Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XXXI.

Zum zweiten Mal seit seiner Erblindung verließ Saxer an diesem Tage sein Haus, um in Begleitung Lilys und Valärs den Grabtempel zu besuchen.

Er trug jenen unmöglichen hellen Flanellanzug mit den viel zu weiten Hosenröhren und den gepolsterten, brettartig ausgezogenen Schultern, den er schon in Ragaz getragen hatte. Seit langem war der Anzug unbenutzt im Kasten gehangen, aber er hatte ihn an diesem Morgen ausdrücklich verlangt. Das Zimmermädchen hatte die Hosen frisch aufgebügelt, und ihre scharfen Kanten fielen mit einem breiten Knick auf dem Schuhrücken auf.

Der Abstieg über die Treppe, die vom Hauseingang in den Garten führte, war schwierig für ihn, denn die Stufen waren sehr breit und außerdem bogenförmig. An seiner linken Seite ging Lily und hielt ihn am Arm, in der rechten Hand hatte er einen Stock, mit dessen lauter eiserner Zwinge er die Ränder der einzelnen Stufen beklopfen und hörbar abtasten konnte. Er ging halbseits, den linken Fuß immer als ersten auf die nächsttiefere Stufe setzend, und zählte die Stufen laut wie ein Kind. Als er auf der vierten stand, wußte er jedoch nicht, ob jetzt nur noch eine käme, oder ob es noch zwei bis hinunter waren . . . Nun war er über diese Treppe ungezählte Mal aus- und eingegangen in sein festgemauertes Haus, war ein alter Mann geworden dabei, und jetzt, wo es darauf angekommen wäre, Sicherheit über einen bestimmten Zustand seiner Umgebung zu haben, der für ihn lebenswichtig geworden war, stand er vor einem so lächerlichen und zugleich hinterhältigen Rätsel.

»Es sind fünf«, sagte Lily. »Es kommt noch eine, und dann sind wir unten.«

»Es ist einerlei«, gab er mit einem kurzen rauhen, aber sichtlich vergnügten Lachen zurück und schüttelte langsam den Kopf dazu, während er den linken Fuß über den Rand der vierten Stufe hinabtasten ließ. »Es kommt zu spät, dieses Rätsel«, fügte er hinzu, »– nichts gibt es mehr, was mich erschrecken könnte. Es kommt alles zu spät.« 301

Trotzdem ließ er auch von der fünften Stufe seinen Fuß so vorsichtig in die Tiefe gleiten, als könnte er in einen Abgrund stürzen, wenn er nicht bei der Sache war, und erst, als er das in den Boden eingelassene Scharreisen unter seiner Schuhsohle fühlte, sagte er zufrieden:

»Jetzt sind wir unten.«

»Ja, jetzt sind wir unten«, bestätigte Lily.

»Ich wußte es, daß wir unten sind. Ich spürte es an dem Eisen. Und jetzt sind wir im Kies. – Hat es geregnet?«

»Ja, vor einer Stunde, ein wenig, ein kurzer, kühler, erfrischender Guß«, sagte Valär. »Es hat gut getan hinein in den Föhn. Aber jetzt ist es schön.«

»Ich rieche es, daß es geregnet hat«, erwiderte Saxer und atmete tief durch die Nase ein. »Es riecht wie ein nasser Badeschwamm. Aber das Wasser muß warm sein in dem Schwamm. Kaltes Wasser riecht nicht so gut. Ich weiß, daß ich mich mit unserem früheren Tierarzt einmal über diesen Geruch unterhalten habe. Aber als ich Badeschwamm sagte, hat er mich ausgelacht, und hat behauptet, es sei der typische Spermageruch und rieche wie verschütteter Samen von einem Hengst. Damals habe ich gedacht, er sei ein Rauhbein und ein Schwein, und ein Badeschwamm sei wohl seit seiner Säuglingszeit nie mehr an ihn hingekommen, wenn er nicht wußte, daß warmer Boden, der naß wird, wie Badeschwamm riecht. Aber das Lebendige in dem Regengeruch, das hat er mit seinem schamlosen Vergleich doch sehr gut getroffen.« – Saxer hob plötzlich den Stock. »Und jetzt müssen wir also dahinaus gehen.«

Aber er wies in der falschen Richtung mit seinem Stecken. Denn während er sprach, hatte er eine halbe Drehung gemacht, ohne es zu beachten, und nun deutete er durch die ihn umgebende Nacht auf das Haus, während sie um dieses in einem rechten oder linken Bogen herumgehen mußten.

»Ja«, sagte Lily, »gehen wir! Aber am besten hängst du mir jetzt ein. Der Weg ist ja vorläufig eben, und wenn eine Senkung oder Steigung kommt, melde ich es.«

Unbemerkt dirigierte sie ihn herum, und auf der andern Seite 302 schloß Valär sich ihnen an. Auf dem einen Arm trug er einen Ueberzieher für Saxer. Davon wußte Saxer nichts. Lily hatte ihn stillschweigend mitgenommen, und ebenso stillschweigend hatte Valär ihr den Ueberzieher entwunden. Sie hatte genug mit der Führung zu tun.

