Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Siebenundvierzigstes Kapitel

Endlich am Morgen des zehnten Tags ging diese Unbeweglichkeit ihrem Ende entgegen.

Eine Brise erhob sich, anfangs kaum merklich, dann aber, mehr und mehr anschwellend, der Himmel wurde minder grell, eher dem unsrigen ähnlich, und kleine flockige Wölkchen von zarter Färbung jagten darüber hin. Kühl war diese Brise zwar nicht, sondern lauwarm, aber so belebend, daß man sie als Erfrischung empfand. Bis ins Innere des Schiffs drang sie, bis in das fieberdunstige Lazarett durch die Leinwandschläuche, die man ausstreckte, um sie einzuatmen, und mit einem köstlichen Wohlgefühl hießen die armen Kranken sie willkommen. Es war der australische Passat und der ewig gleiche tropische Himmel; die »Saône« hatte jetzt das unveränderliche Gebiet erreicht, und der gleichmäßige Hauch dieses Windes trieb sie Tag und Nacht vorwärts dem großen Kap zu.

Jean wußte da unten in seinem Bett ganz genau, was über ihm in freier Luft, an der Sonne vorging. Die silbernen Pfeifen, die in den Tagen des Stillliegens verstummt gewesen waren, ließen sich ordentlich mit Lust hören, und sein durch die Krankheit geschärftes Ohr unterschied genau die hellen Töne, die bald schleppend, bald kurz und schrill, bald wie ein Vogeltriller erklangen. Er verstand ihre Sprache mit Leichtigkeit und wußte genau, was auf jeden Pfiff erfolgen würde; er konnte sich vorstellen, was in der Takelage geschah und welche Segel man dem günstigen Wind entgegenhissen werde. Die Geschwindigkeit nahm von Stunde zu Stunde zu, alles schien aufzuleben, aufzujubeln, selbst das Seewasser schien leichter geworden zu sein, dieses Wasser, das so bleiern und undurchdringlich sein kann, wenn man hohle See hat und der Wind steht, jetzt strömte es in derselben Richtung mit Wind und Schiff, und Jean hörte es nur leise plätschern, lustig aufschäumen gegen die niedere, gewölbte Wandung des Lazaretts, der es sonst Stöße beigebracht hatte wie ein Sturmbock.

Mehr als das körperliche Wohlgefühl, das die frische Brise in diese elenden Lungen trug, erquickte die erschöpften Gemüter der Hauch von Hoffnung, den sie ihnen zutrug, und je breiter die »Saône« ihre Segelfittiche ausspannte, desto mehr kehrte der fast entschwundene Lebensstrahl in Jeans Augen zurück, in diese Augen, die unverwandt auf die jetzt schon minder fernen Bilder aus Frankreich geheftet waren. Ach! Diese köstliche Geschwindigkeit! O nur rasch, rasch vorwärts kommen! Zu fühlen, wie man jetzt in raschem Lauf, im Flug, diese Wasserwüste durchschnitt, deren grauenvolle Unendlichkeit ihn von der Mutter trennte! Wenn es doch möglich wäre, daß sein Leben sich noch ein wenig in die Länge zöge . . . wenn er noch sechs oder sieben Wochen vor sich hätte in dieser reineren Luft, die ihn schon so merklich kräftigte! Mein Gott . . . man kann es ja nicht wissen, und diese fremdländischen Krankheiten ziehen sich oft viel länger hin, als man annimmt. In sechs oder sieben Wochen konnte man am Ziel sein! Wahrhaftig, es kam ihm immer wahrscheinlicher vor, ja fast gewiß, daß er die armselige Wohnung in Brest wiedersehen werde, die ihm jetzt so teuer war, daß er seine Mutter umarmen, sie an seinem Bett haben und in der großen Schreckensstunde ihre Hände umfaßt halten werde . . .

Gegen Abend, in der wonnigen Viertelstunde nach Sonnenuntergang, litt es ihn nicht mehr da unten; er fühlte sich ja wohler, eigentlich ganz wohl, und stand auf, um sich zu den Lebenden zu gesellen, die droben die reine Luft einatmen durften. Er badete sein Gesicht in klarem Wasser, legte einen ganz frischen Leinenanzug an und begann, sich die Stufen hinaufzuschleppen, langsam, wie ein schleichendes Gespenst. Um sein einziges irdisches Gut, seine Körperkraft, war's gethan, nur in den Armen, deren Muskulatur der geschmeidige Kletterer von einst am vollständigsten entwickelt hatte, war noch eine gewisse Festigkeit übrig geblieben, der die Krankheit nichts hatte anhaben können, und deren bediente er sich, um sich an irgend etwas festzuhalten und in die Höhe zu ziehen, während die Beine ganz den Dienst versagten und unterm Gewicht des Körpers einknicken wollten.

