Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Fünftes Kapitel

In ruhigem Sonnenglanz ging der Oktober zu Ende. Aber so unveränderlich blau der Himmel auch war, so warm die Sonne das Häuschen der Bernys beschien, es blieb düster und traurig darin, seit die große Enttäuschung ihren Einzug gehalten hatte.

Mit Hilfe der alten Miette wurde in dem kleinen Eßzimmer, durch dessen Fenster man das blaue Meer schimmern sah, eine grobe Ausstattung angefertigt, von der man nur im Flüstertone sprach, und die man niemand zeigte. Es waren Hemden aus grobem Tuch, Hosen und Matrosenjacken aus rauhem Wollstoff.

Mit herzlich schlecht gespielter Heiterkeit hatte der Großvater den reichen Onkeln und Vettern mitgeteilt, was sie aus ihrem Jean machen wollten.

»Wir lassen ihn ein wenig auf der Handelsflotte schwimmen, damit er seine fünf Jahre Meer möglichst bald hinter sich hat, denn er will um jeden Preis Seemann werden, versteht sich, später Kapitän. Vielleicht sattelt er noch um, der liebe Junge, wenn er das Seemannsleben wirklich verschmeckt hat, uns wäre es ja nur zu lieb, ihn eine andre Laufbahn einschlagen zu sehen, allein er ist für den Augenblick so fest von seinem Beruf dazu überzeugt, daß seine Mutter und ich es nicht für richtig fanden, ihm Zwang aufzuerlegen.«

Und die reichen Bernys, gönnerhaft und überlegen wie immer, hatten sich nur erkundigt, auf was für einem Schiff er in See gehe. Der »Kapitän« kam ihnen sehr zweifelhaft vor, weil er Fleiß und Ausdauer erfordert.

Ach, du mein Gott! Es war ein sehr bescheidenes Fahrzeug aus dem kleinen Hafen von Antibes, das man »gewählt« hatte, weil er dabei häufiger in die Heimat kommen würde, eine Brigg, die in Vallauris gebrannte Ziegel nach den griechischen Inseln brachte.

Der arme alte Mann in der weißen Halsbinde litt nicht nur unter Sorge und Verzweiflung um die Zukunft des Enkels, auch sein Stolz bäumte sich gegen diese Niederlage auf. Ihrer bescheidenen Verhältnisse halber war seine Tochter Henriette in der Familie ihres Mannes nie so recht aufgenommen worden; seit sie Witwe geworden und auf ihre eigenen Mittel angewiesen war, hatte er klaglos das Martyrium heimlicher Entbehrungen auf sich genommen, damit sie äußerlich Dame bleiben, eine Magd halten, ihr eigenes Haus bewohnen, besonders aber Jean bei den Maristen in Grasse erziehen lassen konnte. Und nun trug ihm dieser Enkel, dieser Prachtjunge, den er darum nicht minder, ja vielleicht noch heißer liebte, zum Schluß seines opfervollen Lebens die Demütigung ein, Matrose zu werden, Schiffsjunge der Handelsmarine, gerade wie der Sohn des nächsten besten Lastträgers oder Fischers. Wozu denn diesen vergeblichen Kampf fortsetzen, wozu insgeheim darben, um seinen Stand zu wahren – was nützte es denn? Nun er die Anstandspflicht erfüllt hatte, den verschiedenen Mitgliedern der Familie Berny die Berufswahl seines Enkels zu melden, kam ihm das Leben zwecklos, sein eigenes Dasein überflüssig vor. Am liebsten hätte er sich in seine kahle, armselige Stube verriegelt, um in seinem Lehnstuhl oder Bett das Ende abzuwarten . . .

Aber heute war ja Sonntag, wo er herkömmlicherweise bei seiner Tochter speisen und sich zu diesem Zweck sorgfältig ankleiden mußte, um so mehr, als es ja der letzte Sonntag vor der Abreise des Jungen sein würde! Er kam sich heute so alt, so müde, so hinfällig vor wie noch nie, und als er jetzt gewohnheitsmäßig den schäbigen schwarzen Rock zu bürsten anfing, da überkam ihn aufs neue tiefste Entmutigung auch darüber. Die Leute auf der Straße grüßten ihn ja, wie er zu bemerken glaubte, so wie so schon weniger tief, und im Gefühl der Erniedrigung seines einzigen Enkels dünkte ihm auch diese mit so beharrlicher Sorgfalt trotz Not und Armut aufrecht erhaltene äußere Ehrbarkeit gleichgültig und unwesentlich. Die erloschenen Augen füllten sich bei dieser Gelegenheit mit Thränen, mit jenen Thränen des Greisenalters, die langsam und schwer aus vertrockneter Quelle aufsteigen und so besonders bitter sind.

