Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Einen Tag wie den andern die großen Uebungen, die aufs äußerste gesteigerte Entfaltung der Muskelkraft, die lang gezogenen singenden Schreie, die das Manövrieren begleiten, die schrille Musik der Kommandopfeifen, das Knirschen der Taue, der keuchende Atem so vieler Menschen, die Arme, die sich unterm Jackenärmel strecken und zusammenziehen, die ganze Arbeit, die es kostet, um die ungeheure Stoffmasse der Segel zu entfalten, ihr Leben einzuhauchen, daß sie zum leichten, lenkenden Flügel wird . . .

Aber an den Abenden, da kehren bei köstlichem Wetter die Stunden der Ruhe wieder, der Wache unter sternbesätem Himmel. Nach den glühenden Sonnenuntergängen versammelt man sich auf Deck, um zu plaudern, auf und ab zu schlendern, beim sanften Wiegen in der unsäglich reinen Luft zu schlafen. In kleinen Gruppen erzählt man sich Geschichten, »spinnt Garne«, wie der Seemann sagt, oder stimmt Lieder an, bis der traumlose Schlaf kommt.

Für Jean waren diese abendlichen Mußestunden anfangs keine fröhlichen gewesen. Er mochte sich noch so nachlässig ausstrecken gleich den andern, gleich ihnen in körperlicher Wohligkeit schwelgen, er fühlte dann doch die Kluft zwischen sich und ihnen, und daß er nicht so schlichten Sinnes sein konnte als sie. Und dann waren es auch die einzigen Stunden, wo Gedanken an die Zukunft sich aufdrängten, an all die Hindernisse, die sich auf seinem Wege häuften, an das Geld, das er nötig haben würde, um in Brest die Kurse zu besuchen, an den sauren Schweiß, den ihm »der Kapitän« kosten würde.

Nein, an dieses Examen konnte er nicht frohgemut denken, die Siegesgewißheit fehlte gänzlich. Er fühlte auch wohl, wie die Muskelarbeit alles in ihm aufsaugte, wie sein Kopf von Tag zu Tag unfähiger wurde für die abstrakte Mathematik.

Seine armen Schulhefte, die er mitgeschleppt hatte an Bord und die er wie Heiligtümer verwahrte, waren trotz aller Sorgfalt an den Ecken zerschunden von dem Matrosensack, das Papier vergilbt, die Tinte verblaßt, und das Durcheinander von Zeichen und Zahlen, die sie enthielten, wurde für ihn immer unverständlicher, es war für ihn eine Geheimschrift, zu der er den Schlüssel verloren hatte. Und das alles neu lernen und die Astronomie obendrein! Wahrhaftig, wenn er an diesen ruhigen Abenden Muße hatte, darüber nachzudenken, so stiegen schreckhafte Unmöglichkeiten vor ihm auf, und es dünkte ihm, daß er nichts mehr begreifen, nichts mehr lernen könne . . .

Dann tröstete er sich wieder. Er hatte ja bis dahin noch Jahre vor sich, es war ja noch gar nicht an der Zeit, diese Arbeit wieder aufzunehmen, und ganz fruchtlos, sich jetzt damit zu quälen . . . Er hörte denn auch lieber den harmlosen Gesprächen seiner Nachbarn zu, ergötzte sich an ihren Kindereien und fand seine Heiterkeit wieder, sein Lachen und – seinen Leichtsinn. Ganz schrittweise und ohne sich dessen klar bewußt zu werden, lebte er sich endgültig in den Matrosenberuf ein, den er anfangs nur als einen Durchgangspunkt betrachtet hatte. Darin lag eine große Gefahr.

An den freien Tagen, wenn die andern ihre Kinderspiele trieben oder sich in der Schiffsbibliothek irgend etwas für sie Verständliches holten, geschah es wohl, daß Jean von einem der Offiziere ein Buch geliehen bekam und auch las.

Aber seine Wahl war eine seltsame für einen Matrosen. Er hatte hier den Akedysseril wieder aufgegabelt, mit den lapidaren Sätzen, die ihm jahrelang im Kopf geschwirrt hatten, er war auf Herodias und Salambo gestoßen, die neue Verzückungen und unendliche Traurigkeit schufen im unklaren endlosen Reich seiner Träume . . .


 << zurück weiter >>