Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XXVIII.

Die Sommerböcke waren reif. Vereinzelt trieben sie schon, und da die Bauern über zunehmenden Wildschaden klagten, wollte Valär sich einen holen.

Er strebte einer Gegend zu, welche die Kniebreche hieß, und folgte dabei einem Pfad, der zwischen Sanatorium und Dreitannen in gemächlichem Anstieg höhenwärts führte und jenseits des Kammes sich wieder senkte. Während er seines Weges schritt, einen spielerischen Sommerwind auf der Brust, mußte er daran denken, daß er vor etwas mehr als einem Jahr in den Steinäckern hinten den Mörderbock umgelegt hatte, und daß ihm damals Nele begegnet war und ihm den Bock hatte tragen helfen. Jetzt stand Nele wahrscheinlich irgendwo zwischen Blumen- oder Gemüsebeeten, mit einem Gartenschlauch in der Hand, und er mußte den Bock allein zu seinem Häuschen schleppen, falls er einen erlegte.

Mit einemmal erhob sich vor ihm aus der Erde ein Baugespann, nicht weit unterhalb von Dreitannen, und während er sich überlegte, was für eine Art von Haus in dem grauen Stangenrahmen wohl Platz finden könnte, tauchte Rosas rotleuchtender Haarschopf aus einer Senke hinter den Feldhecken auf.

Valär hatte Rosa seit Wochen nur von ferne gesehen. Seit sie bei ihm kein Glück gehabt hatte mit dem Versuch, ihn in ihre sogenannten Sorgen um die Zukunft ihres Vaters hineinzuziehen – Du liebst deinen Vater nicht nur, sondern du haßt ihn auch, hatte er ihr gesagt –, war sie nicht mehr bei ihm erschienen. Er hatte sie auch nicht vermißt. Aber über den Plan mit dem Mustergut hatte er sich gefreut. Wer ernährte das Land? Die Bauern? Der Boden? Gütiger Gott! Ernährerin war die Exportindustrie. Sie brachte die fremden Devisen herein, mit denen man auf dem Weltmarkt die nötigen Lebensmittel, dazu Oel, Kohle, Holz, Eisen und 274 andere Rohstoffe einkaufen konnte. Gewiß: in manchen Landesgegenden lebte man auch vom Bodenertrag. Es gab Bauern, die alles, was sie für den Bedarf ihrer Familie und ihrer tierischen Lebware nötig hatten, selber erzeugten, und ein weniges erzeugten sie auch für den Markt. Ein solcher Mann war Brunos ehemaliger Lehrmeister Lüscher, und wenn er sich auch von früh bis tief in die Nacht hinein wie ein Lastträger schinden mußte, so blieb er doch sein eigener Herr: sehr im Gegensatz zu den Bauern hiesiger Gegend, die nach Art kleiner Halbschmarotzer ihr Glück an den staatlichen Milchsubventionsstrom hingebaut hatten und, fast mit jedem Jahr, nicht nur ein wenig tiefer in Schulden versanken, sondern noch obendrein auf ihrer Scholle hätten verhungern müssen, nicht viel besser als der landlose Städter, wenn kein kanadischer Weizen, keine dänische Butter, kein Schlachtvieh aus Ungarn und keine Kartoffeln aus Holland mehr über die Grenze kamen. Ein Gutsbetrieb, wie ihn Rosa, nach Zünds Angaben, zu planen schien, konnte diesen kurzsichtigen und bequemen Leuten zum Vorbild werden und war schon allein aus diesem Grund eine gute und erfreuliche Sache.

Sogar Bruno hatte es Rosa mit einemmal angetan. Eine Zeitlang war alles an ihm Protest gegen Rosa gewesen. Ihr Geld benutze sie nur dazu, um die Menschen zu narkotisieren und durch allerhand kleine Wohltaten, die sie ausstreue, sich selbst darüber hinwegzutäuschen, daß sie nur ein schauriges Gespenst aus der Requisitenkammer eines zum Untergang verdammten Zeitalters sei. Woher Bruno das hatte, wußte Valär nicht. Jetzt war Brunos Protest verstummt und sogar in Bewunderung umgeschlagen.

