Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebenunddreißigstes Kapitel

Am andern Morgen wurden sämtliche Obermatrosen der Reserve von einem Obermaat auf die Amtsstube beschieden.

Man hatte sich schon zugeraunt, um was es sich handle, es sollte Umfrage gehalten werden nach einem, der sich freiwillig zur Verfügung stellen würde für den fernsten Osten, um ein oder zwei Jahre lang auf einem kleinen Kanonenboot Namens »Gyptis« Dienst zu thun, das einen der Ströme befuhr, die sich heiß und schwerfällig unter tödlicher Sonne aus dem Binnenland herauswälzen.

Sofort fühlte sich Jean von dumpfer Angst gepackt. Das war ja, was seinen Zukunftsplänen am besten dienlich sein konnte, diese Abreise . . . da unten seine Dienstzeit beendigen und Geld zurücklegen, um dann ein Jahr in Brest leben und die Kurse in Schifffahrtskunde besuchen zu können. Es war seine Pflicht, mit beiden Händen danach zu greifen . . .

Und doch . . . Magdalenes Bild stand ihm so schmerzhaft vor der Seele, daß er, wenn auch mit Gewissensqual, nicht vortrat, sich zu melden, zögerte und insgeheim abwartete, ob ihm nicht ein andrer zuvorkäme.

Niemand that es. Ein halb verschüchtertes, mit Schrecken gemischtes Schweigen herrschte; überdies pflegen Matrosen nie zu antworten, wenn man sie im allgemeinen, ohne persönliche Anrede, fragt.

»Ich, Herr Kapitän . . . ich will gehen,« sagte Jean schließlich ganz leise mit unsicherer Stimme.

»Sie, Berny? Paßt es Ihnen?« gab der Offizier zur Antwort. »Gut! Vorausgesetzt, daß keine andre Bestimmung von der Admiralität erfolgt, sind Sie zum Dienst für den äußersten Osten bestimmt.«

Er rief ihn noch zu sich, um hinzuzufügen, was schrecklicher war als alles: »Was einen etwaigen Urlaub betrifft, so kann ich Ihnen keine Hoffnung machen . . .« Der Ton sagte deutlich, daß er keinen bekommen werde . . . »Man hat dringlich einen Mann verlangt, und wenn ich mich nicht täusche, werden Sie wohl morgen mit der Abteilung nach Toulon abzugehen haben.«

Jean fühlte, wie sein Herz zum Zerspringen klopfte; das Blut sauste ihm in den Ohren, und um ein Haar hätte er gesagt: »Nein! Das kann nicht sein! Dann suchen Sie sich einen andern; ich nehme mein Wort zurück!« Und doch fand er nicht den Mut dazu. Einmal war es klipp und klar seine Pflicht zu gehen, und dann war er ja unbewußterweise ein Fatalist, der sofort die Ohren hängen ließ, sich dem »Fingerzeig des Schicksals« ohne Widerrede beugte, und schließlich auch so ganz Soldat, daß ihm angesichts eines unbekannten Vorgesetzten alsbald die Sprache versagte. So heftete er nur die von Schrecken und Angst vergrößerten Augen auf den Offizier, sagte: »Zu Befehl, Herr Kapitän!« machte Kehrt und taumelte hinaus, als ob er einen wuchtigen Schlag auf den Kopf bekommen hätte.

In der That erhielt er für diesen Abend keinen Urlaub. Die zur Abreise bestimmten Seeleute erhalten fast immer einen solchen, kürzer oder länger, je nach den Aufgaben, die ihnen gestellt werden, in dringenden Fällen aber wird er verweigert.

Am selben Abend noch wurde Jean mit gepacktem Sack, ausbezahlter Löhnung in die Kaserne geschickt und war mit den andern acht Matrosen, die gleichfalls abreisten, bis zur bestimmten Stunde ein Gefangener. Im Bogengang des Hofs trafen sie zur Dämmerstunde zusammen, redeten sich an, rotteten sich zusammen und faßten einander ins Auge, diese unversehens im selben Netz gefangenen Leute, die da unten in weiter, weiter Ferne Verbannung und Mühsal miteinander tragen sollten. Keine freie Minute mehr, keine Möglichkeit, von ihren Angehörigen Abschied zu nehmen, das allein fanden sie hart. Trotzdem stimmten zwei oder drei von ihnen ein Lied an, ein andrer aber, ein ganz junger, der weinte . . .

