Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Einundfünfzigstes Kapitel

Fast unmittelbar darauf ließ der Sturm nach. Seine blinde Wut hatte sich ausgetobt, ohne Grund, wie sie entstanden war; die Wellen fielen wie in Erschlaffung übereinander, verliefen sich unregelmäßig, von einer älteren, wo anders her kommenden Dünung verdrängt.

Die zwei Albatrosse, die man während des heftigsten Sturms nicht mehr erblickt hatte, kehrten mit einem wirbelnden Gefolge von grauen Sturmvögeln und weißen Möwen zurück, deren Hungerruf wie das Gequiekse verrosteter Thürangeln klang.

Und der Wind verstummte! man konnte sich wieder verständlich machen, ohne zu brüllen, in verhältnismäßiger Stille kam die Arbeit an Bord ins gewöhnliche Geleise, die Luken wurden wieder geöffnet.

Da der Wind nach Mittag immer mehr abflaute, konnte die Ordnung überall wieder hergestellt werden. Die »Saône« breitete aufs neue ihre Segel aus, die zu reffen so viel Kraft und Mühe gekostet hatte, und die Matrosen fanden Muße, dessen zu gedenken, der in dem allgemeinen Aufruhr still von ihnen gegangen war, namentlich seine Freunde begannen um ihn zu trauern.

Und endlich kam die Stunde der Sammlung am Abend, die Stunde, wo die Hängematten herabgelassen werden und die Mannschaft zum Gebet antritt.

Auf das gewohnte Kommando, vom Deckoffizier kurz und gleichgültig erteilt, ertönte das Hornsignal und nun traten sie an, die zweihundert Matrosen, durch die engen Löcher wie eine Flut dem Rumpf des Schiffes entquellend. Hundert backbord, hundert steuerbord, zwei dichte, wellenförmig bewegte Linien menschlicher Gestalten bildend, wie eine Herde. Sie reihten sich maschinenmäßig aneinander längs der schwachen Verschanzungen, die sie von den schäumenden Wassern trennten und standen dichtgedrängt, Schulter an Schulter auf diesem winzigen Eisengehäuse, das sich »Saône« nannte. Ihre Anhäufung hatte etwas unerklärlich Wehmütiges; diese Menschenschar inmitten des endlos ausgebreiteten Wassers, inmitten dieser Verschwendung von Raum wirkte erbarmungswürdig, und alles, die brausenden Wogen, die krächzenden Vögel schienen vom großen Sterben zu reden und zu singen . . .

Auch der Priester war jetzt in seiner schwarzen im Wind flatternden Soutane auf Deck erschienen. Und mit derselben Knappheit, womit der Kommandierende das Ende der Arbeit und das Antreten in Reih und Glied befohlen hatte, kommandierte er jetzt: »Zum Gebet!« Etwas mehr Ernst lag gleichwohl in seinem Ton, vielleicht, daß auch ihm in diesem Augenblick die armen Dahingegangenen in den Sinn kamen und der, den man am frühen Morgen desselbigen Tags in die grausige feuchte Gruft da unten versenkt hatte.

»Zum Gebet!«

Der Hornist blies abermals die Backen auf, daß die Adern an seinem Hals hervortraten und schmetterte in die leere Weite den kurzen, aus abgebrochenen Tönen bestehenden Ruf, der allabendlich dem Vaterunser und Ave-Maria der Matrosen vorangeht. Hell und klar schienen die Töne des Blechinstruments heute mit einem besonderen, fremdartigen Klang das dumpfe mächtige Rauschen der Wellen zu durchschneiden. Und dieses Hornsignal erschien wie die Anrufung eines, der in weiter, weiter Ferne weilt oder nirgends, den man der Form nach, aber ohne Hoffnung zu Hilfe ruft.

»Zum Gebet!«

Eine plötzliche Stille trat ein unter der Mannschaft und eine vollständige Regungslosigkeit, sobald die rauhen Hände mit raschem Griff nach den Mützen gefahren waren, die auf einen Schlag fielen. Und zweihundert junge Köpfe entblößten sich, fast alle blond, kurz geschoren, samtartig, im Dämmerlicht von hellen Tönen umspielt. Die muskulösen Schultern, die unter den abgetragenen Leinenjacken deutlich hervortraten, schlossen sich zu einer festen Masse aneinander, die der einförmigen, wiegenden Bewegung des Schiffs folgte wie ein Körper.

»Unser Vater in dem Himmel . . .,« begann der Priester mit einer Stimme, die gepreßt klang und an diesem Abend nicht die gewohnheitsmäßige Gleichgültigkeit hatte.