Rosa kam über das frischgemähte Wiesland sofort auf Valär zu, als ob es ihr sehr gelegen wäre, daß sie ihn träfe, und winkte ihm, indem sie die Hand, die ein Taschentuch hielt, bis in Kopfhöhe hob. Plötzlich begann sie mit dem Tüchlein wild und ziellos um sich zu schlagen, anscheinend nach Mücken; dazu ging sie schneller, bis sie dicht vor ihm stand. Das Grün ihrer Augen war von der Sonne wie weggefressen; ihr Gesicht und ihre Hände waren erhitzt. Sie sah sehr beschäftigt aus und dazu sehr unternehmend. 275

»Ist das dir?« fragte Valär, auf das Baugespann weisend.

»Ja, vorige Woche ist es aufgestellt worden, und ich Kindskopf komme jeden Tag her, um es mir anzusehen«, sagte sie ein wenig atemlos und mit einem kleinen huschenden Lächeln. »Das Schwedenhäuschen wird mir zu eng. Ich muß auch damit rechnen, daß seine Bewohner in absehbarer Zeit zurückkehren werden. Wir müssen uns deswegen ziemlich beeilen, wenn meine neue Unterkunft bis zum März hin beziehbar sein soll.«

»Hübsche Lage«, sagte Valär. »Hier läßt sich allerlei machen.« Er ging ein paar Schritte und blickte sich um.

Sie hörte, daß der Platz ihm gefiel und folgte ihm. Schließlich spürte er ihre Hand flüchtig auf seinem Arm.

»Andrea, ich hätte ja so gern gehabt, daß du es mir baust! Aber du weißt, daß ich versuche,. dir möglichst wenig Mühe zu machen. Und dann ist Zünd doch auch ein so guter Mensch, und Terrainarbeiten interessieren ihn ja auch viel mehr als dich und sie liegen ihm näher. Das sind die einzigen Gründe, weshalb ich mich an ihn gewendet habe und nicht an dich, als die Sache plötzlich so dringlich wurde. Außerdem warst du ja damals auf hoher See. Aber nun bin ich doch froh, daß du gekommen bist. Denn es ist etwas da, das mir sehr Sorge macht, und das kann eben nur hier, an Ort und Stelle, besprochen werden. Sonst hätte ich dich sicher schon einmal aufgesucht.«

Eine lange Entschuldigung! Valär musterte sie. Rosa war immer eine Meisterin darin gewesen, von ihren Gefühlen sehr ausführlich zu sprechen, nachdem die Sache, auf die sie sich angeblich bezogen, schon so lange vorüber war, daß man ihr nicht zumuten konnte, sich an diese Gefühle noch genau zu erinnern . . . Aber das duftige, blaß lavendelfarbige Kleid stand ihr gut. Sie wirkte darin sehr elastisch.

»Bist du fertig mit dem Präludium?« fragte er mit spöttischem Mund.

»Präludium? – Ja, ich bin fertig.«

»Dann los und bediene dich!«

»Schön!« sagte Rosa und wischte sich mit ihrem Tüchlein schnell die Mundwinkel aus, in denen sich abermals jenes kleine, 276 huschende, fast anerkennende Lächeln eingestellt hatte. »Du siehst, wir liegen hier sehr abseits.«

Das sah er.

»Ich muß daher eine Straße bauen, bis der Anschluß an die Gemeindestraße da unten erreicht ist.«

»Zirka zweihundert Meter, wenn man Luftlinie rechnet«, taxierte Valär.

»Zünd denkt an einen Bogen, ungefähr so, dort jener Bodenwelle entlang. Dann wird die Bahn länger.«

»Schöner wär's sicher«, meinte Valär.