Saxer bewegte sich schwerfällig dahin, aber doch mit einem gewissen lustvollen Betätigungsdrang. Den Kopf trug er hoch und gradaus gerichtet, aber die Augen, das Glasauge und das blinde, bewegten sich wie ein wunderbar geschultes Pferdegespann zusammen immer wieder nach links oder nach rechts oder nach oben, als möchten sie sehen, an welcher Stelle man sich befand. Nachdem sie das Haus an der rechten Seite umschritten hatten und sich parkwärts entfernten, sagte er auch ganz richtig:

»Jetzt hat das Haus aufgehört. Unsere Schritte klingen jetzt anders.«

Das stimmte durchaus. Denn der leicht hallende Rückschlag der Tritte und knirschenden Kiesgeräusche von den Wänden her war nun nicht mehr zu hören.

Ueber die Bestätigung dieses Sachverhaltes durch seine Begleiter war Saxer sehr erfreut, und er begann von selber nach links zu drängen, wo der Weg nach hinten zu umbog. Aber er drängte zu stark, und Lily mußte sich mit ihrem Oberkörper kräftig gegen ihn stemmen und sagen:

»Halt, nicht so stark links! Mehr gradaus, bitte!«

Das verwirrte ihn sichtlich. Er blieb bockig stehen, hielt den rechten Arm mit dem Stock ausgestreckt vor sich hin und beschrieb damit durch die Luft einen tastenden Bogen. Erst, als er mit dem Stockende an Zweige stieß und an raschelndes Laub, und der Widerstand so groß wurde, daß er nicht mehr weiterkam, weil der Stock sich in den Zweigen verfing, nickte er und setzte sich wieder in Gang.

»Die Rhododendronbüsche –« sagte Lily.

»Zum zweiten Mal ungenügend«, stellte Saxer mit einem vergnügt grunzenden Lachen fest, während er Lily mit dem Ellenbogen freundschaftlich in die Seite stieß. »Ich hatte nämlich gemeint, sie kämen erst weiter hinten. Aber auch dazu ist es zu 303 spät, daß mich das schrecken könnte. Uebrigens, ein langweiliges Heckengemüse!« fuhr er fort. »Ich wundere mich, daß ich sie nicht schon längst habe wegnehmen lassen. Gemocht hab ich sie nie.«

»Wenn der Winter kommt! . . . Wenn der Winter kommt, und die Hecken geschnitten werden, tun wir sie raus«, erwiderte Lily. »Man kann sie jederzeit wegtun, wenn du sie nicht magst. Ich mache mir auch nicht viel aus ihnen.«

»Ja, tun wir sie raus!« stimmte Saxer zu. »Dafür pflanzen wir Flieder hin und vor den Flieder Jasmin. Für vieles ist es zu spät, aber dafür noch nicht. Es muß ganz dunkler Flieder sein, und davor kommt weißer Jasmin. Im Winter sind Flieder und Jasmin kahl, das ist viel schöner.« – Er tappte mit dem Fuß suchend am Boden herum. »Herr Valär, fallen schon Blätter?«

»Ja. Seit wir die Nebel hatten. Ahorn, Silberpappeln und Linden haben sich in der Nebelluft sehr schnell verfärbt, und jetzt, auf den Regen hin, werfen sie ab.«

»Ich dachte es mir«, sagte Saxer. »An meinem Fuß raschelte es, und da dachte ich, es ist der Herbst. Schon neulich haben wir von einem Vogel gesprochen, der während des Sommers so schön in den Büschen gesungen hat. Oft, wenn ich am Fenster saß, hörte ich ihn. Plötzlich war er nicht mehr zu hören. Da sagte Lily, der Vogel sei fortgezogen.«

»Das Schwarzplättchen, meinst du«, warf Lily ein.

»Möglich! Den Namen des Vogels weiß ich nicht mehr. Aber fortgezogen, das weiß ich noch. Denn fortgezogen, das ist ein Wort, und Herbst, das ist gleichfalls ein Wort. November, das ist gar nichts daneben. November kann auf jedem Geschäftsbrief stehen. Aber Herbst, das hat Gewicht und Gehalt. Da ziehen die Vögel fort, und die Wege bedecken sich wieder mit Laub, und überall tropft es.«

Er bückte sich plötzlich, und ohne den Stockgriff loszulassen, griff er mit zwei Fingern, die er freigemacht hatte, in die nasse Blättermasse am Boden. Im nächsten Augenblick hob er eins in die Höhe. »Ah!« sagte er.