Jean selbst verbummelte und verträumte seine Tage. Eine unbestimmte Traurigkeit lastete auf ihm und ward auf Augenblicke sichtbar im zerstreuten Blick seiner Augen, in minder strammer Haltung und langsamerem Gang. Er ging überhaupt weniger aus als bisher, und seitdem er die Gewißheit hatte, bald einer von den Seeleuten zu sein, die ihr Schiff in weite Fernen trägt, hatte der Hafen nicht mehr die unwiderstehliche Anziehungskraft wie sonst. Er blieb da und dort vor irgend einem Gegenstand im Haus nachdenklich stehen oder ging allein auf das »Gütchen« hinaus. In dem verwilderten, von Chrysanthemen und herbstlichen Astern überwucherten Garten konnte er stundenlang verweilen, zwischen den grauen, von Eidechsen wimmelnden Mauern und den in der Herbstsonne träumenden Orangen. Mit diesem Sommer sollte ja seine Kindheit zu Ende gehen, mit dem Glanz dieser schon schwindenden herbstlichen Sonne die glückliche Sorglosigkeit von ehedem ein Ende nehmen, und diese Thatsache drängte sich ihm mit einem dumpfen Schmerzgefühl, mit einer ihm unbekannten Empfindung von Angst und Heimweh auf . . .

In dieser Zwischenzeit haftete sein Geist an nichts Zusammenhängendem und Bestimmtem, sondern flatterte mehr und mehr im Reich der Träume umher. Während dieser langen Schlendertage, die seine letzten sein sollten, las er auch, und die Wahl der Bücher oder richtiger der Stellen aus Büchern, die ihn zu fesseln wußten, daß er alle andern verächtlich beiseite ließ, bestätigte, was die reine Linie seines Profils und die mandelförmigen Augen andeuteten, weit zurückgehende orientalische Abstammung. Er war eine Mischung unausrottbarer Kindskopferei, körperlicher Ueberkraft, ungeschulter Einfalt und unbewußter, unergründlicher Poesie. Beim Herumschnüffeln in Büchern war er mit einem Gefühl, als ob er sie längst gekannt und wieder vergessen hätte, auf einige mystische Fragmente über den toten Orient gestoßen, die zu klassischen Schönheiten geworden sind, und die las er wieder und wieder in dem stillen, sonndurchglühten Garten, jedesmal aufs neue erbebend vor dem Mysterium, das sie ihn ahnen ließen:

»Es war ein Abend in alten Zeiten. Der Tod des Gestirnes Surya, das der Phönix der Welt gewesen, entriß dem goldenen Himmelsgewölbe über Benares Myriaden von Edelsteinen . . .«

Gewisse Worte vermochten ihn in Träume und Wonne zu wiegen. Es bedurfte nur der Klangähnlichkeit irgend eines Namens mit »in alten Zeiten« oder »im fernen Osten«, um ihn mit Wehmut zu berauschen wie der Duft eines alten Sarkophages.

»Aegypten, Aegypten! Deiner großen regungslosen Götter Schultern verkalken unterm Kot der Vögel, und der rauschende Wind trägt die Asche deiner Toten in die Wüste . . .«

In diesem von den Vätern ererbten Erdenwinkel, unter den Orangenbäumen, deren Frucht die Herbstsonne vergoldete, mitten in der Wildnis von Chrysanthemen und tiefblauen Astern mit ihrer kahlen, schon vom Herbst entlaubten Stengeln, malte er sich die griechischen Inseln aus, in deren Häfen er bald einlaufen würde, Aegypten mit dem rosigen Wüstensand, Indien mit der Jahrtausende alten Vergangenheit . . .

Dieser Hang zum Träumen, der von den Vätern her in seine Seele gepflanzt, in den ersten Jahren seines Lebens durch lücken- und sprunghaften Unterricht genährt worden war, sollte ausdauern, nach Tiefe und Breite zunehmen, trotz niederdrückender Umgebung, trotz ungebildeter Gesellschaft, und, andern verborgen, eine wichtige Stelle einnehmen bei dem Mann und dem Matrosen, der er werden wollte.


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