Rosa ging zu einem nahen Birnenbaum, lehnte sich, die Hände wie Schutzkissen hinter sich haltend, mit dem Rücken gegen dessen mächtigen Stamm und sagte erwartungsvoll:

»Was hältst du davon, wenn ich im Gemeinderat anfragen würde, ob man mir erlaubt, bei dieser Gelegenheit auch die Gemeindestraße in einen anständigen Zustand bringen zu lassen? Bis zur Höhe des Sanatoriums geht es ja noch. Aber von da an wird die Straße recht schlecht. Die letzte Strecke da unten ist außerdem viel zu steil für alle, die mit ihren Tieren und Wagen zu Berg fahren müssen.«

Wieder eine Ueberraschung, die Valär nicht erwartet hatte. Nun hatte sie doch vor nicht allzu langer Zeit mit ihrer Schenkung für das Bezirksspital diese schlechte Erfahrung gemacht und hatte erleben müssen, daß in der Presse sogar die Rückweisung der Schenkung verlangt worden war. Trotzdem wollte sie an der Gemeinde abermals zur Wohltäterin werden, indem sie sogar eine Straße in ihre Fürsorge einbezog. Was bewog sie dazu, solche Pläne zu schmieden und mit ihm zu erwägen?

Valär fühlte sich wie vor ein Vexierbild gestellt, in dem er die Heilige suchen sollte, und er konnte sie doch in dem Gewirr aller möglichen Gegenstände, Linien und weltlichen Leiber nicht finden. Dabei war jedes Wort richtig, das sie über den Zustand der Straße gesagt.

Valär setzte sich im Halbschatten an einen Rain, legte die Büchse ins Gras und suchte eine Zigarette hervor. 277

»Dann hast du also vergessen, wie man dir deine frühere Hilfsbereitschaft vergolten hat?« fragte er interessiert.

»Ich weiß, worauf du anspielst«, entgegnete Rosa, »und ich habe es auch nicht vergessen. Aber, schau, Andrea, ich gehöre nicht zu den Frauen, die glauben, daß sie der öffentlichen Meinung Trotz bieten müssen, wenn diese sich gegen sie auflehnt. Ebenso wenig gehöre ich zu jenen andern, die es für richtig halten, daß eine Frau die aufgebrachte öffentliche Meinung durch irgendetwas besänftigen soll. Weder das eine noch das andere ist das, was mir liegt. Wenn gewisse Leute nicht begreifen wollen, daß es kein rechtloses Unternehmen ist, kranke Menschen gesund zu machen mit Methoden, die sie nicht verstehen, weil eine gewisse Lustbarkeit mit dazu gehört, so ist das ihre Sache, und ich kann ihnen nicht helfen. Es scheint mir daher viel richtiger, über sie einfach hinwegzugehen.«

Rosa hatte sehr abgewogen gesprochen, hatte alle möglichen Zwischentöne und Halbtöne ausgestreut, hatte es aber doch auch nicht hindern können, daß ihre Rede, wie so oft, während sie sprach, immer verbohrter geworden war. Als Valär schließlich den Kopf nach ihr wandte, weil sie schwieg, stand sie denn auch richtig wie ein störrisches Maultier auf ihrem Platz und schielte schief aus den Augenwinkeln zu ihm hinüber.

»Gewiß. Auch das ist ein Weg«, versetzte Valär.

»Schön, daß du das einsiehst,« sagte sie, den Kopf plötzlich nach hinten werfend, und trat auf ihn zu und blickte über das Land. »Nur müßte die Gemeindestraße, im Zusammenhang mit der Verbesserung, die mir vorschwebt, eine kleine Verlegung erfahren. Siehst du das Waldstück da unten? Jetzt führt die Straße mitten hindurch. Sie müßte aber im Bogen südlich um das Waldstück herumgeführt werden, so daß der ganze Wald auf diese Seite käme. Die neue Straße mündete dann bei der schwarzen Feldscheune dort wieder in ihre alte Bahn. Die unangenehme Steigung wäre dabei von selbst weggefallen.«

Rosas Atem ging jetzt sehr rasch. Ein gieriger Zug war in ihr Gesicht geraten, und Valär begann etwas zu ahnen.

»Habe verstanden«, erwiderte er. »Aber warum muß denn der Wald absolut auf diese Seite?« 278

»Ja, siehst du, alles Land auf dieser Straßenseite bis hinunter zum Sanatorium, das gehört ja nun mir. Auch das Waldstück auf dieser Seite ist mein. Aber auch das Waldstück jenseits der Straße wäre eine gute Partie, und zur Abrundung meines Besitzes möchte ich es gern haben.«

Ihre Lippen waren ganz feucht geworden, während sie sprach. Sie leckte sie ab, aber immer mehr Wasser rann ihr im Munde zusammen, so daß sie ihr Taschentuch abermals an die Lippen führen und die in den Mundwinkeln sich sammelnde Flüssigkeit damit auftrocknen mußte.

