Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Zwanzigstes Kapitel

Im Sommer des folgenden Jahrs.

Ihr armseliger Unterschlupf war ihnen, nachdem sie nunmehr achtzehn Monate darin gewohnt hatten, jetzt gar nicht mehr zuwider, nur die Wunde, die ihnen der Auszug aus dem Vaterland geschlagen hatte, blieb gleich schmerzhaft und das Vermissen des Familienhauses unbeschwichtigt. Wohl rückte die Provence in ihrer Erinnerung mehr und mehr in die Ferne, aber sie hüllte sich dabei nur in um so leuchtenderen Goldton wie ein verlorenes Paradies . . . Der geringste Gegenstand des Haushalts wurde, wenn er »aus unserm Haus« stammte, wie ein Heiligtum behandelt, nur mit Andacht gehandhabt und konnte plötzlich tiefe Wehmut, schmerzhaftes Herzklopfen hervorrufen.

Jean hatte jetzt sein Jahr auf dem Schulschiff hinter sich, auf der »Bretagne«, einem großen Segelschiff, das auf der Reede verankert war, der Matrosenschulstube. Das harte, gesunde Leben, das dort geführt wird, unausgesetzt in salziger, feuchter Luft im scharfen Ostwind, der sich so herb einatmet, bringt eine Art spartanischer Auslese unter den jungen Leuten verschiedenen Schlags hervor – die Schwächlinge fallen ab, die Gesunden kräftigen sich.

Jeans ursprüngliche Kraft hatte sich entwickelt und gesteigert, er war auch pünktlich, rührig, thatkräftig im Dienst, dabei schweigsam und willig. Gegen diesen eisernen Zwang hatte sein angeborenes Unabhängigkeitsgefühl nichts einzuwenden, er, der sich so trotzig aufbäumte gegen jeden persönlichen Druck, beugte den Nacken unter dieses Joch, das, eben weil es unpersönlich und allgemein ist, nichts Verletzendes hat und häufig die Unbändigsten zahm macht.

Immer rasch und gewandt in der Ausführung, den unendlich vielfältigen Mechanismus der Takelage fehlerlos beherrschend, unermüdlich im Dienst, war er der Matrose, wie er sein soll. Außerdem hatte er sich das seemännische Gigerltum sehr rasch angeeignet, den Schick im Tragen der Uniform, die schwungvolle Art, die Mütze mit dem roten Pompon zu tragen, deren Rand durch einen Fischbeinreifen gesteift wird, die jederzeit tadellose Weiße des groben Leinenzeugs.

Mit irgend welcher geistigen Arbeit jedoch befaßte er sich nie, denn was das betraf, so fühlte er sich um so unfähiger zu geistiger Anstrengung, je rühriger er körperlich war. Angelernte Rauheit und Wildheit überwucherten jetzt die Keime von Poesie und künstlerischem Sinn, ohne sie zu ersticken, denn sie lagen in der Natur selbst und waren durch die Erziehung der ersten Kindheit unzerstörbar entwickelt worden. Mehr und mehr wurde er in Wesen und Auftreten Matrose und behielt dabei doch eine gewisse Vornehmheit bei, was keineswegs unvereinbar ist. Es ist ein Vorzug und Vorrecht der Seeleute, daß die erstaunlichste Zwanglosigkeit, ja Frechheit in Benehmen und Sprache bei einzelnen wenigstens doch nicht gemein, nicht proletarierhaft wirkt.

