Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XLIII.

Weder Nele noch Valär hätten die Hand dafür ins Feuer gelegt, daß Frau Ellegast mit ihren so pompös verkündeten Vorsätzen zur Wiederaufnahme ihrer pianistischen Tätigkeit wirklich durchhalten werde. Es war jetzt bald ein Jahr seit Valärs Besuch im Schwedenhäuschen verflossen, und er hatte seitdem jede Begegnung mit ihr vermieden. Aber seit er sich Nele wieder erobert 423 hatte, fiel da und dort auch der Schatten von Frau Ellegast wieder auf den Weg ihrer Gespräche, und sooft er sie fragte: »Und was macht deine Mutter?« – war ihre Antwort gewesen: »Sie sitzt am Flügel, bis zu acht Stunden am Tag, immer noch, und wenn sie ein Konzertstück so einstudiert hat, daß sie glaubt, nun würden sogar die Engel im Himmel mit ihr zufrieden sein, geht sie an ein neues.« . . . Sie hatte auch etliche Schüler: bessere Kinder aus der Gemeinde, Anfänger und Fortgeschrittene, das Töchterchen des neuen Pfarrers war mit dabei, und auch in der Stadt ließen ein paar Familien Kinder von ihr unterrichten. Diese Fahrten zur Stadt waren Ablenkungen, aber es waren auch Ausspannungen, und sie brachten Verdienst. Sie konnte Rosa nun schon Miete bezahlen, das Angebot machte sie selbst, und Rosa schlug es nicht aus. Sie prozessierte auch, gewiß tat sie das. Sie prozessierte gegen den Mann in Brisbane, – auch in diesem Vorhaben war sie unnachgiebig. Aber sie nahm keinen teuren Rechtsanwalt, sondern bediente sich des konsularischen Apparates, um ihre Ansprüche weiter zu leiten. Das kostete nur geringe Gebühren und ging fast ebenso schnell.

Diese Ausdauer ging Valär sehr nah, und Nele sah es. Seine Abneigung gegen Frau Ellegast war zwar unüberwindlich und blieb es. Auch das wußte Nele. Die Frau war eine seinem eigenen Wesen völlig fremde Natur, unberechenbar, sprunghaft, chaotisch. Dazu kam, daß er allem, was nur seine Neugier, nicht aber sein Vertrauen erregte, mit einem instinktiven Argwohn entgegentrat. Oft schien er Nele sogar zu abwägend oder zu zweifelsüchtig zu sein und mißtrauischer, als er selbst wußte. Früher war ihr das an ihm gar nicht so aufgefallen. Hatte sie diesen Zug nur nicht bemerkt? Hatte er sich erst neuerdings ausgebildet? Sie schob diese Fragen beiseite. – Um so mehr freute es sie, daß die Verbissenheit, mit der ihre Mutter an die Verwirklichung für unmöglich gehaltener Vorhaben ging, ihren Eindruck auf ihn nicht verfehlte.

Gegen das Frühjahr hin war es dann so weit, daß Frau Ellegast glaubte, konzertreif zu sein, und ebenso stürmisch, wie sie die ganze Zeit gearbeitet hatte, drängte es sie, vor Schluß der Saison noch herauszukommen. Aber als sie den ersten Schritt dazu tat, 424 stellte sich ein ernstes Hindernis ein: in den Konzertagenturen, an die sie sich wandte, war ihr Name vollkommen unbekannt, und die Kritiken aus ihrer Glanzzeit, die sie in einem kostbar gebundenen Buch vorweisen konnte, lagen so weit zurück, daß man sie anstarrte wie ein altes Pferd, für das sein Besitzer einen Ueberpreis beim Metzger verlangte, weil aus den Begleitpapieren hervorging, daß es im englischen Derby Zweiter gewesen war und danach noch eine größere Anzahl beachtlicher Rennen gewonnen hatte.

Schon das machte Frau Ellegast ein wenig toll. Trotzdem sagte einer der Agenten, daß er ihr gegen einen Kostenvorschuß für Saalmiete, Reklame, Inserate und sonstige Spesen die Gelegenheit zum Auftreten verschaffen wolle, und er schlug das neue Konzerthaus, das in den nächsten Tagen eröffnet werde, als bestgeeigneten Ort dafür vor. An einem Erfolg zweifle er nicht. Viele gingen schon hin, nur um den neuen Saal zu sehen. Den Reingewinn würden sie teilen.

