Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Viertes Kapitel

Zwei Monate darauf, um die Mitte der Ferienzeit in Antibes.

Man erwartete die Veröffentlichung der Aufnahmen in die Marineschule. Eine qualvolle Spannung lastete auf dem von provençalischer Sonne durchglühten Vorstadthäuschen, wohin der alte Großvater jeden Tag seine Schritte lenkte, sobald das Amtsblatt erschienen war, wenn auch bisher nur, um zu melden, daß nichts darin stehe. Durch einen von den reichen Verwandten, der sich herabgelassen hatte, seine Verwendung anzubieten, hatte man Empfehlungen an die Prüfungskommission erlangt, und die Mutter war voll Hoffnung. Es war ja fast eine Entscheidung über Leben und Tod, die sie erwarteten, denn Jean stand nahe vor dem siebzehnten Geburtstag, und war er durchgefallen, so konnte er das Examen kein zweites Mal machen, und die Marineschule blieb unerbittlich verschlossen für ihn.

Er selbst befand sich in merkwürdiger Stimmung, und seine Sorglosigkeit war geradezu rätselhaft. Irgend eine neue Idee, der Mutter noch unbekannt, aber höchst beunruhigend, mußte in dem hübschen Kopf keimen, der so leichtsinnig und doch so eigenwillig und unlenksam sein konnte, denn sein unreifes, kindliches Wesen reichte nicht hin, diesen Grad von Gleichmut zu erklären. Fast mußte man denken, die heißersehnte Marine sei ihm im voraus verleidet! Aber Mutter und Großvater hatten nicht den Mut, ihn zu fragen, was er denke – es bangte ihnen vor der Antwort!

Uebrigens war er auch wenig zu Hause. Als erwachsener junger Mann mit keimendem Schnurrbart, der die Schüleruniform gegen einen englischen Sportanzug vertauscht hatte, trieb er sich in der Stadt herum, kam nachts spät nach Hause und machte verliebte Streiche.

Und doch blickten die großen, graublauen Augen immer noch lauter und unverdorben unter den dunkeln Wimpern hervor; es waren immer noch die Augen des kleinen Engels vom Fronleichnamsfest, die sein schon männliches und stolzes Gesicht erhellten. Diese Augen mit ihrer Kindlichkeit und Unbefangenheit, ihrer Sanftmut und wirklichen Güte wußten jeden Vorwurf zu entwaffnen, jede Strafpredigt abzuwehren.

Im Grunde war er auch wirklich so gut und sanft, als diese Augen behaupteten, obwohl er gar kein Musterknabe war. Er hing an Mutter und Großvater, denen er fast unausgesetzt Kummer bereitete, mit inniger, anbetender Zärtlichkeit. Wenn Jean im Verkehr mit ihnen oft barsch und hart war, so geschah's, weil sie ihm immer noch Gesetz und Zwang darstellten, wogegen seine unbändige Natur sich beharrlich auflehnte. Das beste Teil seines Herzens lernten nur die Geringen und Verschmähten kennen, hie und da die alte Miette, kleine Betteljungen oder hinfällige Greise und verunglückte Tiere – der Hausstand war schon mit drei oder vier häßlichen Katzen belastet, die er vom Ersäufen gerettet, sorglich getrocknet und in seinen Armen heimgetragen hatte.

Eines Tages kam der alte Großvater würdig und feierlich wie immer in seinem zugeknöpften schwarzen Rock – ein neuer war es in diesem Jahre nicht, darauf hatte er verzichtet, um eine weitere Nachhilfstunde für Jean zu erschwingen – später als sonst und mit einer Unsicherheit im Schritt, die an ihm ganz fremd war.

Miette, die ihn vom Küchenfenster aus beobachtete und ein Zeitungsblatt in seiner Hand sah, schloß rasch die Läden, nur um die Gewißheit noch einen Augenblick hinauszuschieben, und setzte sich mit wild klopfendem Herzen auf ihren Küchenstuhl.

Er trat ins Haus, ging die Treppe hinauf und rief, sobald er in das kleine Empfangszimmer getreten war, mit merkwürdig veränderter Stimme: »Henriette! Komm, mein Kind!«

Rasch, heftig atmend, eilte sie herbei.

