Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Einundzwanzigstes Kapitel

Schon ging der zweite in Brest verlebte Sommer dem Ende zu.

An einem schönen Sommerabend waren sie wieder beide an ihrem Fenster, dem einzigen nach der Straße und dem einzigen ihres schmalen dürftigen Speisezimmers. So oft der Ostwind nicht allzu heftig blies, brachten sie hier ihre besten Ruhe- und Plauderstündchen zu. Die festungsartigen dicken Mauern boten ein breites Gesims zum Aufstützen der Ellbogen, das jetzt mit einem rot bezogenen Kissen geschmückt war, wie es im ganzen Stadtviertel an allen Fenstern der anständigen Haushaltungen zu sehen war.

Was sie von ihrem Luginsland zu sehen bekamen, war ihnen schon ganz vertraut, Leute, die täglich zur selben Stunde vorübergingen, betrachtete man fast als Bekannte, einzelne waren auch Gegenstand der Belustigung, und Jean konnte in echtem Kinderton sagen: »Warte noch ein wenig, Mamachen . . . das Fräulein mit dem Eulengesicht war noch nicht da, und eh' ich die gesehen habe, kann ich mich nicht zum Essen setzen, das wirst du einsehen!«

Unter ihnen im Vordergrund ihres Bildes befand sich eine steinerne Terrasse, die einen mit Buchs eingefaßten Miniaturgarten trug, worin sie nun zum zweitenmal dieselben Blumen blühen sahen, Fuchsien und Ehrenpreis von der Wiese und ein paar kümmerliche Rosen. Von den Reben, die im Süden alle Mauern so schön umkleiden, war hier natürlich nichts zu sehen, aber zwischen den Steinplatten wucherte auch einiges ungepflanzte Grün, Moos, Farnkraut und die blasse traurige Digitalis, die ihrem Freund, dem Granit, überallhin folgt . . . Und schon war auch ein Stück von ihnen selbst an diesen Mauern haften geblieben; was sie daran liebten, war nicht der Ort, sondern die eigene dauernde Anwesenheit, die ihn schon durchdrungen hatte, vor allem die Dauer ihrer gegenseitigen Anhänglichkeit, die doch auch bestimmt war, zu enden und vergessen zu werden . . .

Es gehört zu den Selbsttäuschungen des Menschen, derart an Dingen zu hängen, fast wie an menschlichen Wesen, die freilich im Grunde ja auch noch viel vergänglicher sind. Die Anhänglichkeit an Orte, an Reliquien oder auch an Ueberlieferungen und Erinnerungen ist wahrlich nur eine Ausdrucksform, die wir für unsre menschliche Weitsichtigkeit gefunden haben, für das allgemeine Gefühl und den Trieb der Erhaltung. Die Tiere begnügen sich, dem Tod zu entfliehen oder sich dagegen zu wehren, wenn er ihnen nah und gewaltsam erscheint, sie besinnen sich nicht auf Mittel zur Abwehr der Zeit, die sie aufbraucht. Wir aber, die wir ohne Zweifel gleich ihnen zu Staub werden, wir suchen uns zu verteidigen durch hochfliegende Träume, Hoffnungen und Gebete oder auch durch die Liebe zur Stätte der Kindheit, zu einem Haus, das wir lange bewohnt haben, durch die Schätzung armseliger Dinge, die in irgendwelchem Zusammenhang stehen mit der unwiderruflichen Vergangenheit. Die Anhänglichkeit an Orte und Dinge, die im Grauen vor der Vergänglichkeit wurzelt, ist die unreifste Form menschlicher Gottesverehrung, wo sie nicht vielmehr eine Form des Unglaubens ist, zu der man verbittert und enttäuscht zurückkehrt, nachdem man sein Lotblei in die schwarze Untiefe versenkt und keinen Grund gefunden hat.

Jean und die Mutter hatten sich schon heute früh schönes Wetter gewünscht, um diesen letzten Abend an ihrem Fenster verbringen zu können, den Abschiedsabend, weil Jean morgen auf zehn Monate in See mußte.

Und es war, als ob diese hier seltene, klare und laue Abendluft, die fast die Täuschung erweckte, anderwärts, dem strahlenden Süden näher zu sein, eigens ihretwegen gekommen wäre. Kein Windhauch, keine Wolke . . . es war der Schönheit fast zu viel für ihre Herzen, denn diese Sommerherrlichkeit steigerte den Schmerz der Trennung, indem sie ihnen die Provence vorzauberte, wo so viele Abende diesem geglichen hatten.

Jean mußte morgen fort, um auf der »Resoluta« die übliche Reise über den Atlantischen Ocean anzutreten.

Seine Zukunftspläne waren jetzt genau ausgearbeitet und hatten Hand und Fuß: im nächsten Sommer wollte er die Jacke des Obermatrosen mit nach Hause bringen, dann eine mehrjährige Fahrt mitmachen, die den Dienst in der Marine zum Abschluß bringen sollte, dabei Ersparnisse zurücklegen und diese nach der Rückkehr zum Besuch der Kurse in Schifffahrtskunde verwenden, die ihn zum Schifffahrtsexamen für lange Fahrt und in der Folge zum Kapitänsposten befähigen würden.

Diesen schönen Plänen wäre es recht zu statten gekommen, wenn er sich jetzt schon wieder in die Mathematik eingelebt hätte; er hatte auch in seinem Stübchen bei der Mutter die Bücher und Schulhefte auf dem Tisch liegen, allein er hatte sich begnügt, darin zuweilen die getrockneten Blumen aus dem Garten von Carigou anzusehen, die zwischen ihren Blättern lagen. Bei Geschick und besonderer Neigung zu allen körperlichen Leistungen war er in geistiger Arbeit träge, und die Mathematik besonders lag ihm so fern und war für ihn, der alles, was Poesie und Kunst hieß, spielend erfaßte, so schwer zu begreifen . . .

Langsam, gleichsam zögernd folgte die Nacht der schönen Dämmerung, aber endlich erschienen die unten Vorübergehenden, die truppweise von Spaziergängen und Ausflügen heimkamen, nur noch wie dunkle Knäuel, aus denen die weißen Hauben der Frauen hervorleuchteten, die einzigen hellen Punkte in dem trübseligen Grau von Häusern und Pflaster . . . Auch dieser Abend grub sich nach und nach »für später« tief in ihre Seelen ein, wie es so mancher flüchtige Augenblick thut, während andre, man weiß selbst nicht warum, spurlos an uns vorübergehen . . . Jean machte dabei die Beobachtung, daß er wirklich an diesem Fenster hing und an diesem Straßenbild, sogar an der Terrasse, die nicht einmal zu seiner Mietwohnung gehörte, und an den dürftigen, von Unbekannten gepflanzten und gepflegten Blumen . . . Die Mutter hielt den Kopf gesenkt und sah nichts mehr; Bangen vor der Trennung, vor den zehn Monaten steter Sorge um ihn, vor dem einsamen Winter ohne den Sohn beklemmte ihr in der wachsenden Dunkelheit mehr und mehr das Herz . . .


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