Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Erstes Kapitel

Ein Knabe im Engelskleid, das heißt halbnackt im durchsichtigen Hemdchen, zwei weiße Taubenflügel an den Schultern angeheftet, im Sonnenschein eines südlichen Junitags in der äußersten Ecke der Provence, da, wo sie an Italien angrenzt. In Begleitung von drei andern Kindern in gleichem Aufputz schritt er in einer Fronleichnamsprozession dahin.

Die drei andern »Engel« waren blond und gingen mit gesenkten Blicken einher, als ob sie vom Ernst ihrer Engelswürde durchdrungen wären, der kleine Jean jedoch mit seinem dunkelbraunen Krauskopf, der hübscheste und kräftigste von ihnen, sah die am Weg Niederknieenden mit drolliger Verwunderung an, war nichts weniger als andächtig, sondern schien sehr zur Lustigkeit aufgelegt. Er war ein derbes, kerngesundes Bürschchen mit regelmäßigen Zügen, einem warmen Hautton, der an einen reifen Apfel erinnerte, und dichten Brauen, die wie ein schwarzes Samtbändchen die weiße Stirn durchquerten. Sein offener, fröhlicher Blick war fast noch kindlicher, als es seinen sechs oder sieben Jahren zukam, und daß diese großen Augen unter den langen Wimpern leuchtend blau waren, war bei seinem fast arabischen Gesichtsschnitt verwunderlich. Seine Angehörigen, die Mutter, die noch Witwentrauer trug, den langen Kreppschleier indes abgelegt hatte, und ein ehrsamer alter Großpapa in altväterischem schwarzem Rock und weißer Halsbinde folgten ihm in einiger Entfernung unter den übrigen Zuschauern und lächelten glückselig, voll Stolz, daß ihr Junge so hübsch war und sie es aus der Leute Mund hören durften.

Sehr wohlhabend waren sie nicht, diese Mama und dieser Großvater. Ihre Besitztümer bestanden in einem bescheidenen kleinen Stadthaus und einem Landgütchen mit Orangenbäumen und Rosenfeldern. Daß sie in diesem Winkel von Frankreich mit einer Menge von reichen Leuten, Gutsbesitzern oder Parfümeriefabrikanten, verwandt waren, machte ihnen die Armut erst recht fühlbar, denn man sah sie in der Familie etwas über die Achsel an. Die Bernys waren ein weitverzweigtes, altansässiges Geschlecht, das sich seit der Sarazenenzeit nicht mehr mit fremdem Blut vermischt hatte und deshalb den Typus der Provençalen in großer Reinheit aufweisen konnte. Seit zwei Menschenaltern zählten sie in Antibes zu den »Honoratioren«. Unter ihren Vorfahren hatten mehrere als Seeleute die Abenteuer der Bourbonen geteilt und Indien kennen gelernt, was mitunter bei den Knaben als erbliche Anlage hervortrat, die ihre Mütter mit Besorgnis erfüllte.

Langsam und feierlich dahinschreitend, ohne den braungelockten Engel mit den Taubenflügeln aus den Augen zu lassen, hing die verwitwete Mutter ihren Gedanken nach, und schon wurde die Freude an seinem Anblick von mancherlei Sorge getrübt. Ach, warum ist er denn unerfüllbar, der süße, thörichte Traum, den jede Mutter träumt, der Wunsch, ihn festzuhalten, wie er heute war, als kleinen Lockenkopf mit unschuldigen Kinderaugen? Warum steht denn die gefürchtete Zukunft schon vor der Thür? Wie viel Kämpfe und Mühsal mußten sich nicht bald um dieses reizende, unerzogene Geschöpf erheben, das trotz der Kindlichkeit im Blick hie und da schon den Knaben, den Mann ahnen ließ, der mitunter eine verblüffende Rücksichtslosigkeit zeigte, manchmal sogar durchging, um sich bis zum Abend, man wußte nicht wo, herumzutreiben!

Wo die Mittel hernehmen, um ihm die nämliche Schulbildung zu geben, wie seine reicheren Vettern sie genossen? Und wenn er am Ende trotz aller Opfer nicht lernen sollte, was dann?

Sie lächelte jetzt nicht mehr, sie sah auch die weißschimmernde Prozession nicht mehr, nicht den hellen Sonnenschein, nicht die freundliche Gegenwart, sie war einzig erfüllt von der vielleicht kurzsichtigen und doch so echt mütterlichen Sorge, die ihr ganzes Leben beherrschte, wie sie es dahin bringen sollte, aus ihrem kleinen Hans Guck-in-die-Luft ohne Vermögen einen Mann zu machen, der den anderen Söhnen aus der hochnäsigen Familie Berny mindestens nicht nachstehen würde.


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