Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Zweiundfünfzigstes Kapitel

Vier Wochen später, mit dem jungen Frühling, an einem unbeständigen noch kühlen Apriltag lief das Schiff endlich in Brest ein, wo die Mutter auf ihren Jean wartete.

Keine Kranken mehr an Bord: Nach Jean hatte man ihrer wohl noch drei ins unendliche Wasser versenkt, aber weit von hier, drunten in der südlichen Hemisphäre, wo der Albatros fliegt. Die andern hatten sich erholt; mit einem Schlag hatte ihre kräftige Natur die Oberhand gewonnen.

Bei dieser Ankunft herrschte unter allen Matrosen große Aufregung, toller, trunkener Jubel, selbst bei denen, die weder Mutter noch Braut hatten, die von niemand erwartet wurden, deshalb ging es auch, nachdem der Anker ausgeworfen, die letzten Manöver ausgeführt waren, an Bord ein wenig bunt zu. Selbst die Offiziere waren geistesabwesend und ließen »fünfe grad sein«, da sie den langen strengen Dienst für beendigt ansehen mochten. Mit der Ankunft auf der Reede begann eine gewisse Auflösung von Schiff und Mannschaft, nichts und keiner blieb mehr an seinem Platz, man fühlte schon die Abtakelung, das demnächstige endgültige Auseinanderstieben von Menschen und Dingen, die zwei volle Jahre auf fernen Meeren beisammen gewesen waren, verschmolzen zu einem Ganzen, einem einzigen Körper, der einen gemeinsamen Namen, denselben Ehrgeiz, fast eine Seele gehabt hatte.

Der französische Strand war schön in dieser Frühlingsstimmung, wenn auch unstete graue Wolken mit Wind und Regen drohten, die Luft feucht, frostig und bewegt war.

Jetzt wurde die »Sanität« eingeholt, das heißt die Erlaubnis, mit dem Festland, der wiedergefundenen Heimat in Verkehr zu treten, und schon umkreisten einzelne Boote die »Saône«, schwerfällige, derbe Fahrzeuge, wie man sie am bretonischen Strand hat, darauf eingerichtet, dem immerwährenden schlechten Wetter zu trotzen, mit großen braunen Segeln, vom Wellenschlag gehöhlt.

Das war freilich bei weitem nicht so fröhlich als eine Heimkehr am Mittelmeer, in eine der Hafenstädte, wo Jean daheim gewesen war und wo sich Hunderte von schlanken, leichten Barken, in bunten Farben luftig bemalt auf dem ruhigen Wasser tummeln und mit fröhlichem Lärm und Geschrei das ankommende Schiff stürmen.

In den Fischerbooten, die längs der »Saône« hielten, aber bis zum Bescheid der »Sanität« eine gewisse Entfernung einhalten mußten, saßen meist Frauen, Händlerinnen, Wäscherinnen, kleine Arbeiterinnen, gierig, den Ankömmlingen Geld abzunehmen; da und dort wohl auch eine Mutter, eine Schwester, oder eine einfache »Bekanntschaft«, die nach einem Matrosen fragte, der dann wohl bald an einer Stückpforte erschien, von wo man sich fröhliche Grüße zurief, bis der Augenblick da war, wo man sich an Bord umhalsen konnte.

Auch der Teil der Mannschaft, der in Brest keine Menschenseele kannte, spähte, über den Reeling gebeugt, nicht minder eifrig hinaus. Es war ja schon ein Vergnügen, wieder Frauenzimmer zu sehen, Französinnen, und man belustigte sich ganz wie die Kinder an den Kleidern, die sie trugen, den neuen Moden, einem neuen Miederschnitt, der während ihrer Abwesenheit erfunden worden war.

*

Auch die Freundesgruppe, zu der Joal, Marec und Kerbsoulis gehörten, die bald auf immer auseinandergerissen werden sollte, vertrieb sich die Zeit mit Beobachtungen, Plaudern und Lachen.

Mit einemmal aber prallte Peter Joal, der sich über den Reeling gebeugt hatte, zurück mit einem Gesicht, als ob ihm ein Gespenst erschienen wäre, faßte die andern am Arm, als ob es eine Rettung aus Lebensgefahr gälte, und rief ihnen zu: »Jeans Mutter! . . .«

Und alle fünf bückten sich wie von toller Furcht erfaßte Knaben, um sich hinter dem Reeling unsichtbar zu machen, und zogen sich, fast auf den Knieen rutschend, in die Mitte des Decks zurück, wo sie von unten nicht mehr gesehen werden konnten.

Jeans Mutter!

