Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Neunzehntes Kapitel

Noch zwei Monate sind vorüber; man ist mitten im Winter.

Heute ist Sonntag, wo die Kasernen leer stehen und die Matrosen sich im Halbdunkel der Hafengassen umhertreiben, ihr sorgloses Gelächter, den Glanz der Gala-Uniformen mit den Streifen und den hellblauen Kragen in die graue Welt hineintragen.

Auf den feuchten Granitmauern lag ein schwächlicher Sonnenschimmer, die Luft war mild, wie es auf dieser vom Meer umspülten und erwärmten Zacke der Bretagne häufig im Januar vorkommt.

Mutter und Sohn lagen mit aufgestützten Ellbogen unterm Fenster, dem einzigen Fenster, das einige Aussicht bot und ihre neue Wohnung erträglich machte, das gewissermaßen ihr Auge war, das einzige Auge nach der Außenwelt. Sie, die Mutter, höchst einfach, einfacher, als es Jean lieb war, in dem schlichten Trauerkleid, fast wie eine Arbeitersfrau; er, ein Matrose, der sich schon an die neue Tracht gewöhnt hatte und den offenen Kragen am gebräunten Hals mit der dazu gehörigen herausfordernden Haltung trug. Ein wenig verändert war sein Gesicht, vielleicht verschönert durch den dunkeln Bart, den er vorschriftsmäßig an Kinn und Wangen stehen ließ, unverändert aber die großen Kinderaugen mit dem gleichzeitig feurigen und träumerischen Blick.

So oft Jean zu Hause war und das Wetter ein wenig gnädig, lagen sie so unter diesem Fenster, das ihnen allmählich förmlich lieb wurde.

Nach dem großen Unglück und dem großen Riß durch ihr äußeres Dasein, der beide wie eine Art von Sterben vernichtet hatte, fingen sie ganz allmählich an, wieder aufzuleben in dem untergeordneten und ihnen anfangs so fremden Lebenskreis, worein sie wie Schiffbrüchige geschleudert worden waren, er, Jean, weil er sehr jung war, sie, die Mutter, weil sie bei ihm sein konnte.

Auch an diese mit so viel Widerwillen und Mutlosigkeit bezogene Wohnung gewöhnten sie sich langsam, und von Umzug war vorderhand gar nicht mehr die Rede.

Ueberdies hatte die Mutter wahre Wunder vollbracht durch Ordnen, Säubern, Verschönern; sie hatte mit eigener Hand die schlechten alten Tapeten ausgebessert und bescheidene Mullvorhänge aufgesteckt, die durch ihr lichtes Weiß eine gewisse Heiterkeit verbreiteten. Die wenigen Möbelstücke aus Antibes standen im besten Licht, und die hohen Leuchter und Vasen von ihrem kleinen Salonkamin daheim, woran so viele Erinnerungen hingen, machten den Raum wohnlich.

In einem Schrank ruhten ihre heiligsten Reliquien: des Großvaters letzter schwarzer Rock, seine Brille und sein Spazierstock mit dem silbernen Knopf, ferner Bücher, die ihm gehört hatten, Notizbücher, Rechnungshefte von seiner zitterigen Hand beschrieben. Daneben im selben Fach gewisse besonders kostbare Kleidungsstücke des »kleinen Jean«, das weiße Flügelkleid vom Fronleichnamsfest und in einer Schachtel, sorglich in einen grünen Schleier gehüllt, das braune Hütchen vom Osterfest.

Er selbst, der bisher in häuslichen Angelegenheiten so ungeschickt gewesen war, verwendete andächtige Sorgfalt auf diesen armseligen kleinen Haushalt von Mutter und Sohn, schlug Nägel ein, trug Möbel hin und her und zog willig die Bluse aus, um gerade wie an Bord große Reinigung vorzunehmen. Seine Schlendertriebe schienen für den Augenblick zu schlummern – sein Gewissen hielt sie im Zaum; der Mutter auch nur die geringste Unannehmlichkeit zum großen Leid zuzufügen, wäre ihm empörend und abscheulich vorgekommen, sein Herz und sein Mitleid legten ihm die Pflicht ob, sich ihr zu widmen. Da er sich als Matrose selbständig und unabhängig fühlen durfte, war er ihr freiwillig unterthan, die einzige Form, worin ihm Unterwerfung möglich war, und worin sie ihm leicht und angenehm vorkam. Abends ging er von der Kaserne geradenwegs nach Hause, opferte all seine Freistunden der Mutter und ging nur spazieren, wenn sie ihn begleiten mochte, wobei er sie immer mit einem gesetzten, fast würdevollen Ausdruck, der ihn trefflich kleidete, am Arm führte.


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