Kostenvorschuß – Reingewinn – teilen! So! Und auch noch das Kompliment mit dem Saal . . . Sie, die früher einen eigenen Impresario gehabt hatte, der sie auf der Höhe ihrer Erfolge überhaupt nur noch gegen ein Fixum von nicht unter tausend Franken pro Abend spielen ließ und dazu noch den ganzen übrigen Dreck nahezu gratis besorgte! . . . Frau Ellegast war über diese Zumutungen aufs Tiefste gekränkt; sie sagte nur: »Halunke!« und ging.

Daheim klagte sie Rosa ihr Leid, nicht ohne die nötige Würze dazuzugeben, und schon hatte Rosa einen Gedanken, der ihr im Hinblick auf alles Mögliche dermaßen gefiel, daß sie ihn auch sofort aussprach. Sie sagte:

»Aber Sie können doch dieses erste Auftreten hier im Sanatorium haben – warum haben Sie sich nicht gleich an mich gewendet – alles wäre dann ja schon im Reinen. Ich lade die Gäste und die Kritik – ein berühmter Pianist ist zurzeit ebenfalls Sanatoriumsgast – wir mieten einen Steinway für Sie – und machen einen festlichen Abend, es hat uns schon lange so etwas gefehlt.«

»Jawohl! Und zum Schluß soll ich wohl noch Tanzmusik spielen?« fauchte Frau Ellegast. Nein, sie war nicht sehr begeistert von diesem Plan. Aber der Pianist lockte sie, als sie seinen Namen 425 zu hören bekam, und zum Schluß ging sie auf den Vorschlag doch ein.

Kurz danach kamen Rosa Bedenken. Die Gesellschaft war in Zerfall begriffen, sozial Gleichgestellte gingen sich geniert aus dem Weg, als wäre jeder Auflauf unter ihnen verdächtig. Menschen zu finden, die harmonierten, und sei es nur für ein andächtiges kurzes Zusammensitzen, war daher schwer. Und gar mit einer völlig unbekannten Größe als Mittelpunkt! Mit einem kalten Büfett als Mittelpunkt, ausgefallenen Drinks und reichlichem Alkohol für die Männer – das ging noch zur Not, unter Umständen ging es sogar gut. Alles andere konnte als Unverschämtheit aufgefaßt und entsprechend beantwortet werden. Auch die Kritik war vermutlich von einer solchen Veranstaltung gar nicht entzückt. Jetzt, wo die Saison zu Ende ging, waren die Herren übersättigt und würden vermutlich nicht kommen wollen oder sich in äußerst gereiztem Zustand befinden, selbst wenn man sie im Auto abholen und gratis wieder heimbringen ließ.

Und die Gäste im Haus? Ueber ihr Verhältnis zur Musik wußte Rosa gar nichts. Im kleinen Salon stand ein kleiner Flügel, noch aus früherer Zeit, aber er war verschlossen, und sie konnte sich nicht entsinnen, daß der Schlüssel je verlangt worden wäre. Auch der jetzt vorhandene Pianist hatte nie danach gefragt, und wenn nur ein einziger unter den Insassen war, der so ein Konzert als grobe Ruhestörung auffaßte, konnte er alle andern verhetzen. Aber eine Palastrevolution konnte Rosa augenblicklich unter keinen Umständen brauchen . . . Nein, sie hatte zu unüberlegt gehandelt. All das Unangenehme, womit sie sich seit einer Weile herumschlagen mußte, hatte ihr die klare Besinnung geraubt.

Allein jetzt war die Besinnung zurückgekehrt. Rosa setzte daher einen Fragebogen auf, zur Zirkulation unter den Gästen des Hauses, um zu erfahren, wie sie sich zu einem Konzertabend stellten. Mit Ausnahme Sir Olaf Dapkins, der den Vorschlag reizend fand, antworteten alle mit Nein. Der Pianist erklärte sogar entrüstet, daß er sofort ausziehen werde, falls . . .