Jean war in dieser neuen Hülle im Grunde der geblieben, den ein Klang aus dem Morgenland, irgend ein geheimnisvoll tönendes Wort ins Unendliche der Träume, in die Angst der Vernichtung oder in das dunkle schmerzhafte Gefühl der Ursprungserinnerungen versetzen konnte, und dabei war er auch immer noch der alte Kindskopf, ein Kind an Unbesonnenheit und Sorglosigkeit, ein Kind auch in der Lust am Spiel, worin er sich von Zeit zu Zeit mit den Allergeringsten und Kindischsten zusammenthat, nur um in ihrer Gesellschaft aus Herzensgrund lachen zu können über ein sinnloses Nichts. Auch der war er geblieben, der einst in Antibes die Betteljungen beschützt oder junge Kätzchen vom Ersäufen bewahrt und in der Tasche heimgetragen hatte, seine besondere Aufmerksamkeit und seine feinfühlige Rücksicht hatten nur die Geringsten und Mißachtetsten an Bord zu genießen. Aus Zerstreutheit und Laune geschah es ihm jetzt auch manchmal, daß er in den lange begrabenen Bummeltrieb zurückfiel. An irgend einem schönen Abend konnte ihn ein beliebiges hübsches bretonisches Mullkopftuch oder ein Hut mit nickenden Federn vom Weg nach Hause ablenken. War dann die Mutter in Sorge gewesen über sein Ausbleiben, so konnte er ihr mit ebenfalls kindlicher Leichtigkeit eine Geschichte vorlügen, die einem Münchhausen Ehre gemacht hätte, nur um ihr nicht weh zu thun; wurde er aber dabei ertappt und als Schwindler entlarvt, so schlug er die lustigen Augen nieder wie ein Schuljunge, der keine Spur von Gewissensbissen empfindet und den heute gerügten Fehler morgen wieder begehen wird.

In allem Uebrigen bestand die zärtliche Hingebung an die Mutter so unentwegt fort, daß diese sich trotz der veränderten Verhältnisse fast glücklich fühlte.

Uebrigens kehrte dem kleinen Haushalt nach und nach auch ein gewisser Wohlstand, freilich im bescheidensten Maßstab, zurück. Nachdem die Verhältnisse in der Provence endgültig geordnet waren, blieben der Witwe sieben- bis achthundert Franken Jahreszins, und nach mutig überstandener Lehrzeit fertigte sie jetzt Goldstickereien für die Uniformen der Marineoffiziere.

Sie trug sich ganz einfach, fast wie eine Arbeiterin, obwohl Jean immer unzufrieden darüber war, unglücklich, wenn sie in einem gehäkelten schwarzen Umschlagtuch ausging, und er von nichts anderm träumte, als ihr die frühere gesellschaftliche Stellung zurückzuerobern. In den ersten Monaten hatte sie sich auch die Gevatterinnen, die mit ihr unter einem Dach in der großen vom Regen triefenden Mietskaserne wohnten, vom Leib gehalten, nach und nach fand aber doch eine Annäherung statt.

»Die Leute haben eben bessere Tage gesehen,« sagten sich die im Grund gutmütigen Weiber, ohne ihnen die hochmütige Abschließung der ersten Zeit zu verübeln.

Mit den Verwandten in der Provence hatte man anfangs hie und da Briefe gewechselt, aber die Antworten hatten sich immer mehr verzögert und der Ton gegen die arme Witwe und den Sohn in der Matrosenjacke war immer gönnerhafter und kühler geworden. So ließ man denn die Beziehungen zu Antibes allmählich einschlafen und träumte höchstens von dem Tag des Glanzes, wo Jean als Kapitän mit hochgetragenem Haupt die Mutter in die Heimat zurückbringen und sich »sehen lassen« würde . . . Die alte Miette war, um nicht Fremden dienen zu müssen, in ihr Heimatdorf zurückgekehrt und dort gestorben; seither hatten sie vollends den Eindruck, nur aufeinander angewiesen zu sein, zwei Einsame und Verstoßene, die für keine Seele auf der Welt etwas zu bedeuten haben.

Wozu also darben, um eigensinnig nach außen das Ansehen einer Dame zu wahren? Dazu verlor die Mutter allen Mut und es wandelte sie manchmal ein Verlangen an, ganz hinabzusteigen in ihren jetzigen Stand. Wenn ihr Jean, der noch mehr Standesgefühl bewahrt hatte, eine tadelnde Bemerkung darüber machte, konnte sie ihm zur Antwort geben: »Was willst du eigentlich? Die Mutter eines Matrosen!« und der Ton klang dann so bitter als in den Zeiten der Vorwürfe und der Entfremdung, wurde aber gleich durch ein inniges Lächeln und einen zärtlichen Kuß wieder gut gemacht.


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