Seine Mutter! Jean gedachte ihrer mit tiefer Rührung; der Schmerz, sie nicht mehr in die Arme schließen zu können, drückte ihm fast das Herz ab . . . doch um ihretwillen, ihrer gemeinsamen Zukunft halber ging er ja. Daß er sich zu diesem Dienst gemeldet hatte, war eine Art Heldenthat, eine Buße, die er sich auferlegte, und darum hatte er ihr gegenüber ein reines Gewissen, und ein herzlicher Brief, den er ihr schrieb, erleichterte sein Herz und beschwichtigte das Trennungsweh.

Anders bei Magdalene! Abreisen müssen, ohne die geringste Möglichkeit, sie noch einmal zu sprechen, ihr auch nur eine Botschaft zu senden, sie noch einmal zu sehen, und wäre es auch von ferne . . . Sollte er ihr schreiben? Aber was schreiben? Sie bitten, seine Frau zu werden? Ach! Sein Herz drängte ihn entschieden dazu, obwohl sie nur eine kleine Schneiderin war . . . Und doch hätte eine solche Heirat fast nichts andres bedeutet, als sich für alle Zeiten den blauen Kragen um den Hals schmieden, und vor allen Dingen hätte sie nichts andres bedeutet, als eine Vernichtung aller Hoffnungen der Mutter, die von nichts Geringerem träumte, als einer Verbesserung seiner Lebensstellung durch die Mitgift irgend eines hübschen, guten Mädchens aus der Provence – später, wenn er einmal Kapitän war. Was also thun, da alles andre außer Frage war, da jetzt auch der Vater zwischen sie getreten war, der Vater und alle Hemmnisse weltlicher Klugheit, gegen die sich sein Herz freilich wild auflehnte an diesem Abend, im Sturm der Leidenschaft?

Einfache, sanfte, zärtliche Abschiedsbriefe schrieb er gleichwohl zwei an Magdalene, aber er zerriß sie auf der Stelle wieder. Durch wen sollte er sie ihr auch zustellen lassen? Konnte sie daheim bei den Eltern unbemerkt Briefe in Empfang nehmen? Und sich sagen zu müssen, wie nah sie ihm war, wie sie vielleicht in diesem Augenblick auf dem Heimweg durch die vertraute stille Straße angstvoll nach ihm ausspähte, nach ihm, den ihre Augen nie wieder sehen würden . . .

Am späten Abend sagte er sich zum Schluß, daß es am besten sein werde, ihr erst von Port-Said oder von einer der ersten ausländischen Reeden aus zu schreiben, natürlich einen wackeren Brief, der den Vater nicht in Harnisch bringen konnte. Briefe mit Poststempel aus weiter Ferne werden immer eher angenommen, weil der Absender minder zu fürchten ist und möglicherweise gar nicht wiederkehrt . . .

Nicht schreiben oder wenigstens das Schreiben hinausschieben, das entsprach ja außerdem der Briefscheu und unausgesetzten fatalistischen Erwartung, die einen Zug seines Wesens bildeten, wozu sich noch das eigensinnige Beharren bei einmal gefaßten Entschlüssen gesellte, auch wenn diese noch so zufällig entstanden waren . . . Bei alledem war sein Jammer groß, wie auch seine Gewissensnot und nicht minder seine Liebe, die er bis zu diesem Tag nie so tief gefühlt hatte . . .

Am folgenden Morgen befand er sich auf dem Bahnhof, wo er Magdalene zum erstenmal gesehen hatte. Mit den neuen Kameraden bestieg er den Zug nach Toulon, um eine seiner gefahrvollen Reisen ins Ungewisse anzutreten, deren Vorgefühl dem Pfiff der Lokomotive einen unheimlichen Ernst verleiht.

Als die Räder sich in Bewegung setzten, beugte er sich mit schwerem Herzen zum Fenster hinaus, um das befestigte Städtchen allmählich verschwinden zu sehen, das er vier Monate früher so gleichgültig und teilnahmlos betreten hatte.


 << zurück weiter >>