Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Achtundvierzigstes Kapitel

Und doch starb er in dieser Nacht nicht. Der Arzt brachte ihn da unten in der Sterbekammer wieder zum Leben.

Mehrere Tage lang fuhr er fort zu atmen und zu denken, bald von Hoffnung belebt, bald von immer eisigerem Grauen vor dem einsamen Tod erfaßt. In dem mehr und mehr die ausschließliche Herrschaft gewinnenden Gedanken, auszuhalten, bis er die Mutter wiedersehen würde, beobachtete und pflegte er sich selbst mit eigensinniger Beharrlichkeit.

Jeden Tag lag ein angefangener Brief an sie zwischen den Decken seines Betts, ein Brief, worin er ihr lebewohl sagte, den er mit Fieberhast, mit Hingebung seiner ganzen Seele zu schreiben anfing, bis ihm die Feder vor Erschöpfung aus der Hand fiel, und den er dann wieder in einem Augenblick wiederkehrender Hoffnung oder eigensinnigen Willens zum Leben zerriß.

Seine Matrosenkiste, der Schiffskoffer aus rohem Holz, wie ihn jeder hat, stand immer zu Häupten seines Bettes, und die darin geborgenen Kostbarkeiten, die er zurücklassen sollte, schufen ihm viel Unruhe. Es waren Photographien und Briefe seiner heißgeliebten Mutter, manche darunter sehr alt, ganz vergilbt, die sich auf besonders wichtige Abschnitte ihres gemeinsamen Lebens bezogen, und noch zwei von seinen Schulheften, mit geometrischen Figuren angefüllt, auf deren Schildchen er im schönen Abendsonnenschein und Hoffnungsschimmer das Datum seiner Zulassung zum Examen für die Marineschule geschrieben hatte.

*

Er hatte keine Schmerzen und litt nicht viel, nur sehr schwach war er, und diese Schwäche nahm stetig, unerbittlich zu . . . er schlief häufig von Träumen beängstigt ein, sank in einen erschöpfenden Halbschlummer, aus dem er immer in Schweiß gebadet erwachte. In seinem Gehirn hatte der Tod seine Arbeit begonnen, jenes klägliche Wirrsal von Gedanken und Begriffen, die Rückkehr zu den Ideen und Gefühlen der Kindheit, die wie ein Hohn erscheint. Beständig mußte er an die Anfänge seines Lebens denken, und er erinnerte sich ihrer mit einer unheimlichen Deutlichkeit, die wie ein zweites Gesicht war.

Im Gegensatz dazu waren die Bilder von Liebe und Liebeslust aus seiner Seele verschwunden; aus Gott weiß welchen, jedenfalls auf körperlichen Zuständen beruhenden Ursachen, waren sie zuerst erloschen in dem selbst erlöschenden Gedächtnis . . . Vergessen war sie jetzt, die junge Schöne von Rhodos, die an jedem Juniabend aus der buckligen Stadt zu ihm heruntergestiegen war an den Hafen, angelockt von den dunkel beschatteten achtzehnjährigen Blauaugen, vergessen die blonde Kanadierin, die ihm eine Zeitlang die einsame Vorstadtstraße von Quebek lieb gemacht hatte, vergessen waren sie alle. Nur an Magdalene dachte er hie und da noch, weil sein Gefühl für sie weniger oberflächlich gewesen war, tiefer gemengt mit dem geheimnisvollen menschlichen Untergrund, den wir die Seele nennen. Es geschah ihm zuweilen, daß er ihr farbloses Gesichtchen und die jungen Bernsteinaugen vor sich sah, oder ihr scheues Plaudern hörte im Dämmerlicht in der kleinen düsteren Allee, unter den grünenden Linden, unter dem jungen Laub, auf das der laue Aprilregen heruntertrommelte.

Aber seine Gedanken kehrten immer bald zur Mutter zurück, zu der sonnigen Provence, zu seiner Kindheit, besonders zur Zeit des ersten Knabenanzugs mit dem Filzhut und seinem langen Samtband. Dann konnte ihm unsagbare Verzweiflung das Herz durchwühlen beim Gedanken, daß er dies und jenes in dem geliebten Land, dies und jenes aus jener Zeit niemals, niemals wiedersehen werde – zum Beispiel niemals, niemals wieder die bestimmte Biegung eines Fußwegs betreten, wo er an einem Sonntagabend im Frühling mit der Mutter unter Fichtenbäumen gesessen hatte . . .

*

»Bis zu den ersten Frösten wird er aushalten,« hatte der Arzt gesagt.

Und in der That, der milde, laue Passatwind, der Tag und Nacht mit gleicher Stärke zu den offenen Fensterluken und durch die ausgespannten Schläuche hereindrang, erhielt ihn in gleichmäßigem Zustand.


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