Da hatte sie's! Und nun stand ihr die schwierige Aufgabe bevor, Frau Ellegast beizubringen, daß aus dem Konzert bei ihr nichts 426 werden könne. Aber sie wählte einen andern Weg, um sich aus der Affäre zu ziehen, als den eines Rückrufs. Auch das Hauskonzert hätte ja Geld gekostet: einmal ein Ehrenhonorar für Frau Ellegast und außerdem nicht unbeträchtliche Spesen. Sie bestimmte daher einen Konzertagenten, den Frau Ellegast nicht aufgesucht hatte, dieser einen höflichen Brief zu schreiben, in dem er ihr, unter beiläufiger Bezugnahme auf ihren noch unverblichenen früheren Ruhm, zu verstehen gab, daß er es sich als eine Ehre anrechnen würde, für sie ein Auftreten im neuen Konzerthaus zu arrangieren. Bedingungen: Uebernahme aller Kosten durch ihn und ein festes Honorar von dreihundert Franken. Beides bezahlte Rosa. Nun mußte Frau Ellegast sie um den Rückruf der Konzertverabredung bitten, und trotzdem blieb ihr Ruf als Gönnerin ungefährdet erhalten.

 

Valär war abwesend, als das Konzert vonstatten ging. Auch die Tschechei war jetzt von einem heftigen politischen Beben erfaßt, und während die leitenden Staatsmänner der vier europäischen Großmächte mit den Maikäfern um die Wette flogen, diese auf der Suche nach Weibchen und grünem Laub, jene auf der Suche nach einem Konferenztisch mit ebenso hoffnungsvoll grünem Tuch, von welchem aus sie das Beben auf seinen Herd einschränken konnten, trug Valär wieder die Uniform. Nele fühlte sich in diesen Tagen verwaist und schickte ihm hin und wieder ein Zettelchen, um das Gefühl ihrer Vereinsamung zu betäuben.

Aus einem dieser Zettelchen erfuhr Valär, das Konzert ihrer Mutter sei eine Katastrophe gewesen. Ein beinahe voller Saal und beste Aussicht für einen Erfolg. Aber ihre Mutter hatte sich eine eigene, sogenannte »dynamische« Auffassung gewisser klassischer Stücke zurechtgelegt, um Publikum und Kritik zu überraschen. Ein Teil des Publikums sei nicht unwillig mitgegangen und habe sich einmal sogar zu einer regelrechten Ovation hinreißen lassen. Auch den Englein im Himmel wäre das Spiel vielleicht ein Wohlgefallen gewesen, hätten sie hinter den Wolken gelauscht. Aber die Kritik! Wenn man diese Musik wenigstens als 427 Hundefutter gebrauchen könnte, habe einer in seiner Zeitung geschrieben . . .

Auch Rosa war voll von Verdruß über das, was geschehen war. »Hinzustehen, auf dem Konzertpodium, nach Cris-Cris zu duften und den Leuten über ihre Dynamische Musik einen Vortrag zu halten, bevor sie ans Spielen ging«, klagte sie Nele. Und vorher keinem Menschen ein Sterbenswörtlein von dieser Absicht zu sagen, nicht einmal ihr! Hatte sie nicht diese Frau an ihren Busen gedrückt und durfte glauben, sie hätte allen Grund, ihr dankbar zu sein? . . . Und Rosa stand da, mit einem Gesicht, das störrisch und vorwurfsvoll war und nicht nur an Nele, sondern auch noch an viele andere die Frage zu richten schien: wie habe ich das um sie, um euch alle verdient!

Sonderbarerweise war nur Frau Ellegast nicht aus der Fassung zu bringen. Sie genoß es, daß sie mitten im Wirbel der Ereignisse stand, nicht nur Herrn Chamberlains Regenschirm, sondern auch sie, und über den Satz mit dem Hundefutter freute sie sich so, daß sie vor Vergnügen geradezu schielte. Auch ihre Uebungen am Klavier und das Einstudieren neuer Konzertstücke setzte sie in gehobener Stimmung fort, desgleichen ihren Prozeß, und für die ein oder zwei Schüler in der Stadt, die absprangen nach dem Konzert, weil ihre Eltern auf die Kritiken hin die Panik bekamen, erschienen bald neue.

 


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