Endlich erreichte sein Kopf das Freie. Wie ein vom Grab Erstandener sah er mit verzückten Augen die Weite, die vom Wind geblähten Segel, den Himmel, an dem Stern um Stern aufging.

Vom australischen Passat dahingetragen, zog die »Saône« pfeilschnell, wie ein großer Nachtvogel mit weißen Flügeln, ihre Bahn – ach, diese Geschwindigkeit, dieses herrliche Tempo, das einem die Hoffnung zurückgab! Und der erste linde Windhauch, die erste frisch belebende Luftwelle, die beim Heraustreten aus dem Backofen seine Stirn umspielte, trug ihm eine fröhliche Musik zu, einen Gesang, den er im Heraufsteigen kaum hatte unterscheiden können, der aber nun mit einemmal anzuschwellen schien zum hellen Jubelruf, der seinem Wiedererscheinen unter den Kameraden, den Waffenbrüdern, gelten konnte! Es war immer dasselbe Lied vom alten Neptun, der lustige sangliche Chor, den man um dieselbe Abendstunde unzähligemal von neuem anstimmte. Durch die unendliche Einsamkeit des Schweigens, das kaum vom Rauschen des durchschnittenen Wassers gestört wurde, streute die »Saône« diese Klänge aus, zog eine klingende Furche durch die Stille, ohne daß freilich ein Ohr dagewesen wäre, ihren Jubelgruß zu vernehmen.

Jean, dessen Augen schon des Sehens entwöhnt waren, gewann sofort wieder das Bewußtsein des unendlichen Raums, und seine Blicke hefteten sich auf die breit entfalteten gespannten Segel, die, wie schneeweißes Spitzenwerk in das durchsichtige Blau des Abendhimmels hineinragend, die ganze Luft zu erfüllen und den Himmel zu verdunkeln schienen mit ihren phantastischen, wechselnden Formen.

Ebenfalls weiß in ihren Leinenkleidern blickten ihm die Chorsänger entgegen; die einen lagen in tausenderlei Stellungen behaglichen Rastens auf den Planken umher, andre hockten in den Rahen, auf der Reeling, auf den in Ketten schwankenden Schiffsbooten umher, daß es sich ansah wie künstliche Pyramiden bei einer Apotheose. Noch andre saßen weit höher und freier auf der Galione, und aus aller Kehlen klang es klar und hell in die Sternennacht hinaus:

»Alter Neptun, König der Wasser . . .«

Der bewegte übermütige Kehrreim wiederholte sich ohne Unterlaß; gleichgültig hingeträllert im halben Schlaf von jungen Stimmen, die, von Traum schon umsponnen, wie aus weiter Ferne zu kommen schienen. Und dieser phantastische Aufbau von weißen Menschengestalten und Segeln glitt perlmutterschimmernd und seitlich geneigt dahin wie ein Traumgesicht, das im nächsten Moment in Nichts zerfließen kann, es flog und schoß durch die durchsichtig klare Nacht mit leisem Wiegen, hie und da von einem kleinen Stoß durchzuckt, als ob alles vor Lust und Freude bebte . . .

*

Der entflohene, schon vom Tod gestreifte Gefangene von da unten stand wie vor einem Wunder, vor einem nie geschauten Anblick – er hatte das Feeenhafte südlicher Nächte auf hoher See schon vergessen gehabt. Alles, was ihn zu seinem Beruf verlockt, was er daran geliebt hatte, lag ein letztes Mal in höchstem Reiz vor seinen, dem Erlöschen nahen Blicken gebreitet. Trunken und berückt von diesem Anblick, lechzend nach Leben, nach einem Leben, wie es die Jungen um ihn her in sich hatten, schwankte er in äußerster Schwäche, von zunehmendem Schwindel befallen, vorwärts und suchte unter der Menge weißer Gestalten nach den »Seinigen«, der Freundesgruppe Marecs und Joals, um sich wie einst in ihrer Mitte zu fühlen.

Sie befanden sich glücklicherweise zufällig ganz in seiner Nähe und hielten mit Singen inne, als sie ihn erkannt hatten. Alle blickten ihm ins Gesicht, das sich so rasch verändert hatte und dessen hohläugige Magerkeit und Leichenfarbe im ungewissen Licht des Abends noch schreckhafter hervortrat.