»Ahorn!« sagte Valär. »Zitronengelb, ein wenig Kupferrot und 304 grasgrüne Adern. Beim Ahorn bleiben die Adern noch lange grün. Andere dort im Rasen sind mehr violett und andere mehr braun, aber alle haben grasgrüne Adern.«

»Und dazu scheint die Sonne?« fragte Saxer zurück. Er hatte den Stiel des Blattes gefunden und war nun dabei, sich das Blatt mit beiden Händen ins Knopfloch zu stecken. Er preßte dazu das mächtige Kinn gegen die Brust und war sehr stolz, als es ihm glückte.

»Gewiß, Herr Saxer, auch die Sonne ist da«, sagte Valär. »Manchmal fliegt eine kleine Wolke vorbei und deckt sie zu. Aber im Augenblick ist sie wieder da. Alles ist vom Regen noch naß und funkelt. Es ist ein sehr schöner Tag.«

»Ich spüre es, daß sie scheint. Sie kann fast noch stechen.«

»Wie immer bei Föhn«, sagte Valär. »Besonders wenn es geregnet hat, und plötzlich deckt der Himmel sich ab, da kann sie wirken fast wie im Sommer.«

»Wir haben heute sehr gut gegessen,« hub Saxer nach ein paar Schritten von neuem an. »Die Forellen sind herrlich gewesen, und der Fasan hat mir nie im Leben so gut geschmeckt. Fasan habe ich sonst immer leicht fad gefunden. Aber heut war er prächtig. Man hatte wirklich ein Stück kräftiges saftiges Wildpret im Mund.«

»Ich habe ihn eben vorher mit Knoblauch abreiben lassen«, erklärte Lily. »Zuerst reibt man ihn tüchtig mit frischer Kräuterbutter ein, innen und außen, bis er davon nichts mehr schluckt. In die Kräuterbutter hinein reibt man den Knoblauchsaft. Das geschieht eine Stunde, bevor er in die Pfanne kommt. Das Rezept ist von Herrn Abgottspon. So mache man es in Ungarn, das ja das Fasanenland ist, und das Rezept ist wirklich prima.«

»Abgottspon?« fragte Saxer und rieb sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Wer ist Abgottspon?«

»Der Riese, weißt du! Ich habe dir ja von ihm erzählt – der Kriegskorrespondent, der aus Spanien kam, der Freund Herrn Valärs. Im Sanatorium nannten sie ihn einfach den Riesen.«

»Ist das der, der sagte, daß er von den Göttern abstamme?« fragte Saxer sehr munter. 305

»Ja, der! Er wußte nur nicht von welchen.«

»Ich erinnere mich. Ein gesunder Mann! Ein witziger Mann! Ein sehr gesunder und witziger Mann! Rosa hat ihn nicht leiden können. Er bringe das ganze Haus durcheinander, behauptete sie. Ich höre sie noch, wie sie das sagte. Aber dieses Rezept von ihm, das darf sich sehen lassen. Er muß ein Kenner sein.« – Er wandte sich an Lily: »Hat er dir auch empfohlen, zu dem Fasan lieber Weißen zu geben?«

»Nein, den Johannisberger habe ich selber gewählt. Mein Vater sagte immer, zu Fasan gehöre Johannisberger. Zufällig waren in deinem Keller noch zwei Flaschen da. Im Verzeichnis waren sie aufgeschrieben, und als ich nachsehen ging, waren sie wirklich noch da.«

»Das will ich hoffen. Was im Verzeichnis steht, das hat dazusein«, sagte Saxer, und sein alter Kommandoton regte sich wieder. »Zu Fasan habe ich sonst immer Roten bekommen. Wahrscheinlich meinen alle Leute, wenn man zum Fisch einen Weißen hatte, müsse zum Braten ein Roter her. Aber der Johannisberger war wirklich besser. Wir machen das wieder. – Nicht wahr, Herr Valär?«

»Mit Vergnügen, Herr Saxer! Auch die Burgundertrauben, die es zum Nachtisch gab, würde ich mir wieder gefallen lassen.«

»Waren es nicht Holländer-Trauben?« wandte sich Saxer an Lily.«

»Nein, es waren Burgunder«, versicherte sie. »Weißt du, von dem neuen Stock im Gewächshaus drei. Frick sagte, der Stock habe zum ersten Mal in diesem Jahre richtig getragen.«

»Ich habe sie für Holländer gegessen. Hoffentlich sind sie nicht beleidigt dafür,« erwiderte Saxer gutgelaunt. »Und wenn sie Herrn Valär so gut gemundet haben, dann soll Frick ein Körbchen voll davon schneiden, und Herr Valär nimmt sie mit. – Doch, diesen Gefallen müssen Sie mir schon tun. Ich bin ja froh, daß ich endlich etwas für Sie habe, was Ihnen kein anderer schenken kann.«