»Was ist's? Durchgefallen, nicht wahr?«

»Nun, nun . . . ja, siehst du . . . es wird wohl so sein . . . wir müssen es annehmen, denn . . . denn im Amtsblatt steht sein Name nicht . . .«

»O Herr, mein Gott!« war alles, was die Mutter mit gebrochener Stimme herausbrachte, indem sie die Hände rang.

Und schweigend saßen sie bei einander, die Witwe und der Greis, hilflos und vernichtet vom Zusammenbruch all ihrer irdischen Hoffnungen. Zu sagen hatten sie sich nichts: in den bangen Tagen der Erwartung hatten sie in sorgenvollen Gesprächen den Gegenstand erschöpft, ihn von allen Seiten beleuchtet, alle Folgen dieses unwiderruflichen Schlags erwogen und vorausgesehen. Was würde er thun, wozu würde er sich herbeilassen, ihr Jean, den sie nicht einmal zu fragen gewagt hatten, wie ihm zu Mut sei?

Um ihn ins Gymnasium schicken zu können und ihn in der Schule so gut zu halten als die andern, um dem kleinen Haus und seinen Bewohnern einen gewissen Anstand zu wahren, war es nötig gewesen, Geld aufzunehmen, das Gütchen, die ererbten Orangengärten und Rosenfelder, mit Hypotheken zu belasten. Und jetzt, da der Zweck, dem sie alles geopfert hatten, vereitelt war, sahen sie keine Möglichkeit mehr vor sich, dem Sohn eine andre Laufbahn, andre Studien zu eröffnen, sie sahen überhaupt nichts mehr vor sich, alles schien zerstört zu sein, das Ende da. Die Ahnung unüberwindlichen Jammers stand vor ihren Seelen, und ohne daß sie zu sagen gewußt hätten, warum, hielten sie ihren Jean für verloren. Während sie lange schweigend bei einander saßen, dünkte es ihnen, sogar, als ob ein Hauch des Todes, des Verfalls und Zerbröckelns durch ihr geliebtes, so mühselig erhaltenes Haus ginge . . .

Und nun kam er, dieser Jean, mit elastischem, fröhlichem Schritt, eine Rose im Knopfloch, die ihm ein hübsches, verliebtes Mädchen geschenkt hatte.

»O Herr Jean,« sagte die alte Miette an der Hausthür, »kommen Sie nur schnell herein – gehen Sie gleich hinauf zu ihnen, die Aermsten warten auf Sie . . .«

»Wieso? Was ist denn los?« fragte er leichthin, den überlegenen Mann hervorkehrend.

Miettes verstörtes Gesicht hatte ihm alles gesagt.

Er trat in den bescheidenen »Salon«, wo man ihn richtig erwartete. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, hatten Mutter und Großvater ihn kommen hören. Mit der drollig verlegenen Miene eines Schülers, der sich einer verzeihlichen Unart bewußt ist, trat er vor sie, den Kopf halb abgewendet, ein halbes Lächeln kindischen Trotzes im Winkel seiner Samtaugen.

Ihr tiefes Elend sah er nicht. Was ihn betraf, so war er weder überrascht noch geknickt, denn er hatte sich längst keine Hoffnungen mehr gemacht, da er besser als andre wußte, daß er bis zur letzten Stunde gebummelt und sein mündliches Examen herzlich schlecht bestanden hatte. Sie waren ihrer fünf oder sechs Kindsköpfe gewesen, die sich in der Schule, in Voraussicht des höchstwahrscheinlichen Durchfallens den Schwur geleistet hatten, Matrosen zu werden. Der bloße Hals mit dem blauen Kragen schreckte sie nicht ab, im Gegenteil, er hatte für sie etwas besonders Anziehendes, wie für so viele, die nur der Uniform wegen zur Marine wollen, und während der Ferien hatte Jean vollauf Muße gehabt, seinen Zukunftsplan, der sogar einen Anstrich von Vernünftigkeit hatte, weiter auszuspinnen: erst als Matrose dienen, dann im Laufe der Zeit Kapitän eines Handelsschiffs werden! Kadett oder Matrose, Seemann war er ja doch, und dazu mit weniger Zwang und mehr Aussicht auf Abenteuer!