»Ach so, um den Wald geht es dir! Da liegt der Hase im Pfeffer!« Sein kurzes, fast lautloses Lachen störte sie. Sie winkte ab und ging weg. Aber nicht weit. Dann machte sie kehrt. Als sie wieder vor ihm stand, sagte sie:

»Vor allem möchte ich, daß mein ganzes Besitztum in sich zusammenhängt, und daß keine Straße hindurchführt, wenigstens keine Gemeindestraße, auf der jeder nach Belieben herumkarren kann.«

Schweigen.

»Ja, ist denn das Waldstück überhaupt feil?« fragte Valär nach einer Weile. Er kannte den Bauer, dem es gehörte. Dieser war ein sehr hablicher Mann, und in Schulden steckte er nicht wie der Vorbesitzer des Bodens, auf dem Rosa jetzt baute.

»Das ist es ja eben«, sagte sie kummervoll, und ihre Stimme wurde ganz dunkel von Geplagtheit und Trauer, als sie fortfuhr: »Brütsch hat mit dem Besitzer des Waldes gesprochen und hat ihm den nämlichen Preis geboten pro Hektar wie für das Waldstück auf dieser Seite. Aber seit die Kerle merken, daß ich bestimmte Absichten habe und ein bestimmtes Stück Land daher einfach haben muß, haben muß, – seitdem gehen die Preise so unverschämt hoch, daß ich einfach nicht mehr mitmachen kann. Sie sind ja so gewohnt, sofort frech zu werden, wenn sie sich in der Oberhand fühlen, daß sie gar nicht merken, was für eine Dreckware sie sind. Und was aus der Straße werden soll, wenn sie so viel verlangen, daß mir schwarz vor den Augen wird, das bekümmert sie gar nicht. In andern Zeiten würde mich das nicht 279 besonders aufregen. Aber die ganze Anlage kostet sehr viel, und ich verfüge im Augenblick nicht über so große flüssige Mittel, daß ich einfach auf jede Forderung eingehen kann.«

»Herrje, dem ist doch abzuhelfen, sogar auf recht leichte und schnelle Art, müßte man meinen«, sagte Valär.

»Wirklich?«

Vor Spannung schloß sich Rosas Gesicht ganz fest zusammen, und die Augenlider sanken langsam herab. Der Atem blieb in ihrer Brust zurück, und sie horchte.

Es war eine Bosheit, die Valär auf der Zunge lag. Aber er konnte und mochte sie nicht unterdrücken. Er sagte leise, aber mit fühlbarer Schärfe:

»Du hast doch einen Mann? Der hat doch ebenfalls Geld? Warum übergehst du ihn? Guter Gott, er hat ja solchen Respekt vor dir! Wenn du ihm das Nötige sagst und nett zu ihm bist, wird er sicher ein Einsehen haben und dir das Fehlende leihen.«

Aber diese Stiche prallten an Rosa ab. Sie entgegnete nur, kühl und gefaßt und mit einem sanft schmollenden Ton in der Stimme:

»Damit er endlich das Recht erwürbe, mir in alles hier dreinzureden? Ihm käme das schon lange gelegen! Da ich mich aber nie bemüht habe, ihn zu bekommen, müßte ich ja von allen Göttern verlassen sein, wenn ich nun versuchen wollte, ihn dadurch festzuhalten, daß ich mich in seine Gewalt begebe und mich an ihn binde in der Weise, wie du es meinst. Nein, Andrea!« – Und nach einem kurzen grollenden Schweigen: »Da wendete ich mich noch lieber an meinen Vater.«

Valär drehte den Kopf und blickte sie an, und obgleich sie eben noch recht forsch gesprochen hatte und mit sehr viel Verstand, entging es ihm nicht, daß sie mit einem Mal etwas Geschlagenes hatte. Die Röte wich aus ihrem Gesicht, und sie begann unter seinem prüfenden Blick kleinlaut und verwaschen zu lächeln: fast wie ein Kind, das im nächsten Augenblick weint.