Ja, sie war da, schon in nächster Nähe, und ihre Augen waren mit gespannter Erwartung, weit geöffnet, halb Freude, halb sorgenvolle Ungeduld verratend, auf den Reeling geheftet . . . unter all den Gesichtern, die ihr von der »Saône« herab entgegenlachten, suchte sie den Sohn und hatte ihn »bis jetzt« nicht – »noch nicht« entdecken können . . .

Wie hatte sie seit Monaten von diesem Tag der Heimkehr geträumt, dafür gearbeitet, Pläne geschmiedet! Wie hatte sie die trübselige Wohnung verschönert, die ihnen allmählich lieb zu werden begann, weil sie eben nichts Besseres hatten, und sie doch schon ziemlich lange miteinander bewohnten, wie hatte sie namentlich sein Stübchen herausgeputzt! Dank wahren Wundern an Sparsamkeit, Ordnung, Erfindungsgeist und Geschmack hatte sie all diese Verschönerungen zu stande gebracht, ohne an ihr sicher angelegtes Kapitälchen zu rühren. Und als heute früh der alte Hafenwächter, den sie schon seit Tagen beauftragt hatte, mit der Meldung erschienen war, die »Saône« sei vom Küstentelegraphen signalisiert und werde in etwa zwei Stunden auf der Reede ankommen, da hatte sie mit fieberhafter Eile noch alles geordnet, Blumen gekauft für Vasen und Gläser, eine Aufwärterin gemietet, die ihr kleines Festmahl bereiten und auftragen sollte . . .

Der Anzug hatte auch viel Kopfzerbrechens gekostet! Weil Jean so darauf hielt, daß sie wieder als Dame erscheine, hatte sie auf ihrem neuen Hut eine Feder anbringen lassen, was seit fünf Jahren nicht mehr geschehen war, eine graue Feder, die er wohl passend und anständig finden würde. Als sie sich aber nun fertig machte, um ihn an Bord zu begrüßen, war es äußerst schwierig zu entscheiden, ob sie den für ihre gemeinsamen Sonntagsspaziergänge bestimmten Hut bei diesem zweifelhaften Wetter aufsetzen solle oder nicht. Schließlich hatte sie es doch gethan, um dem Sohn mehr Ehre zu machen, der so großen Wert darauf legte, sie vor den andern Matrosen und Offizieren »standesgemäß« auftreten zu sehen.

Als der Schiffer, der sie hinausfuhr, ihr von dem Hafen das Schiff wies, das kaum erst Anker geworfen hatte, und dazu sagte: »Dort ist sie ja, Ihre ›Saône‹!« war sie plötzlich von einem Zittern, einer Anwandlung von Schwindel befallen worden . . .

Wie es ihm wohl gehen, was für ein Gesicht er aus der weiten, weiten Ferne mitgebracht haben mochte, ihr Jean? Ganz beruhigt konnte sie ja erst sein, wenn sie ihn gründlich besichtigt hatte. Jene Ruhr und jenes gelbe Fieber von Cochinchina, die ihn seiner Aussage nach »ein wenig belästigt« hatten, verursachten ihr mit einemmal größere Angst als je; sie mußte an die jungen Leute denken, die sie so fahl und elend hatte heimkommen sehen und die mit ihrem zu Grunde gerichteten Gedärm trotz aller Sorgfalt und Pflege der Mütter langsam hingesiecht waren. Und je näher sie »ihrer Saône« kamen, je riesiger der Rumpf des Schiffs vor ihr aufragte aus der hohl gehenden See, desto mehr steigerten sich Freude wie Angst, die abwechselnd ihr Herz durchzuckten. Immer noch gewann die Freude die Oberhand, gepaart mit zitternder Ungeduld, ihn in ihren Armen zu halten, seinen Mund zu küssen . . .

Schon zum zweitenmal hatte sie die Köpfe gemustert, die vom Bug bis zum Heck den Reeling krönten . . . warum war er nicht auch auf Deck, warum sah er nicht auch nach den Booten, ihr Sohn so gut wie die andern? Ein Angstgefühl stieg in ihr auf, ein jähes, grauenvolles, erstickendes, nur weil sie ihn noch nicht sehen konnte, was doch, wie sie sich freilich selbst sagte, die harmloseste Ursache von der Welt haben konnte – er durfte ja nur Dienst haben auf dem Nebendeck oder auf Wache sein . . . In der Verwirrung ihrer Angst befahl sie dem Bootsmann, näher zu fahren, obwohl die am Fallreep aufgestellte Wache, ein blutjunger, noch wenig gedrillter Bretone, sein Gewehr fest mit der einen Hand an sich drückend, mit der andern aus Leibeskräften abwinkte.