»Ich gehe nachher hinüber und sage es Frick«, versetzte Lily. »Auch ich bin froh, daß wir etwas haben.« 306

Sie waren während dieser Unterhaltung nur langsam vorwärtsgekommen. Saxer schien jedoch das Gegenteil anzunehmen. Er sagte:

»Jetzt müssen wir aber bald hinten sein.«

»Ja – bald«, sagte Lily. »Wir haben jetzt gut die Hälfte.«

»Na, dazu kann ich nur sagen, daß ich dann eine richtige Schnecke bin, und daß mir sehr heiß ist. Ich glaube, daß ich zuviel getrunken habe. Aber jetzt wird nicht mehr geschwatzt. Jetzt wird marschiert. Vorwärts!«

Es war noch nicht die Hälfte. Lily hatte ein wenig geschwindelt, weil er so guter Laune war, und sie ihn nicht entmutigen wollte. Aber heiß hatte er, das sah man ihm an, und deswegen war es ihr gar nicht recht, daß er so drängte. Sein Kopf war sehr rot, auf der Oberlippe hatte er kleine helle Schweißperlen sitzen, und auch auf der Stirn, unter dem Hutrand, glänzte es feucht.

Nach einer Weile verflog die Röte in seinem Gesicht, obgleich man jetzt in viel lebhafterem Tempo dahinschritt. Und abermals nach einer Weile sagte er:

»Herr Valär, vor ein paar Wochen sagte unser Notar zu mir, daß diese Zeit jetzt zu Ende gehe. Sie war unsere Zeit. Aber jetzt sei es mit ihrer Herrlichkeit aus. Sie sei ein sinkendes Schiff. Ich habe schon früher mit Ihnen darüber sprechen wollen, aber ich wußte nicht, wo ich anfangen soll. Auch jetzt weiß ich es nicht. Aber ich möchte hören, was Sie dazu denken, und deswegen fange ich eben irgendwo an.«

»Sie fangen dort an, wo jeder anfängt, den dieser Schuh drückt«, antwortete Valär. »Jeder fängt an mit ›Glauben Sie?‹ Und jeder versucht herauszubekommen, ob er dem andern auf dessen Pfad folgen kann. Aber gewöhnlich können sich die beiden nicht folgen.«

Er schwieg und blickte über Saxers Schulter nach Lily hinüber.

»Sie möchten also nicht mit mir über diesen Schuhdrücker sprechen?« fragte Saxer und riß horchend beide Augen weit auf. Man hörte aus Süden ein mächtiges Dröhnen. Es war die Fabrik.

»Doch!« versetzte Valär. »Aber nicht mit einem sinkenden Schiff vor den Augen. Wenn schon von einem Schiff die Rede 307 sein soll, möchte ich lieber sprechen von einem Schiff, das mehr und mehr ohne Ladung fährt und deswegen schlingert. Die frühere Fracht ist über Bord geworfen, oder man ist noch dabei, sich unter Getöse von ihr zu trennen, und über die neue Fracht, die man aufnehmen soll, ist man noch nicht einig. Inzwischen taumelt das Schiff hin und her.«

»Das Schiff fährt also weiter?«

»So sehe ich es«, sagte Valär. »Das Schiff ist noch da. Aber die alte Zeit, die geht über Bord.«

»Die alte Zeit war eine gute Zeit«, sagte Saxer.

»Sicher! Sie war die Zeit, in der wir etwas gewesen sind und etwas bedeutet haben«, entgegnete Valär. »Wir sind in ihr jung gewesen und sind in ihr zu Männern geworden. Wir haben in ihr unsere Kräfte gespürt und unsere Herzen schlagen gefühlt. Manchmal gab's einen Sieg, und manchmal gab's eine Niederlage, und manchmal haben wir auch ins Wasser geschlagen und haben uns dabei naß gemacht, und jede Gans hat uns auslachen können. Denn was eine richtige Gans ist, die fettet sich vorher wenigstens ein, bevor sie den Bach auf den Buckel nimmt und mit den Flügeln wild um sich haut. Aber das alles war unser Leben und daher war es gut.«

»Ich weiß es! Ich weiß, wie gut es war!« sagte Saxer sehr würdevoll. »Schmalz in den Knochen und Ideen im Kopf. Keine Kleinmütigkeit. Keine Bedenken. Keine verbrannten Gedärme und schlaflosen Nächte. Immer nur hieß es: den Hammer her! Und dann wurde der Hammer so lang und so hoch durch die Luft geschwungen und so erbarmungslos auf den Amboß niedergeschmettert, bis aus einem gottverlassenen Eisenbrocken ein blitzscharfes Messer geworden war oder ein Meißel oder ein Rad. Ob ich es weiß, Herr Valär! . . . Und wie ist einem die Zeit dabei entgegengekommen! Wie sauber und glatt hat sie einem da in der Hand gelegen, überall, wo man sie zu fassen bekam! Wie haben wir uns für sie und ihr Wohlergehn eingesetzt! Wie haben wir uns für sie geschlagen! Wie haben wir uns verstanden mit ihr, und wie haben wir an sie geglaubt, und wie hat sie uns belohnt für unsere Treue! Gewiß: manchmal hat unsere Zeit uns auch Kummer 308 gemacht. Zuweilen haben wir sie auch ganz einfach gerupft wie ein albernes Huhn. Aber geglaubt an sie haben wir immer.«

