Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Vierunddreißigstes Kapitel

Nun gingen sie Abend für Abend nebeneinander her, freilich nur eine Strecke von fünfzig oder sechzig Schritt, nie mehr, immer in dieser nämlichen Straße ohne Fenster und ohne Spaziergänger, die sich still und verborgen zwischen den weiß getünchten Mauern der alten Gärten hinzog. Ueber ihren Häuptern knospten die Linden, blühten und sputeten sich, ein dichtes Laubgewölbe herzustellen, und die Abende wurden von Tag zu Tag länger und heller, drängten mit dem unerbittlich raschen Schritt der Zeit dem Sommer entgegen, und der April schritt mit einer Geschwindigkeit voran, der sie gern Einhalt gethan hätten.

Dieser April lächelte aber gar nicht zu ihrer Liebe, die wahrscheinlich ohne Zukunft war, die keinen andern Rahmen haben sollte, als den dieser eintönigen trübseligen Mauern, und nirgends wandeln konnte, als zögernden langsamen Schritts auf den von Unkraut durchwachsenen Pflastersteinen. Und der Himmel über ihren Häuptern blieb düster, verschlossen, wie die schmalen irdischen Coulissen ihres Romans, immer mit grauem Gewölk bedeckt, das von Zeit zu Zeit prasselnde Regenschauer auf die keimenden Blätter herabsandte.

Sie mochten noch so langsam und zögernd einen Fuß vor den andern setzen, auch wenn es in Strömen goß, wo man sonst zu laufen anfängt, das Ende der Straße war immer bald erreicht und schnitt die Gespräche ab, die ohnedies nie recht in Fluß kamen und von zahlreichen Pausen unterbrochen wurden. Etwas ganz eigentümlich und unerklärbar Vergängliches schien dem Wesen ihrer Liebe anzuhaften, es war, als ob uneingestandene Angst vor dem Ende, vor Tod, vor Vergessen darüber schwebe.

Jean, der von seiner sonnigen Provence an fröhlichere Frühlingszeit gewöhnt war, hatte eine seltsame Empfindung bei diesem frostigen April ohne Sonne, dessen Grün unter dem schwarzen Himmel grell wirkte, der sich nicht erwärmen konnte, weil das nahe Meer ihm seine Brisen und sein Gewölk schickte.

Die Station in der kleinen öden Stadt gemahnte ihn durch ihre Ruhe manchmal an den Aufenthalt in Rhodos und an die Abende, wo zur selben Dämmerstunde, durch ebenso weiße Gassen ein griechisches Mädchen zu ihm gekommen war. Aber jetzt war die Schwermut, die ihn beschlich, eine andre, tiefere, weit mehr, unendlich viel mehr durchsättigt von Liebe. Er fühlte sein ganzes Wesen in einer ihm bisher unbekannt gebliebenen Weise davon ergriffen und gab sich nach seiner Kinderart rückhaltlos und ohne Bedenken diesem Gefühl hin. Wohin sollte es führen? Was wollte er eigentlich von dieser kleinen Magdalene? Er wußte es selbst nicht. Schon am zweiten Abend hatte er begriffen, welch stolzes Mädchen sie war, und daß sie nie seine Geliebte werden würde. Ihr unbefangenes Vertrauen, ihr gerader Blick hatten ihn darüber aufgeklärt. Sie heiraten? Das kam ihm nie in den Sinn, dazu waren sein Familienstolz und seine frühesten Eindrücke zu mächtig; sie hinderten ihn auch, seinen eigenen Niedergang in gesellschaftlicher Hinsicht zuzugeben, und so sehr er Matrose geworden war, blieb er doch als solcher ein Sonderling, der manchmal so schlicht und derb sein konnte als jeder andre, der sich gelegentlich mit der nächsten besten Dirne in der nächsten besten Kneipe vergnügen konnte, im Grund aber heikel wie ein Aristokrat, wo es sich um weibliche Anmut handelte.

Nie hatte er auch nur Magdalenes Hand berührt. Aus Furcht, beobachtet zu werden, ließen sie immer eine Entfernung von zwei bis drei Schritten zwischen sich und gingen, ängstlich Umschau haltend und auf jedes Geräusch achtend, ihres Wegs. Sie sprachen auch ganz leise, fast ohne die Lippen zu bewegen, und doch hätte die ganze Welt hören dürfen, was sie einander zu sagen hatten, meist kindische Kleinigkeiten von anbetungswürdiger Sinnlosigkeit, die nur durch den Klang der Stimme Reiz für sie hatten . . .

Und wenn dann das Ende der Straße erreicht war und Magdalene ihm ihren sanften Abschiedsblick zugeworfen hatte, blieb er, an einen von diesen Baumstämmen gelehnt, noch eine Weile stehen, um ihr nachzusehen, wie sie in die belebtere, gewerbreichere Straße, wo ihre eigene Wohnung lag, einbog und schließlich darin verschwand. Sie war auch aus der Entfernung und von hinten hübsch anzusehen; die noch etwas dürftige Gestalt eines erst kürzlich in die Höhe geschossenen Kindes war so gerade und aufrecht wie ein junges Birkenstämmchen, die Schultern wohl gerundet, eine gesunde und geschmeidige Anmut lag in den langsamen, sicheren Bewegungen.

War sie außer Sicht, so ging auch er, und zwar mit dem Gefühl, daß sein Leben vor morgen abend keinen Inhalt habe und daß er eigentlich gar nicht wisse, was er mit sich anfangen solle.

Er machte dann wohl den Versuch, in sein Stübchen zu gehen und seine Mathematikhefte aufzuschlagen, denn mitunter kehrte ihm ein wenig Vernunft und Sorge um die Zukunft zurück.

Allein wer arbeitet denn an lauen Frühlingsabenden, wenn ihm die Liebe im Kopf spukt? Auch waren es der Verlockungen gar zu viele: seine Freiheit, seine Einsamkeit, sogar der ihrethalben angeschaffte Zivilanzug, der ihm allerlei Abenteuer erleichterte, auch den Verkehr mit gewissen schön geputzten Damen, die zugänglicher waren als Magdalena . . .

So kam es denn, daß er den Abend meist in einem Vergnügungslokal mit Tingeltangelsängerinnen verbrachte.


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