»Es darf niemand anlegen! Noch nicht erlaubt!« schrie er dem Schiffer zu.

Alle fünf am Fuß eines Mastes zusammengeschart, hielten die Freunde des Erwarteten mit gedämpften Stimmen hastigen Kriegsrat. Was thun? Marec schlug vor, den Offizier um Vermittelung anzugehen; einer Namens Tanguy hatte die Wache, ein wohlwollender Mann, der jedenfalls freundlich und gut mit der Mutter reden würde . . .

»Ach was, Blech!« entgegnete Peter Joal. »Bei dem, was ihr gesagt werden muß, kommt's auf freundlich oder unfreundlich nicht mehr an!«

Mein Gott! Und da war ja die »Sanität« schon dem Anlegen nahe! Alsbald würde man diese Mutter an Bord steigen lassen, so gut als alle übrigen . . . zudem mußte sie die Allernächste sein, hatte sich wahrscheinlich trotz des Verbots schon an den Fuß der Fallreepstreppe geklammert, denn man hörte jetzt ihre Stimme – eine Stimme, die entstellt und atemlos klang, und die sich bei der Wache erkundigte, wo Jean Berny sei . . . Und der blutjunge Mensch, der doch sofort begriffen hatte, daß es Jeans Mutter sein müsse, stand, von der Pflicht an seinen Posten geschmiedet, an dem Fallreep, that, als ob er nicht verstünde, was er von unten herauf gefragt wurde, wandte den Kopf ab, der bis in den Hals hinein purpurrot war, und warf fragende, hilfesuchende Blicke auf diejenigen, welche die Freunde des Verstorbenen gewesen waren . . .

»Jean Berny . . . Sie müssen ihn ja doch kennen . . . Jean Berny . . . Obermatrose?« fuhr die arme, jetzt von Angst schier erstickte Stimme eindringlich fort.

In der Todesangst, sie an Bord erscheinen zu sehen, gelangte Peter Joal zu einem plötzlichen, grausamen Entschluß. Er zog sein Notizbuch heraus und schrieb mit ungelenken Buchstaben auf ein Blatt: »Jean Berny ist vor vier Wochen auf hoher See verschieden,« riß das Blatt heraus, faltete es zusammen und steckte es hastig dem Posten zu: »Gib ihr das, Kleiner . . . gib's ihr schnell!«

Dann flüchtete er sich nach unten, jählings, von einem Grauen erfaßt, als ob er einen Mord begangen hätte, und die vier andern folgten ihm auf den Fersen, denn es verlangte keinen, den Aufschrei dieser Mutter zu hören . . .

*

Als sie sich nach ein paar Minuten wieder an Deck wagten, regnete es, die Luft war schneidend kalt, und der Wind heulte. Alle Boote fuhren ausnahmslos davon oder schickten sich zur Abfahrt an, denn der mit Hagel vermischte Schauer verhieß nichts Gutes und hatte die Fahrgäste in Schrecken gejagt.

Zaghaft traten sie ans Fallreep, um zu sehen, was das Boot der Mutter Jeans wohl machen würde. Sie erkannten es sofort; keine zehn Meter von Bord machte sich der Schiffer eben segelfertig. Am Boden unter den Bänken lag eine menschliche Gestalt, die einer von den Ruderern festhielt, weil sie Anstalten machte, sich in die Höhe zu schnellen und hinauszustürzen. Man hatte ein großes Stück Segeltuch zum Schutz über sie hingebreitet wie über eine Leiche, aber ein ganz durchnäßter Frauenhut ragte an einem Ende hervor, ein Hut mit einer geknickten grauen Feder, die den Schmutz von den Planken kehrte, und eine Hand mit halb abgerissenem Handschuh und blutüberströmten Fingern . . .

Der kleine Bretone, der die Wache hielt und jetzt leichenbleich war, erklärte ihnen mit überströmenden Augen: »Das ist vorhin passiert . . . sie hat sich anklammern wollen, um an Bord zu steigen, und da hat sie sich an dem Eisen die Nägel abgerissen . . .«

»Mein Gott, mein Gott!« sagte Peter Joal mit seinem tiefen, schleppenden Ton, »mein Gott und Herr! . . . So etwas mit ansehen zu müssen! . . .«

Er sah sie übrigens nicht mehr lange, die hilflose Gestalt, denn es wurde ihm trüb vor den Augen. Der Gedanke an die eigne Mutter schnitt ihm ins Herz, ein Schluchzen stieg ihm in die Kehle, und große Thränen liefen ihm über die Wangen, sich mit dem Regen mischend, der alles wegschwemmte . . .


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