»Stimmt alles«, sagte Valär. »Obgleich ich um ein ganzes Menschenalter oder fast um ein solches jünger bin als Sie, Herr Saxer, stimmt es sogar noch für meine ganze eigene Generation. Aber jetzt kommen andere Menschen, und diese glauben nicht mehr an die alte Zeit und an ihr Gutes. Sie treten an die Zeit mit neuen Forderungen heran. Sie laden ihr neue Aufträge auf, und den Menschen geben sie neue Befehle.«

»Ich habe von diesen Befehlen gelesen«, entgegnete Saxer voll Munterkeit und in seinem blinden Antlitz lächelte es. »Für mich ist es zu spät, die neuen Befehle noch zu verstehen. Aber in einem bleibt alles doch die alte Geschichte, soviel begreife ich immer noch.

Man war gespannt, wie er das meinte.

»Alle, die jetzt Befehle austeilen, vergessen, daß jeder Mensch sich am liebsten selber befiehlt. Ich habe vielen zu befehlen gehabt. Ich habe auch nie gezögert, von meinem Befehlsrecht Gebrauch zu machen. Aber Befehlen zieht Gehorchen nach sich – und gehorchen, das tut man nur gern, wenn die Stimme des Befehls auch die eigene ist. Auch heute und in Zukunft wird das so sein. Entweder ist gar keine eigene Stimme da, die befiehlt und die Richtung weist. Die fremde Stimme kommt dann ins Leere zu sitzen, und das Gehorchen, das sie sich erzwingt, ist keinen Kabis wert. Denn es bleibt hündisch und untertänig, und es wird von jeder neuen Stimme, die mächtiger ist oder stärker droht, verdrängt wie ein Hammel von einem andern. Oder es ist eine eigene Stimme im Menschen da. Dann gibt's Kopfweh im Kopf, wenn die fremde kommt, und das Gehorchen bleibt eine Sache ohne Verlaß und mit viel-vielen Haken. Nur wenn die fremde Stimme auch die eigene ist, wird aus dem Gehorchen ein Fest. Aber das gibt es sehr selten.«

»Jetzt, bitte, rechts – Achtung, es geht ein wenig bergab – und dann sind wir gleich da«, unterbrach Lily das Gespräch.

»Sofort!« sagte Saxer, »sofort wird gehorcht.« – Er zog sein Taschentuch aus dem Rock, entfaltete es und nahm mit der Linken den hellgrauen Borsalino vom Kopf. Er hielt ihn in 309 Brusthöhe vor sich hin, so daß die Innenseite des Hutes ihm zugekehrt war, hing seinen Stock in die Ellbogenbeuge und trocknete sich mit dem Taschentuch das Gesicht, zuerst die Oberlippe, danach die Stirn und die Wangen. Zuletzt wischte er sich auch über den nackten glänzenden Schädel. Dann griff er mit dem Taschentuch ins Innere des Hutes und trocknete auch dessen Schweißband ab. Dann fuhr er sich mit dem Taschentuch noch einmal über die Stirn und horchte dabei nach dem Gedröhn aus den Rufawerken, das in diesem Augenblick ein Windstoß wieder herantrug. Nachdem auch das geschehen war, setzte er den Hut wieder auf. Das Taschentuch steckte er ein und beklopfte die Tasche von außen, damit kein Buckel hervorstand. Er griff nach seinem Stock, machte aus seinem linken Arm einen Bogen, so daß Lily ihm einhängen konnte, blickte in der vermuteten Richtung des Gartenhügels, der das Ziel seiner Wanderung war, und sagte mit sehr fester Stimme: »Wohlan, da kommen wir –!« Noch eine Sekunde stand er still. Dann setzte er sich in Bewegung.

Als sie an die Stelle gekommen waren, an welcher der neuangelegte Aufstieg zum Hügel mit dem Grabtempel oben begann, sagte Valär:

»Ich habe keine Stufen gemacht. Zuerst habe ich an Stufen gedacht. Aber Stufen haben etwas so Feierliches. Auch etwas Kirchliches haben sie. So ist es einfach ein Weg geworden, der herkommt aus dem Menschenland und irgendwo endet.«

»Im Schattenreich«, sagte Saxer, während er unter Führung Lilys den Aufstieg begann.

