Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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LVI.

Am Tag vor seiner Rückkehr in den Dienst führte Valär noch ein letztes, immer wieder verschobenes Vorhaben aus: er ging in das von ihm erbaute Konzert-, Ball- und Ausstellungshaus, das immer noch keinen Namen hatte, um sich zu vergewissern, wie weit die fünf Maler mit ihren Arbeiten wären. Berichte anderer 534 hatten ihn neugierig gemacht, und in einer Art freudiger Spannung betrat er das weitläufige Haus, zu dem nach der Front des Hauptplatzes hin auch ein gepflegter Caféhausgarten gehörte.

Er durchschritt die große Vorhalle im Erdgeschoß, hatte den Fuß aber noch nicht auf die emporführende breite Haupttreppe gesetzt, als oben jemand um die Ecke des ersten Absatzes kam und ihm über die breiten Stufen herunter entgegen. Es war eine aufrechte, große, schöne Frauengestalt, von deren Schultern ein weiter sandfarbiger Umstandsmantel mit irgend etwas Grünem am Hals bis unter die Knie herabfiel. Auch das Hütchen war grün. Ohne sich seines Tuns bewußt zu werden, nahm er den Hut, den er bisher aufgehabt hatte, vom Kopf, strich sich mit der freien Hand übers Haar und zog die Augen zusammen, um schärfer zu sehen. Da erkannte er die Erscheinung. Es war Nele.

Ein behutsames Lächeln trat auf ihr Gesicht, als sie ihn seine Schritte verlangsamen sah, und während er Stufe um Stufe emporzusteigen begann, kam sie in der breiten, schwerfällig nach hinten geneigten Gangart hochschwangerer Frauen schräg über die Treppe direkt auf ihn zu.

Sie begrüßten sich, aber keines von beiden sah aus wie ein Grab unvorstellbarer Leiden, und es blickte auch keines das andere wie ein Fallengelassenes oder Abgeschiedenes an. Ihre Hände fühlten gern den festen gegenseitigen Druck, und sie kamen leicht ins Gespräch miteinander, als gäbe es immer noch an jedem von ihnen etwas, was das andere brauchen konnte und gern dargeboten bekam. Valär sagte, daß er gekommen sei, um nach den Malereien zu sehen, und Nele erwiderte, daß sie fast täglich da oben im Treppenhaus sitze, um Charles bei der Arbeit zuzusehen. Er habe das gern und werde sich auch über Herrn Valärs Besuch sicher sehr freuen. Aber jetzt sei sie ihm durchgebrannt, um draußen im Garten eine kleine Erfrischung zu sich zu nehmen, ein Eis oder so, sie habe entsetzlich Durst – den ganzen Tag wolle der kleine Mann da drin essen und trinken. Sie sagte das mit ernstem glücklichem Mund, und sie kam Valär vor wie ein warmer, großmütig leuchtender Sommertag, der leise summend und mit dem Wohlgeschmack vieler guter Früchte im Mund sich in sich selbst wiegt. 535 Im gleichen Atemzug lud sie ihn ein, mit ihr zu kommen und endlich, endlich einmal ihr Gast zu sein. Die Bilder liefen ihm ja nicht davon, und in einer halben Stunde müsse sie ohnedies weiter.

Nele aß zweimal Eis und auch ein großes Stück Kirschenkuchen dazu. Valär fand ihr Gesicht leicht entstellt – es schien ihm größer und schwerer geworden zu sein, aber es hatte auch etwas Verklärtes. Sie sprachen von diesem und jenem, von Brunos Tod und von Valärs Verheiratung, aber keines rupfte dem andern die Federn aus, die ihm in der Zeit ihrer Freundschaft gewachsen waren. Neles Interesse schien jetzt ganz in der Zukunft verankert zu sein, und Valär stellte ohne Betrübnis fest, daß ihm das lieb war. Charles hoffe mit seinem Bild in wenigen Tagen fertig zu werden. Bis nach ihrer Niederkunft blieben sie dann noch hier. Aber dann, ja dann zögen sie wieder ins Tessin, und dort würden sie wohl auch bleiben. Vater Dormond habe sich nämlich splendid gezeigt, so daß sie in Porza ein altes einheimisches Haus hätten kaufen können, um billiges Geld, mit einigen tausend Quadratmetern Boden dabei. Das Haus werde man für die eigenen Bedürfnisse umbauen lassen, und während Charles male, werde sie den Boden bebauen und alles zum Leben Nötige pflanzen. Mit Augen voller Zuversicht und offenem furchtlosem Blick breitete sie diese Vorhaben stolz vor ihm aus, aber sie bettete ihre Hoffnungen nicht in Wolken hinein, die unstet über den Himmel ziehen, sondern versenkte sie in den Schoß der dunklen, bei uns bleibenden Erde und schmückte sie mit allen Blumen, die der Erde ungerufen entspringen, jede zu ihrer Zeit.

Während sie sprach, rauchte Valär seine Pfeife und hörte ihr zu. Es schien ihr nicht schwerzufallen, ganz an dem vorbeizusehen, was sie einander entfremdet hatte, und nicht ein einziges Mal machte sie den Versuch, ihn mit ihren Blicken oder mit einem zu weich, zu leise oder zu vertraulich gesprochenen Wort zu sich herüberzuziehen, wie sie es früher manchmal getan. Er rechnete ihr das besonders hoch an, und als er sich dessen inne ward, da war ihm diese Entdeckung sehr lieb.

Nur einmal war Neles Stimme wie von einer starken schmerzlichen Bewegung zusammengeschnürt, so daß sie hörbar zu zittern 536 begann, und eine seltsame Blässe legte sich auf ihr Gesicht. Das war in dem Augenblick, als sie erklärte, daß sie nun gehen müsse, und er möge sich doch, bitte, bitte, etwas wünschen von ihr. Sie habe immer, sooft sie an ihn denke, das Gefühl, er habe noch etwas bei ihr zu gut, und sie möchte dieser Schuld sich entledigen, obgleich sie keineswegs mit Sicherheit wisse, daß es eine sei.

Da verschleierte sich auch seine Stimme ganz leicht, und nachdem er sich kräftig geräuspert hatte, erwiderte er, ihre Hand in die seine nehmend:

»Dann nenne dein Kind Franziska, und wenn es ein Knabe wird, nenne ihn Franz . . . Franziska hieß meine Mutter.«

Und er senkte das Haupt.

 


 


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