz nah sitzenden Gruppe schilderten einander kriegerische Abenteuer unter glühender Sonne in den Sandsteppen von Dahomey, und in Jeans schon etwas schlaftrunkenem Geist flossen diese beiden Geschichten ineinander, die übrigens gleich kraß und kindlich waren, und der nahe Chor fuhr fort, durch den Gassenhauer vom »Alten Neptun« das Kunterbunt vollends unverständlich zu machen. Man ist an Bord unvermeidlich nah beisammen, besonders an den Abenden, wo alles an Deck sein will.

»Endlich,« sagte Le Marec, der als Junge Fischer in Binic gewesen war, »entschließen wir uns, heranzufahren« (es handelte sich immer noch um das unheimliche Wrack). »Man sah schon nicht mehr recht, es war fast Nacht und, meiner Seel', ich hatte gar keinen Magen zu der Geschichte, das kann ich euch wohl sagen! . . . Aber sein sollt' es eben, und so hänge ich mich mit den Händen an die Reeling und zieh' mich hinauf, um mich umzusehen . . . nun . . . und was krieg' ich zu sehen, Leute? Eine große schwarze Gestalt mit Hörnern und Spitzbart richtet sich kerzengerade in die Höhe und springt auf mich los . . .«

»Das war der Teufel, gelt?« fragte Joal mit voller Zuversicht, das Richtige erraten zu haben.

»Zum Henker, das haben wir auch gedacht und nichts andres . . . aber nein . . . 's war ein Bock! Aber ein Mordskerl von einem Bock, sage ich euch! So groß und fett ist noch keiner gesehen worden . . .«

Und Irrubeta, ein Baske aus Zitzarry, berichtete zu gleicher Zeit mit einer Stimme, die neben dem rauhen biederen Klang aus bretonischen Kehlen melodisch und dramatisch klang: »Es war die Amazone, die ihn verraten hatte, den Spion, verstehst du mich? Und dann führt ihn der andre, der große Neger, fort und sagt: ›Komm an den Strand,‹ sagt er, ›damit ich dir den Hals abschneide, komm nur, komm nur!‹«

»Und der ist gekommen?« fragte der ungläubige Etcheverry, der von Biarritz stammte, wo mehr Fortschritt herrscht.

»Natürlich, das versteht sich doch von selbst, denn siehst du, weil er ja doch ein Spion gewesen ist, hat er ja wohl wissen müssen, daß das ein Unrecht ist . . . angenehm war's ihm aber natürlich nicht, kannst dir's ja denken!«

Und die Bretonen fuhren in ihrer winterlichen Nebelgeschichte fort: »Und ganz gottsverlassen war er, dieser Bock, ganz allein an Bord, weil's aber ein Schiff mit Gerstenladung gewesen war, die im Zwischendeck verstaut war, hatte er wenigstens genug zu fressen gehabt und drum war er auch so fett geworden, ihr begreift . . .«

»Nun dann bindet er also meinen Spion,« berichtete Irrubeta, »mit den Grashalmen, womit sie sich auch die Haare aufbinden in diesem schmutzigen Land da, läßt ihn auf dem Sand niederknieen und fängt an mit seinem Krautmesser an seinem Genick zu sägen. Jetzt aber, wie's losging, hatte der gar keine Lust mehr, sich's gefallen zu lassen, und hat geschrieen, na, ich sage euch . . . Und die Amazone hat mit den Zähnen geknirscht . . . so . . . hört nur, wahrscheinlich um auszudrücken, daß es ihr ganz recht sei. Nun, ob ihr's glaubt oder nicht, er hat's nicht zu stand gebracht mit seinen Kommissäbel, so schlecht geschliffen war der, und schließlich hat er ein elendes Messerchen um einen halben Franken aus der Tasche ziehen müssen, das ich ihm einmal geschenkt hab' in einem Bazar in Goreä . . . bei der Mutter Virginie hab' ich's gekauft! . . .«

Während sich die Zuhörer über diese Art, jemand den Hals abzuschneiden, höchlich belustigt zeigten, saßen ihre Nachbarn aus der Bretagne in träumerischem Schweigen da und machten ihre Gedanken über das Wrack und den Bock . . .

Jean, der zuletzt mit jedem Ohr nach einer Seite hingehört hatte, lachte in sich hinein über die barbarische Kindlichkeit beider Erzählungen, und das lustige Lied vom alten Neptun steckte ihn mit seiner unwiderstehlichen Ausgelassenheit an. Noch nie war er so ganz und gar, so ohne Rückhalt Matrose gewesen wie an diesem Abend. All seine Zukunftssorgen, die ohnehin von Tag zu Tag mehr verblaßten, lösten sich vollkommen auf im Gefühl körperlichen Wohlseins und Ausruhens. Sein ganzes Wesen gab sich der physischen Lust zu leben und zu atmen hin, die Kraft und Geschmeidigkeit der Muskeln unter der leichten, bequemen Kleidung zu fühlen.

Er streckte sich vollends der Länge nach aus auf den reinlichen Planken, die seine gewohnte Lagerstätte bildeten, und bettete den Kopf auf Schulter oder Bein irgend eines Nachbars, wie es an Bord üblich ist, um selig zu entschlummern.

Es war die vor allen andern zauberische Stunde, wo der milde Passat über die Meeresfläche hinstreicht.

Noch einen Augenblick sah er die großen blassen Fächer der Segel, die sich wie riesige Vögel auf dem tiefen Blau des nächtlichen Himmels wiegten. Dann unterschied er nur noch die klaren Sternbilder der australischen Hemisphäre, die gerade über ihm zwischen der mehr und mehr in Dunkel verschwimmenden Takelage einen Reigen zu tanzen und Versteck zu spielen schienen, denn in regelmäßigen Zwischenräumen verschwanden sie, um gleich darauf wieder zu erscheinen, um sich zu neigen, sich zu verhüllen und das Spiel beim sanften Rhythmus der wiegenden Wellen immer wieder von neuem zu beginnen. Endlich sah er auch diese nicht mehr und verlor nach und nach das Bewußtsein aller Dinge im Schlaf, der die Persönlichkeit aufhebt, um ihre verbrauchten Kräfte zu ergänzen . . .


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