Aus einigen noch ganz kindlichen Augenpaaren hob sich ein zuversichtlich vertrauender Blick zu dem Himmel auf, wovon der Priester sprach: er überzog sich jetzt eben mit Dunkel, dieser Himmel, und während um sie her das Vaterunser erklang, schossen und wirbelten die nicht einmal von der Abenddämmerung verscheuchten Sturmvögel und Albatrosse um das Schiff her, nach Brocken haschend und unaufhörlich ihr Lied krächzend, dasselbe Lied, das Wind und Welle sangen, den Sang vom großen Wandler aller Wesen, vom Tode.

Die meisten Matrosen hatten unwillkürlich das Gesicht dem Mann in Schwarz zugekehrt, der ihnen vorbetete, und jetzt, wo kein übermütiges Lachen die Gesichter erhellte, konnte man trotz der Jugendlichkeit eine lange Vererbung von Kampf und Elend davon ablesen. All diese kräftigen, durch die Ermüdung des Tagewerks herausgearbeiteten Züge erschienen herb und materiell und zeigten einen unsagbaren Ausdruck demütiger Entsagung und Ergebung; bei den darunter vorherrschenden Bretonen trat die ursprüngliche Rauheit zu Tage. Nur in den Augen allein, in diesen ehrlich und harmlos gebliebenen Augen leuchtete da und dort ein Strahl, der einen Aufschwung der Seele zu irgend einem Lockvogel des Himmels verriet, ihre Sehnsucht nach einem legendenhaften Paradies, einer undeutlich begriffenen Ewigkeit. Andre dagegen enthüllten eine völlige Gedankenlosigkeit, sie schienen nur die unendliche Eintönigkeit des Meeres widerzuspiegeln und beim ursprünglichsten Begriffsvermögen, dem unbewußten Seelenleben der Tiere verwandt, stillzustehen.

»Gegrüßt seist du, Maria, Gebenedeite unter den Weibern, gesegnet die Frucht deines Leibs . . .«

Der Priester sprach heute das unzähligemal Wiederholte immer langsamer und langsamer, mit stockender Stimme, und dabei tauchte in den dumpfen Gemütern dieser großen Kinder mit flüchtiger Wehmut die Erinnerung an Jean auf. Denen, die ihm näher gestanden hatten, that wirklich das Herz weh; in dem kleinen Häuflein, das ihn heute früh versenkt hatte, worunter Joal und Marec, wurden die Augen feucht, und die Kehle war den Freunden wie zugeschnürt. So schwebte über dieser schnurgeraden Linie gesenkter Häupter ein letztes Mal der Schatten des Kameraden, den man heute früh in den grünen Abgrund geworfen hatte . . .

»Heilige Maria, Mutter Gottes, bitt' für uns . . .«

Auch die Zerstreutesten folgten jetzt den tausendmal gehörten Worten, die plötzlich einen neuen Sinn gewonnen zu haben schienen. Und als der Priester nach einer Pause mit noch größerem Ernst das Schlußwort von erhabener Schlichtheit sprach: ». . . für uns arme Sünder . . . jetzt . . . und in der Stunde unsers Absterbens . . .«, da liefen zwei oder drei von seinen Zuhörern helle Thränen über die gebräunten Wangen, jäh und hastig wie ein Gewitterregen . . .

»Amen . . .«

All die samtigen Blondköpfe hatten sich niedergebeugt, wie von demselben Windhauch bewegt, einzelne Hände bewegten sich, um rasch an Kopf und Brust zu deuten, das geheimnisvolle Symbol des Kreuzeszeichens, dann war alles vorüber. Im Brausen des Winds, der mit der Nacht kühler geworden war, im Aufklatschen der zugeworfenen und aufgefangenen Hängematten war die alte unbewußte Fröhlichkeit zurückgekehrt. Es war, als seien Gebet und Todesgedanken in den Wassern zurückgeblieben, die man unaufhaltsam durchschnitt. Auf dem Schiff, wo man ihn hatte sterben sehen, blieb nichts von Jean zurück, als ein schon verblaßtes, dem Gedächtnis schon ferngerücktes Bild. Diese Jugend versteht sich im Ueberschwang körperlichen Lebens aufs Vergessen . . .

Und diesem Abend unterblieb seinetwegen der übliche Gesang, am nächsten aber stimmten einige Stimmen den »alten Neptun« an, und bald erklang das Lied in vollem Chor. Als ob nichts gewesen, nichts geschehen wäre, setzte die »Saône« ihren einförmigen Weg nach Frankreich fort.


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