»So ist es nicht« warf Valär ein. »Denn der Weg führt um das Grabmal herum und mündet wieder in diesen Weg ein, auf dem wir jetzt gehen. Er kehrt in sich selber wieder zurück in die Welt, aus der er gekommen ist.«

»Raffiniert!« stieß Saxer hervor. »Grad als sollten sie einen nie wirklich haben.«

Darauf sagte niemand etwas.

Sie vollzogen den Aufstieg langsam, so daß Saxer es nicht mehr wärmer wurde, als ihm schon war. Das farbige Ahornblatt im Knopfloch seines hellen Flanellanzugs hatte sich im Gehen ein 310 wenig auf die Seite gedreht und kitzelte ihn mit seiner kupfrigen Spitze manchmal am Kinn. Dann wischte er jedesmal mit der Hand über die Stelle, wie nach einer Fliege. Schließlich drehte Lily das Blatt wieder herum. Valär schritt langsam voraus.

Als sie oben waren, sagte Lily:

»Ich lasse euch jetzt allein. Ich gehe zu den Gewächshäusern hinüber und sage Frick das Nötige wegen der Trauben. Vorher reibe ich die Bank dort drüben noch trocken, damit ihr euch nachher setzen könnt. Tücher habe ich mitgenommen. Die Tasche lasse ich auf der Bank. Später komme ich wieder und hole euch ab.« – Sie wandte sich an Saxer: »Ich würde dir raten, nachher, wenn ihr euch setzt, in den Mantel zu schlüpfen, den wir dir mitgebracht haben. Du findest ihn auf der Bank.«

»Habt ihr einen Mantel für mich?« fragte Saxer und versuchte zu erraten, wo jedes von ihnen stand. Er sah sehr hilflos aus, und sein Mund blieb halb offen.

»Deinen Sommerloden«, sagte Lily. »Staat kannst du nicht mehr damit machen. Aber er ist leicht und warm. Herr Valär war so gut ihn zu tragen.«

»Dann ziehe ich ihn gleich an«, antwortete Saxer und ließ den Spazierstock zu Boden gleiten. »Es weht ein wenig.«

»Es weht nicht stärker als bisher auch«, sagte sie, ihm zusammen mit Valär in den Mantel helfend. »Aber es ist eine Baumgruppe da, von der die Sonne verdeckt wird. Auf der Bank ist's anders. Dort ist's immer noch warm.«

»Wunderbar, wie ihr zwei für mich sorgt! Aber das Blatt nicht zerdrücken!«

»Dem Blatt geschieht gar nichts«, sagte Lily, Leib an Leib vor ihm stehend. Und als Saxer beim Suchen nach dem obersten Mantelknopf mit der rechten Hand an ihre Wange geriet, fuhr er mit den Fingern zärtlich über die rosige warme Backe herunter zu ihrem Kinn und dann über die Schläfe und über das Ohr und über ihr Haar. »Wenn ich dich nicht hätte!« sagte er sehr gerührt. »Wo wäre ich heute!«

Valär gab ihm den Spazierstock zurück und trat an seine Seite.

»Ich gehe also –«, sagte Lily. 311

Dann standen die beiden Männer Arm in Arm vor dem Bau, und Valär erklärte noch einmal alles. Saxer, den hellgrauen Hut in der Hand, horchte auf jedes Wort, das Valär zu ihm sprach, als hätte er früher noch nie mit Valär über das Mausoleum gesprochen. Dann gingen sie an die Besichtigung. Sie bestand darin, daß Saxer in Begleitung Valärs das Gebäude umschritt und alle erreichbaren Einzelheiten mit den Händen befühlte.

Als der Rundgang beendet war, sagte er:

»Gut. Es ist ein feines Schattengehäuse!« Einen Augenblick stand er versonnen da; dann fügte er mit einem wunderlich verschmitzten und sehr vertraulichen Ton in der Stimme hinzu: »Und jetzt gehn wir zur Bank, und dort trinken wir eins.«

Valär dachte, daß Saxer scherze. »Ich glaube, daß das das Einzige ist, was Ihre vorsorgliche Frau mitzunehmen vergessen hat.«

»Wir finden trotzdem etwas«, erwiderte Saxer im nämlichen verschmitzt-vertraulichen Ton und zugleich hoheitsvoll. »Auch Männer können vorsorglich sein. Wenn Sie mich zur Bank gebracht haben, gehen Sie zu dem Standbild der Flora dahinten, Sie wissen ja, wo, und hinter der Flora, am Fuß des Sockels, werden Sie etwas finden. Wir werden schon damit fertig.«

Und er drückte Valärs Arm fest mit dem seinen.

»Die Bank ist hier«, sagte Valär, nachdem sie etwa fünfzig Schritte gegangen waren.

