Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Sechstes Kapitel

Recht schweigsam verlief die letzte Sonntagsmahlzeit, die aus den nämlichen Gerichten bestand wie immer, und wie immer von der alten Miette aufgetragen wurde, nur daß diese heute kein Wort dabei sprach, weil ihr das Herz zu schwer war und ihr die Thränen zu nah standen.

Jean wurde die Essensstunde hindurch förmlich verfolgt von der Erinnerung an eine andre Sonntagsmahlzeit an einem Osterfest, die in seiner Kindheit einen förmlichen Abschnitt bildete und, je weiter er sich zeitlich davon entfernte, desto heller in geheimnisvollem Glanz erstrahlte. Der erste »Männeranzug« und der hellbraune Filzhut, die ersten Frühlingslichter, Düfte und Ahnungen, die durchs offene Fenster hereingeströmt waren, ein Gefühl frischen, rosigen Beginnens, ein Hauch der Morgenröte, der über allem gelegen hatte. Dieses Mal dagegen ein unerklärlicher, verfrühter Vorgeschmack von Ende und Spätabend, dem körperlichen Vorgefühl des nahenden Winters gesellt, das die kühle Abendluft und der frühe Sonnenuntergang mit sich führten . . .

Als er nach dem Nachtisch, den letzten Trauben, aufstehen wollte, um ohne besondere Lust oder Eile gewohnheitsmäßig noch eine Zeitlang durch die Straßen zu schlendern, sagte der Großvater: »Ich bitte dich, hierzubleiben, mein Kind; wir haben mit dir zu reden.«

Mit gesenktem Kopf blieb er stehen. Ihm war plötzlich noch düsterer zu Mute, und er rüstete sich zum Kampf, denn er erwartete nichts andres als einen Versuch, ihn vom Seemannsberuf abzubringen, irgend eine ihm in letzter Stunde gelegte Falle, die ihn zum Verzicht aufs Meer bringen und ins Geschäft des Onkels liefern sollte.

Aber der Großvater begann jetzt mit matter, mutloser Stimme langsam und deutlich ganz unerwartete Dinge zu sagen, die ihn ins Herz trafen.

»Mein Kind, du bist nun zum Mann herangewachsen, und ich halte es für wichtig, dir über meine irdischen Angelegenheiten Rechenschaft abzulegen, damit du dir klar machst, daß du von nun an ganz auf dich selbst angewiesen bist.

»Mein Kind – deine Mutter und ich, wir haben nichts, so gut wie gar nichts mehr. Um dir den Besuch der Maristenschule zu ermöglichen, glaubten wir recht zu handeln, indem wir ziemlich bedeutende Summen aufnahmen, die leider als Hypotheken auf unserm alten Gütchen in Karigou lasten. Solange ich am Leben bleibe, werden wir mit Hilfe meines bescheidenen Ruhegehalts, dessen Betrag du kennst, und dank der Sparsamkeit deiner Mutter und unsrer wackeren, treuen Dienerin wahrscheinlich im stande sein, uns dieses Haus zu erhalten, woran dein Herz doch auch hängt. Nachher aber weiß ich nicht, wie es werden soll.«

Die immer mühsamere Sprechweise des Alten und ein greisenhaftes Meckern der Stimme, das Jean noch fremd war, thaten dem Zuhörer fast körperlich weh.

»Möge es Gottes Wille sein, mein Sohn, daß ich am Leben bleibe bis zu dem Tag, wo du dein Brot wirst verdienen können … und deine Mutter unterstützen; denn siehst du, mein Sohn, der Gedanke, daß sie arbeiten, unter fremde Leute gehen müßte, ist mir schrecklich …«

Das war der Schluß von Großvaters Rede, wobei die mageren Schultern unter dem abgetragenen Sonntagsrock seltsam stoßweise zuckten und die achtzigjährigen Augen unsäglich verzweiflungsvoll blinzelten.

Und dann wurde die hoffnungslose Ruhe dieses Abends, das tiefe Schweigen, das die matte, klanglose Stimme des alten Mannes kaum unterbrochen hatte, jäh zerrissen durch ein wildes Schluchzen, so heftig, wie es nur die Jugend ausstoßen kann, woraus Schmerz und Mitleid wie ein Wildbach hervorbrachen, Jean weinte, daß seine Brust sich stürmisch hob und senkte, stromweise liefen ihm die Thränen über die Wangen, ein Strom, der sich ihm selbst unbewußt schon seit Tagen angesammelt hatte.

Ach! Er hatte ja schon lange gefühlt, daß dieser gute alte Großvater tief gedemütigt war, er hatte auch gemerkt, daß es schwieriger und schwieriger wurde, den Haushalt auf so anständigem Fuß zu erhalten, wie es der Fall war, aber das – nein, das war zu viel, das überstieg alles, was er für möglich gehalten hätte! Nichts mehr haben! Das alte Gut und das liebe Haus an Fremde verkaufen . . . und seine Mutter für Geld arbeiten!

Erst ganz allmählich war die grausame Wahrheit, die ihm die schätternde alte Stimme vortrug, in seine so oft abschweifende Seele eingedrungen, um sie aber in diesem Fall bis in ihre geheimsten Tiefen aufzuwühlen. Und jetzt warf er sich in die Arme der Seinigen, schluchzend, weinend, wie Kinder weinen, von einem mächtigen Drang erfaßt, ihnen Liebe zu zeigen und Trost zu geben und auch bei ihnen Schutz zu suchen, Schutz vor dem Unglück, Rat und Hilfe.

Aber die Mutter weinte nicht einmal. Sie preßte ihn an ihr Herz und vergaß darüber alles, begehrte für den Augenblick nichts mehr, als ihn da festzuhalten. Das Mißverständnis, die Entfremdung, die nun seit bald zwei Monaten zwischen ihnen geherrscht hatten, waren weggewischt, die Schranke, die sie getrennt hatte, eingestürzt, und vor der Seligkeit, ihn wieder zu haben, ihm verzeihen zu können, seine Liebe zu fühlen, verschwand alles übrige.

Ueberdies war sie nicht so feinfühlig und stolz als der Vater. Irgend ein Tropfen fremden Bluts, eine unbekannte Vererbung brachte sie dem Volk näher, als er es war, und sie stand dem drohenden Zusammenbruch plötzlich als die Mutigere, Ruhigere, Entschlossenere gegenüber. Arbeiten? Gut, wenn es sein mußte, würde sie eben arbeiten. Sie würde ganz einfach die Heimat aufgeben und ihrem Jean nachfolgen, wohin es auch sein würde! Ob er Matrose war oder Offizier, was lag ihr daran? Er war und blieb doch ihr Jean, ihr Einziger, ihre Freude, ihr Leben, und wenn sie seinen Hals umschlingen, ihn an ihr Herz drücken durfte, blieb ihr nichts zu wünschen übrig.


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