»Auch das ist eine Idee«, antwortete Valär aufs Geratewohl. »Schließlich seid ihr einander in mancher Beziehung ja wieder recht nahe gekommen. Er kennt deine Begabung in geschäftlichen Dingen, und eine Anlage wie diese hier verliert ja niemals an 280 Wert, wenn jemand da ist, der dafür sorgt, daß das Land nicht verludert.«

Diese Antwort hatte Rosa anscheinend wohlgetan. Viel von der Gepreßtheit, die sie zuletzt befangen hatte, glitt von ihr ab, und eifrig, beinahe frei entgegnete sie:

»Ja, nicht wahr, Andrea? Worauf gehe ich denn mit all diesen Landkäufen schließlich aus und mit dem Straßenbau und den sonstigen Plänen? Ich will es mir doch nicht wohl sein lassen wie die Made im Speck! Ich will auch nicht untätig in einer großen fürstlichen Leere wohnen, mit der einzigen Freude daran, daß sie mir gehört. Ich sehe doch, daß die Zeit immer finsterer wird, und daß sich rings um uns die Zündstoffe häufen. Eines Tages werden wir allseits von Flammen umgeben sein. – Selbst wenn es für uns nicht zum äußersten kommt, so werden wir doch die Abgeschnittenen sein, und da die Menschen nicht weniger werden, und jeder an jedem Tag mindestens dreimal Hunger bekommt, so werden wir auch gezwungen sein, diesen Hunger dreimal täglich ganz aus eigenen Mitteln zu stillen. Vor alledem wird es kein Ausweichen geben. Aber was tut man dagegen, behördlicherseits, jetzt, wo noch Zeit ist, sich auf das Zukünftige vorzubereiten? Man tut nichts! Man verbessert den Boden nicht, um die Erträge zu steigern. Man macht wilden Boden nicht anbaufähig. Man wartet ab, weil man denkt, daß der eine oder andere, der sich erhebt, ebenso schnell auch verbluten werde, und dann sei der Krieg in Kürze wohl wieder aus. Soll ich ebenso denken, nur, weil die andern es tun? Ich werde mich hüten. Ich baue vor! Eine Musterwirtschaft werden wir hier aus dem Boden stampfen, daß selbst die Götter daran ihre Freude haben, und Zünd und Nele und andere, die ich vorläufig noch nicht einmal kenne, werden mir dabei behilflich sein. Natürlich rettet das nicht das Land. Der Hunger wird trotzdem kommen. Aber wenn er dann kommt – weißt du, was ich dann machen werde?«

»Nein! – Was denn?«

»Dann werfe ich alle hinaus, die jetzt unter dem Sanatoriumsdach ihre Nester haben! Das Haus ist ja mein. Und ich mache seine Türen weit auf, und auch die Gärten und das Feld und den 281 Wald da unten mache ich auf für alle Kinder aus unserem Land, die nichts mehr zu essen haben.«

Valär blickte zu Boden.

Noch nie hatte er Rosa so sprechen hören, so ungestüm und so zäh und so kühn und zuletzt mit einer fast zornigen Wärme; und Wärme, das war etwas, was es bei ihr sonst ja kaum gab. Trotzdem war bei ihren Erklärungen ein taubes Gefühl über ihn hingekrochen, wie wenn ein Glied am Einschlafen ist, und neben seiner Betroffenheit und einer gewissen Bewunderung regte sich sofort auch der Zweifel. Nicht der Zweifel in das, was sie ihren Worten nach ausführen wollte, wohl aber in die Redlichkeit der Begründung, die sie ihren Plänen gab, um sie als etwas Lobenswertes erscheinen zu lassen. Denn er kannte Rosa. Er wußte um das schlau Berechnende ihrer Natur. Bald ragte es in die dunkle Unterstimmung ihres Bewußtseins hinein wie ein unauslotbarer Felsen, der oben die Wirbel macht, bald schwamm es unverhüllt an der Oberfläche wie die nackten Fettaugen auf einer guten brühheißen Suppe. Er wußte um ihre Freude am Umwegmachen und Spurenlegen an Stellen, wo sie gar nicht gegangen war, und am Verwischen der wirklichen Spuren, und er wußte auch, mit welcher Leidenschaft sie die Kunst betrieb, Gelegenheiten zu schaffen, bei denen es zwei Fliegen mit einem Schlag für sie zu treffen gab. Deswegen fragte Valär sich jetzt, ob nicht noch andere Beweggründe bei ihr mitspielen könnten, – Gründe, die sie sorgsam vor ihm verbarg und vielleicht sogar vor sich selber versteckte.