»Und die Flora muß dort hinten sein. Gehen Sie jetzt zur Flora«, sagte Saxer, sich schwerfällig auf der Bank niederlassend und von neuem drängend. »Hinter der Flora muß etwas stehen. Bringen Sie es! Lily wird Augen machen.«

Als Valär zurückkam, trug er in der einen Hand eine Flasche Samoswein und in der andern zwei henkellose Kacheltassen, wie man sie in südlichen Ländern statt Gläsern zum Trinken benutzt. Sie waren aus schwerem gewöhnlichem Steingut, glasiert und auf lustige Weise grün, weiß und knallrot geringelt. Die Flasche war schon geöffnet; der alte Pfropfen war durch einen neuen ersetzt, so daß sie gebrauchsfertig war. Kacheln und Flasche hingen über und über voll Regentropfen und waren kühl anzufühlen. 312

»Haben Sie's?« fragte Saxer gespannt.

»Und ob! Eine ganze Bar – fix und fertig.«

Saxer ließ ein grunzendes Lachen vernehmen.

»Was steht auf der Flasche, Valär?«

Valär las es ihm vor. Es war ein ganzer Roman.

»Gut! Schon Homer hat diesen Wein getrunken. Auch Homer war blind. Und die Kacheln sind grün, rot und weiß?« fragte Saxer.

»Ja! Genau wie Sie sagen.«

»Dann sind es die richtigen. Ich habe alles zusammen in Caciovassi gekauft. Es war auf der Hochzeitsreise mit Lily. Wir sind auf einem elenden Küstendampferchen hingefahren, – ein Nest auf Samos. Ueberall roch es nach Feigen, Knoblauch, Schmieröl und Fisch. – Herr Valär, geben Sie mir eine der Kacheln und schenken Sie ein!«

Saxer umschloß die dargebotene Kachel mit beiden Händen und hielt sie Valär entgegen, damit er sie fülle. Seine Hände waren rot und gedunsen. Auch Saxers Gesicht war gedunsen, aber an den Ohren und Kieferrändern hin war es weiß. Die Hände zitterten leicht. Dick und golden gluckerte der Wein in die Schale. Dann füllte Valär auch die seine.

»Trinken wir!« sagte Saxer mit einem sonderbar tiefen und starken, aber zufriedenen Ton. »Trinken wir auf das Licht und die Schatten!« Er hob die Kacheltasse mit beiden Händen zu seinem massigen blinden Gesicht empor, beugte gleichzeitig den Kopf und führte sie an den Mund. In großen, lautlos schlürfenden Zügen sog er den Wein in sich hinein und leerte das Gefäß in einem Zug, bis zur Neige. Kein Tropfen blieb in der Tasse und auf seinen Lippen zurück. Dann stellte er die Tasse mit beiden Händen neben sich auf die Bank, suchte mit dem Rücken die Lehne, und nachdem er sie gefunden hatte, legte er sich behaglich zurück und starrte vor sich hin in die Höhe. Die Sonne war wieder hinter den Bäumen hervorgekommen und schien ihm flach ins Gesicht.

Valär nahm nur einen kleinen Schluck. Der Wein schmeckte ihm nicht. Auf der Zunge und in der Nase hatte er plötzlich einen 313 Geruch von Weihrauch, Seife und alten Friedhofkränzen, die im Regen auf einem Abraumhaufen verfaulen. Der Wein schmeckte nach Tod.

Valär blickte nach Saxer.

Saxer schien nichts Unangenehmes empfunden zu haben oder nachträglich zu empfinden. Er hatte die Hände in seinen Manteltaschen vergraben und lehnte behaglich brütend in seiner Ecke. Vielleicht saß er wieder in dem elenden Küstendampferchen, von dem er gesprochen hatte, unter der Sonne Homers, und schwamm über das veilchenblaue Aegäische Meer hinüber nach Caciovassi.

Um den lästigen Geruch zu vertreiben, den er immer noch in Nase und Mundhöhle spürte, holte Valär eine Zigarette hervor und steckte sie an. Dann setzte er sich ebenfalls auf die Bank. Er setzte sich halbseitwärts in die andere Ecke und blickte von neuem nach Saxer. Zwischen ihnen standen die offene Flasche, der Pfropfen dazu, mit dem untern schmalen Ende nach oben, und die beiden Trinkgefäße, von denen das seine noch fast gefüllt war. Ein dunkler Starenschwarm rauschte in sausendem Flug über ihre Köpfe dahin.

Es war Valär nicht wohl.