»So, basta!« machte er, als ihm der Großvater mit zitternder Hand die Zeitung hinhielt. »Was schere ich mich um die Marineschulmeisterei, Seemann werde ich ja so wie so!«

Seemann so wie so! Also Matrose – gerade das, wovor die Mutter den größten Abscheu hatte. Und er sagte es mit der Ruhe eigensinniger Entschlossenheit, woran nicht zu rütteln ist – das war das Geheimnis seiner unbekümmerten Gelassenheit, die ihr so viel zu denken gegeben hatte! In ihre schweigende Erschöpfung trug dies laute Kinderwort die Bestätigung all ihrer bangen Ahnungen, die Erfüllung der Vorgefühle von Verfall, Unheil und Tod.

Jetzt that er, was er zuerst nicht gewagt hatte, er sah Mutter und Großvater an. Er sah sie an, immer noch mit entschlossenem, aber doch zärtlichem Ausdruck, indes sein Blick mild und milder und mehr und mehr wehmütig wurde. Mit einemmal ward es klar in seinem kindischen, zerstreuten Sinn. Zum erstenmal dämmerte ihm auf, welche Opfer man ihm heimlich gebracht, wie viel Not und Entbehrung man vor ihm verhehlt und schweigend ertragen hatte. Ein neues Gefühl gesellte sich zu der Liebe für die Seinigen und erhöhte ihre Innigkeit, ein unendliches Mitleid, eine tiefe Rührung. Und als er nun noch plötzlich wahrnahm, wie abgetragen und fadenscheinig der tadellos saubere Rock des alten Großvaters war, da fühlte er sich besiegt und überwunden. Wenn die Mutter ihn in diesem Augenblick um Erbarmen angefleht hätte, er würde seinen Jugendträumen entsagt, würde unter Thränen und Küssen in alles gewilligt haben, was sie von ihm wollten.

Allein sie verstand ihn nicht in dieser Stunde. In ihrem mütterlichen Stolz verletzt, um all ihre Hoffnungen betrogen, zweifelte sie an ihm und seinem Herzen und gebrauchte gerade in dem entscheidenden Augenblick, wo dieses von Liebe überschwoll, harte Worte. Sofort wurde auch er hart. Die Augen des Fronleichnamengels, die vorhin in all ihrer süßen Lauterkeit zum Vorschein gekommen waren, wurden starr und stechend, und ohne ein Wort der Entgegnung verließ er sie, von nun an unerschütterlich entschlossen, seinen Weg zu gehen.

Unten blieb er im Vorübergehen bei der alten Magd stehen.

»Mach' dir nur keinen Kummer um mich, Alte!« sagte er, ihre Verstörung bemerkend. »Die Geschichte ist ja kein Aufhebens wert. Man kann auch ohne den Firlefanz Seemann werden.«

»Aber wie?« fragte sie, sofort von neuem Schrecken ergriffen. »Ich dachte mir, damit sei's jetzt aus, Herr Jean . . .«

Nun trat er in die Küche, setzte sich zu ihr und entwickelte ihr seine Pläne. Insgeheim war er ja gar nicht mit sich zufrieden, und eine ihm ganz neue Traurigkeit preßte ihm das Herz zusammen. Zum Ausgehen hatte er keine Lust, und zur Mutter hinauf mochte er auch nicht, so blieb er lange bei Miette.

»Siehst du, wenn ich meine Militärzeit als Matrose hinter mir habe,« setzte er ihr auseinander, »dann diene ich mich aufwärts und mache das Schifferexamen auf lange Fahrt, werde Kapitän. Nicht etwa nur so ein Küstenfahrer, nein, Kapitän bei irgend einer der großen Schifffahrtsgesellschaften. Auf die Weise komme ich sogar noch schneller dazu, ein Schiff zu führen, und ich kann dir nur sagen, mir ist's gerade so lieb!«

Mit nassen Augen sah ihn die Alte an, und er küßte die treue Seele herzlich.


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