Er brach deswegen auch nicht in Jubel und Bewunderung aus, als sie schwieg. Er hielt sich steif und sagte dann ruhig und sachbedingt:

»Rosa, dein Plan ist kühn und hat etwas sehr Schönes. Er schwebt in der Luft wie ein Traum, aber er schwebt der Erde so nah, daß er sie da und dort schon berührt. Ich begreife auch, daß die Ausführung deines Vorhabens große Summen verschlingen wird. Wenn du nun aber deinen Vater angehen wirst um Geld, so wird er auch wissen wollen, wozu du es brauchst, und dann ist er vielleicht doch nicht der Mann, der den nötigen Sinn hat für deine Pläne.« 282

»Eine Zwischenfrage, Andrea: Hast du mit meinem Vater, seit seinem Hiersein, wieder etwas zu tun gehabt?«

»Nein. Ich habe ihn nicht gesehen und habe auch nichts von ihm gehört.«

»Und mit seiner Frau?«

»Ebensowenig.«

»Na!« würgte Rosa mit plötzlich heiser gewordener Stimme hervor, und setzte sich mit einer so heftigen Bewegung neben ihn an den Rain, daß es fast einen Plumpser gab, und hing den Kopf und riß dabei ein Büschel Gras mit großer Gewalt aus dem Boden; »dann kann ich dir ja anvertrauen, daß ich ihm wegen einiger Hunderttausend bereits geschrieben habe.«

Valärs Kopf wendete sich nach der Seite. Er blickte sie forschend an, und er begriff, daß sie die Wahrheit sprach. Er begriff auch, daß es gar nicht nötig war, sie zu fragen nach dem Erfolg ihres Schreibens. Denn ein so enttäuschtes und zugleich bitterböses Gesicht hatte er noch nie an ihr gesehen. Dennoch fragte er:

»Und –?«

»Kannst du dir vorstellen, daß er mir nicht einmal geantwortet hat? Schon mehr als vier Wochen sind vergangen, seit ich ihm geschrieben habe. Aber er schweigt. Er tut, als wäre ich gar nicht vorhanden.«

Sie schleuderte das Grasbüschel mit einem Ruck in die Luft und blickte ihm nach, während es auseinanderstob, und sie war trotz der Sonne mit einem Mal ganz weiß unter der Haut bis hinein in die Schläfen.

Nach einer Weile sagte Valär:

»Rosa, du bist da vermutlich nicht richtig vorgegangen. Wenn du schon solche weitgehenden Wünsche hast, so hattest du ihm auch die Ehre erweisen sollen, selbst hinzufahren und persönlich mit ihm zu reden. Er ist gewohnt, daß die Leute Bücklinge vor ihm machen, bloß, weil er beißen könnte.«

»Ich habe ihn ja aufsuchen wollen. Seit seiner Abreise von hier habe ich ihn ja nicht mehr gesehen«, versetzte sie matt. »Er hatte sich alle Besuche verbeten. Ich habe deswegen in einem Brief bei ihm angefragt, wann ich willkommen sei. Er hat mir durch Lily 283 antworten lassen, daß er seit kurzem viel unter Kopfweh leide, und er könne niemand empfangen. Was ich mit ihm zu besprechen wünsche, könne ich brieflich mitteilen. Ich habe Kälbermatten gefragt, was er von dem Kopfweh halte. Er meinte, es sei kein gutes Zeichen. Die Geschwulst im Hirn sei wohl weiter im Wachsen begriffen. Das könne unversehens schlimm enden. Erst daraufhin habe ich mich entschlossen, ihm mein Anliegen schriftlich mitzuteilen, so gut das eben geht. Aber ich bin für ihn Luft. Er nimmt sich nicht einmal die Mühe zu einem Nein.«