»Ach! Du bist's, mein Sohn!« sagte Marec (einer von den »Alten«, die an Bord die Väterrollen spielen und sich mit ihren allzu massigen viereckigen Gestalten und der gegerbten Haut ungemein würdevoll und alt geben, wiewohl sie höchstens dreißig bis fünfunddreißig Jahre zählen), »macht ihm doch Platz, ihr Leute, macht Platz für Berny!«

Alle verstummten und beschäftigten sich angelegentlich, ihm ein bequemes Plätzchen herzurichten, während ein paar Schritte davon unbekümmert weitergesungen wurde, immer das gleiche Lied, immer mit demselben fröhlichen Eifer.

Man brachte ihm ein zusammengelegtes Segeltuch, damit die Planken den abgemagerten Körper nicht zu hart drücken sollten, und Jean überließ sich, völlig am Ende seiner Kraft, den ihm entgegengestreckten Armen. Ein Zittern überlief ihn, von dem er wohl fühlte, daß es nichts Gutes zu bedeuten hatte.

»Lehn' dich nur an,« sagten die ihm zunächst Sitzenden, dem Sterbenden Schulter oder Brust als Rück- und Armlehne bietend.

Als sie ihn dann sorglich untergebracht hatten, stimmten auch sie wieder in den Kehrreim ein, und Jean fand sich eingekeilt in den Chor. Seit er lag, empfand er ein gewisses Wohlsein oder wenigstens eine Verminderung des Leidens. Den Kopf zurücksinken lassend, sah er sich jetzt den Zauberspuk von unten an: langsam gewiegt auf gleichmäßigen Wellen ragten die weißen, statuenhaften Menschengestalten unwirklich, traumhaft in den bläulichen Dunst hinein, und von dem mit australischen Sternbildern besäten Himmel hoben sich Masten und Segel scharf ab. Die Bewegung war in den höchsten Spitzen stärker, aber so gleichmäßig und sanft, daß man sie für Regungslosigkeit halten konnte, indes die Sterne aus dem Gleichgewicht gekommen zu sein und unruhig hin und her zu huschen schienen. In den milden Windhauch schleuderten die Sänger ihre hellen, klaren Töne, die mit ihm in die Ferne zu fliegen schienen.

*

Inmitten dieser Durchsichtigkeit, wofür man keinen Namen hat, die Nacht ist, ohne dunkel zu sein, erschien dieses Schiff mit den breiten Segeln und den weißen Matrosen, die sich nicht von der Stelle rührten, wie ein Zaubergebilde.

Diese Musik, der eintönige, wiegende Rhythmus der frischen Stimmen, dies unaufhörliche Flimmern und Funkeln, dieses rasche, leichte, fast lautlose Dahingleiten steigerten den Eindruck des Traumhaften, den alles, was man doch mit Augen sah, hervorrief . . . kein Schiff, ein Wolkengebilde, das der Passatwind in tollem Spiel vor sich hertrieb in einer Region ohne Grenzen, ohne Umriß, in unendlicher Leere . . .

Nicht lange genoß Jean das zauberhafte Bild, das sein versagendes Gehirn noch mit Staunen und Entzücken erfüllte. Die herrliche Nachtkühle, die den andern neues Leben einhauchte, beschleunigte bei ihm die tödliche Zersetzung. In seiner Brust, in seinen Eingeweiden, in seinen Gliedern hob eine dumpfe Unruhe an, die alsbald zur Todesangst wurde.

Dann fühlte er in Armen und Beinen eine gräßlich qualvolle Leblosigkeit, gepaart mit Ameisenlaufen, wie wenn ein Glied in ungeschickter Stellung »eingeschlafen« ist, und dieser Zustand breitete sich weiter und weiter aus, stieg an den Hüften empor in den Rumpf bis zum Hals. Es war wie ein herankriechendes Sterben, das stufenweise nach dem noch denkfähigen, klaren Kopf die Klauen ausstreckte; jetzt kam's bis an die Lippen, die sich verzerrten, und als er die singenden Freunde um Hilfe anrufen wollte, war ihm der Mund wie verdorrt und versiegelt, nur ein einziger Laut, unartikuliert, trostlos, traurig, kam heraus.

*

Sie erschraken über diesen Verzweiflungston, der schon von jenseits des Abgrunds zu kommen schien. Marec, der sich sofort mit zärtlicher Sorgfalt über ihn beugte, sah die Verzerrung der Lippen und das Flehen in den brechenden Augen.

Mit unendlicher Vorsicht und innigem brüderlichem Zuspruch hoben sie ihn zu dreien auf, um ihn wieder auf seine dürftige Lagerstätte zu betten.

Bewußtlos, regungslos wie ein Leichnam, wurde er von den Freunden in das schwüle Lazarett zurückgebracht, das an Bord die »Sterbekammer« hieß.


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