Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Sechsunddreißigstes Kapitel

Der April war vorüber, doch der Mai begann nicht minder bewölkt und düster, von scharfen Seewinden und vorzeitigen Gewittern durchtobt. Der einsame Schauplatz ihrer Zusammenkünfte war ganz erfüllt vom Duft der überreich erschlossenen Lindenblüten, die nach und nach welkten und abfielen.

Die Freundschaft der beiden war nun schon sechs Wochen alt. Dadurch, daß ihnen nie jemand begegnete, kühn gemacht, blieben sie plaudernd unter den Bäumen stehen, und Jean wagte jetzt auch als Matrose zu kommen, aus Eitelkeit, weil ihn die Uniform so gut kleidete. Ihre Unterhaltungen nahmen mit dem wachsenden Tag an Dauer zu. Trotzdem hatten, wie es sich von selbst versteht, unsichtbare Ohren und Augen schon lange alles erspäht. In der Schneiderwerkstatt warfen die kleinen Kolleginnen vielsagende Blicke auf Magdalene und lächelten über sie; daß ihre Eltern noch nichts von der Sache erfahren hatten, war eigentlich fabelhaft, denn die ganze Nachbarschaft wußte ja längst darum.

Eines Abends – Jean war wie immer zuerst am Platze – bemerkte er einen Mann mit blondem, leicht ergrauendem Haar, der wie eine Schildwache auf und ab ging und dann nach kurzem Zögern auf ihn zukam. Der ganze Mann hatte militärischen Zuschnitt und Gang, trug einen fest zugeknöpften Rock von blauem Tuch, das nach der Marine roch, offenbar irgend ein Maat im Ruhestand, der die Goldtressen abgetrennt und die Uniform in Zivil verwandelt hatte, . . . Jean entsann sich auch undeutlich des Gesichts, das er schon einmal an einem Sonntag in der Bahnhofshalle gesehen hatte . . . überdies hätte er auch die umgebogenen Wimpern und die hellbraunen Augen, die tief unter der vorspringenden Stirn lagen, überall erkannt. Der Seemann hatte sie der Tochter vererbt . . . vielleicht auch den Charakter und die Seele.

Die beiden Männer sahen sich fest in die Augen; jeder wußte, wen er vor sich hatte.

»Aha! Sie sind's!« stieß der altere in finsterem, übelwollendem Ton zwischen aufeinandergepreßten Zähnen hervor.

Statt aller Antwort legte Jean die Hand an die Mütze; er fühlte sich wehrlos, zur Achtung, fast zur Unterwürfigkeit gezwungen, beinahe wie ein Sohn, denn es war ja ihr Vater, und er hatte ihre Augen . . .

»Machen Sie, daß Sie fortkommen!« sagte der Mann, immer noch finster und gebieterisch, als ob er ein Schiffsmanöver zu befehlen hätte, und doch mit einem Blick, der, er wußte selbst nicht warum, um vieles milder war. »Machen Sie, daß Sie fortkommen . . . ich werde meine Tochter heute selbst nach Hause begleiten.«

Und Jean ging ohne ein Wort der Entgegnung, nachdem er die Mütze tief abgezogen hatte . . . Kein Funke von Haß war in den sich kreuzenden Blicken aufgesprungen, der Zusammenstoß gegnerischen Willens hatte keinerlei Bitternis erzeugt . . .


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