»Ja, hast du damit gerechnet, daß er ohne weiteres ja sagen würde?«

Einer direkten Antwort auf diese Frage wich Rosa aus. Sie erwiderte, nun schon wieder gefaßt:

»Ich hatte den Eindruck, daß er sich mit mir ausgesöhnt habe. Und ich wollte ihm ja doch die Gelegenheit geben, sich vor seinem Ende ein einziges Mal wirklich reich zu fühlen – reich durch die Teilnahme an einem Werk, bei dem für ihn gar nichts herauskommt. Warum hat er denn so getobt, als die Erblindung über ihn kam? Doch nur, weil er entdecken mußte, in diesem Augenblick höchster Not, wie entsetzlich arm und entsetzlich leer es in seinem Innern ist, und daß all die Macht und all das Geld und all das Ansehen vor der Welt, das er bis dahin gebraucht hat, um sich trotzdem als reichen Mann zu fühlen, – daß all diese Dinge, an denen er sein Leben lang so gehangen hat, jene Leere und Armut nicht haben beseitigen können. Und nun war es mein Wunsch, daß er sich aussöhne mit seinem Geschick und daß er den ersten Schritt dazu unternähme, indem er etwas von dem, woran er bisher seinen Halt gesucht hat, freiwillig dahingibt. Aber er schlägt die Gelegenheit aus.«

Valär hatte sich von ihrem Redestrom nicht verwirren lassen. Kurz und nüchtern antwortete er: »Begreiflich, daß er sie ausschlägt. Er schlägt sie aus, weil er dir nicht traut.«

»So, wie du?« sagte Rosa schnell und maß ihn mit einem glitzernden Blick. »Natürlich traut er mir nicht! Er denkt, ich wolle nur einen Teil meiner Anwartschaft noch schnell in Sicherheit bringen. Oder ich wolle wenigstens auskundschaften, ob ich überhaupt mit 284 einer solchen zu rechnen habe. Er vermutet deswegen, daß meine angebliche Geldverlegenheit nur ein Vorwand ist, um das auf gute Art herauszubekommen. Denn er hat mir ja einmal angedroht, daß er mich enterben werde – du warst ja dabei. Dasselbe wie er vermutest auch du. Und du hast recht: auch diese Erwägung spielt bei meinen Ueberlegungen mit, ich kann es nicht ändern. Denn ich habe allen Grund zu befürchten, daß mein Vater sich ganz in Lilys Gewalt befindet, und daß sie alles tut, um mich zu verdrängen und sich in den Alleinbesitz von allem zu bringen, was er hinterläßt. Aber ebenso aufrichtig liegt mir auch das andere am Herzen, von dem ich gesprochen habe, ich schwöre es dir! In deinen Ohren klingt das natürlich ganz falsch, was ich jetzt sage. Aber in meinem Kopf klingt es richtig und gut. Ich möchte dich deswegen auch ganz gradheraus fragen, ob du dich nicht entschließen könntest, zu ihm zu fahren und ihm zu sagen, daß ich mich verstoßen fühle und daß ich das nicht zu verdienen glaube. Mir ist ja der Zutritt bei ihm verschlossen, und du bist ein Mann, auf den er hört.«

Valär stieß sich mit beiden Händen kräftig vom Boden ab und schwankte ein wenig, bis er deutlich Stand gefaßt hatte. Dann griff er nach seiner Büchse, hing sie über die Schulter und antwortete ärgerlich:

»Nein, das will ich nicht für dich tun. Ich könnte wohl als dein Fürbitter zu ihm gehen, aber niemals gehe ich hin als dein Späher. Da beides mit deinem Auftrag verbunden wäre, sage ich Nein.«

Rosa trat dicht auf ihn zu.

»Dann hat man dir also das auch gesagt, das von seiner Frau?« flüsterte sie mit verzerrtem Gesicht. Und sie machte mit beiden Händen vor ihrem Leib eine Bewegung, als ob dieser sich wölbe.

»Du bist ja verrückt!« sagte Valär. Er ließ Rosa stehen und ging seiner Wege. 285

 


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