Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Auf hoher See. Soweit das Auge reicht, Leere, Unendlichkeit, nichts als der Umkreis des blauen Meeres. Hoch oben das Gerüste der weißen Segel und der nach Teer riechenden roten Taue, das eigenste Gebiet des Matrosen Jean und der Mastwächter, dieser wunderbare, fast beseelte Mechanismus, von dem jeder einzelne Bewegungsnerv seinen Namen, seine Aufgabe, sein Sonderleben hat, und darin kreisend und wirkend die Schiffsmannschaft, einige hundert Menschen, die der Zufall zusammengeführt hat, deren Namen mit einem Schlag zur Nummer geworden sind, deren Persönlichkeit in der einem jeden auferlegten Thätigkeit aufgeht. Bei diesen jungen, einfachen Leuten, die von der ganzen übrigen Welt abgeschnitten sind, hört die Individualität auf, so gut als bei den Angehörigen eines frommen Ordens, und das Denken und Sorgen des Alltags beschränkt sich auf die Frage, ob die Manöver rasch ausgeführt wurden, ob das Log richtig »gelogt« hat, ob die Segel zu rechter Zeit »gegeit« werden. In diesem kunstvoll aus Stahl und Menschen zusammengesetzten Organismus begnügt sich jeder, seine besondere, täglich gleiche Rolle zu spielen; er ist nichts als der Erzeuger einer Kraft, die zu gewisser haarscharf bestimmter Minute da sein muß, die lebendige Feder, die jenes und nie ein anderes Tau strammt, er ist auch die Hand, die jeden Tag im bestimmten Augenblick diese Zugwinde säubert, dieses Metallstück poliert. Wie eine Maschine vollbringt er die Reihe von Handlungen, die andre vor ihm, auch Unbekannte mit Nummern, zur selben Stunde, am selben Fleck vollbracht haben. Und das gesunde, anstrengende Leben stählt den Leuten bei unbedingtem Verzicht auf eigenes Urteil und eigenen Willen die Muskeln, verleiht ihnen die fröhlichen Gesichter und das gutmütige Lachen, lehrt sie, einerlei, wo und wann, sei's bei Tag, sei's bei Nacht, auf der Stelle in tiefen Schlaf sinken, sobald die schrille Dienstpfeife nicht mehr ihnen gilt.

Bei nachdenklich veranlagten Naturen entsteht als Unterströmung dieses rein materiellen Lebens leicht ein starker Hang zur Träumerei. Bei einzelnen greift auch eine gewisse Verdoppelung des Wesens Platz, mancher Mastwächter, der nur Segel und Taue im Munde führt, ganz in seinem Seemannshandwerk aufzugehen scheint, ist im innersten Herzen ein Kind geblieben, das an irgend einem Weiler der bretonischen Küste hängt, an den Beziehungen oder kleinen Interessen, die dort zurückblieben, und das allein füllt seine Gedanken aus. Hier arbeitet und spricht er rein mechanisch, seine Seele aber ist dort, und von der Welt, die er bereist, nimmt er nichts in sich auf, nicht einmal die unbegreifliche Unendlichkeit des Meeres.

Wenn der Abend kommt und Ruhe eintritt, wird ein solcher, der vielleicht: »218 Backsgast« heißt, wieder zum Peter oder Hansjakob seiner Kindheit und setzt sich neben einen andern Burschen aus seiner Heimat, der auch wieder Dorfkind geworden ist. Sie ziehen sich gegenseitig an und suchen sich, sondern sich ab als gleichgestimmte Seelen oder auch nur als Kinder desselben Bodens, diese sonst von Arbeit und Ermüdung ausgelöschten Einzelwesen . . .

Jean plauderte bald mit diesem, bald mit jenem, mit jedem in seiner Sprache, äußerlich ganz und gar Seemann und geistig hoch genug über den meisten stehend, um sich liebenswürdig und ohne Spott an ihren naiven Gesprächen ergötzen zu können.


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