Nach einer Weile sagte Saxer, ohne sich zu verrücken, und die Sonne schien ihm immer noch flach ins Gesicht:

»Wissen Sie, alter Freund, was ich vorhin dachte? Ich habe es schon früher manchmal gedacht, und vorhin, als meine Frau an mich stieß, mit ihrem runden gesegneten Leib, da kam es mir wieder. Ich habe gedacht, daß Sie heiraten sollten! Es darf nicht geschehen, daß die schlimme Erfahrung, die Sie mit Rosa und mir haben machen müssen, noch länger für Sie solche Folgen hat. Denken Sie an die lange Reihe, von der ich schon früher einmal zu Ihnen gesprochen habe, die lange Reihe der Sonnen, Menschen, Ideen und Wolken, die aus dem Dunkel kommt und will, daß sie ebenso ins Dunkel hinein fortgesetzt werde. Nur darum, daß wir dafür Sorge tragen, wandeln wir eine Weile im Licht. – Haben Sie nicht ein Mädchen, das Sie heiraten will?«

»Doch!« entfuhr es Valär. 314

Er war vollständig überrumpelt. Das Gespräch war ihm unangenehm. Was der alte Mann sich plötzlich für Sorgen machte! Früher, als er noch klingelnde Goldstücke im Hosensack trug und Tag und Nacht für ihn noch etwas Verschiedenes waren, hatte Saxer sich aufs hohe Roß gesetzt und hatte in verletzender Form eine Unterhaltung über das Heiratsthema verweigert. Und jetzt, wo er aus dem Sattel geglitten war, der mächtige Mann, und nur noch kopfüber im Steigbügel hing, mit dem Gesicht gegen den Boden schlagend, und der durchgehende Gaul ihn langsam zu Tode schleifte, und er sich dennoch geborgen fühlte, weil seine junge Frau schwanger war, Gott mochte wissen, von wem, – jetzt tat es ihm leid, daß er ihn einst so namenlos gedemütigt hatte.

Valär drehte sich langsam weg. In ihm kochte es. Er knetete an seinen Fingerknöcheln herum, und sein Gesicht zog sich unheildrohend zusammen.

Dann wandte er den Kopf wieder Saxer zu, und als er das wohlbekannte Gesicht abermals vor sich sah, waren sein Unmut und sein finsterer Nachgroll verflogen. Denn auf dem breiten roten Gesicht mit den dicken grüngelben Augensäcken lag, wie ein Wäschestück auf sonniger Bleiche, ein Ausdruck weinselig gedunsener, jovialer und dabei leicht melancholischer Güte, den die starren toten Augen nicht störten. Sie waren unter den herabgezogenen Lidern verschwunden und wirkten jetzt nicht als etwas Schreckliches mit.

Mit einem Mal hörte Valär sich selber laut lachen. Es war ihm nicht klar, weswegen er lachte. Aber er tat es. Etwas kitzelte ihn, und das Lachen tat wohl.

»So ist's recht!« sagte Saxer aus seiner Ecke und nickte. »Das höre ich gern. Man darf sich das Leben nicht durch solche Mißerfolge verpfuschen lassen. Niemand ist schuld daran. Es gibt bessere Methoden, um damit fertig zu werden, als Kopfhängerei. Die Illusionen sind's! Haben Sie bemerkt, wie schnell Sie vorhin ›Doch‹ gesagt haben? . . . Schenken Sie ein, Herr Valär! Kaum habe ich gefragt, ob Sie ein Mädchen haben, das Sie heiraten will, da sagen Sie ›Doch‹! . . . So soll es sein. Schenken Sie ein! Trinken wir auf Ihr Mädchen!« 315

»Wollen Sie schon wieder trinken?«

»Trinken wir! Gut ist der Wein! Wo ist die Kachel? Geben Sie her. Schenken Sie ein! Schon viel habe ich heute getrunken«, brach es aus Saxer hervor. »Schon am Vormittag habe ich angefangen damit. Etwas mußt du tun, habe ich zu mir gesagt, daß heute das Kopfweh nicht kommt, heut ist ein Festtag für dich, und da dachte ich, ein Gläschen Portwein könnte mir vielleicht helfen. Nie habe ich früher dieses Vormittagstrinken gemocht. Mein Leben war nüchtern und streng. Mäßigkeit, Herr Valär! Auch dieses Nachmittagstrinken wie jetzt ist mir zeitlebens ein Greuel gewesen. Ebensowenig habe ich diese Art Weine gemocht. All dieses starke schnapsige Zeug aus Spanien und aus Griechenland und weiß Gott woher, das war für die Gäste da, und wenn's ihnen schmeckte, hat's mich gefreut. Ich selber hab es nicht angerührt. Aber als ich an das entsetzliche Kopfweh dachte, und daß keine von allen Arzneien dagegen helfen will, da sagte ich mir: trinken, das hast du noch nicht versucht, du alter Heide, und vielleicht ist es gut. Gleich in der Frühe habe ich deswegen angefangen. Wie eine Eingebung war's. Es war mir verhaßt, das Trinken, aber es hat gewirkt. Das Kopfweh ist weggeblieben. Dann habe ich wieder beim Mittagessen getrunken, und das Kopfweh ist weggeblieben, und jetzt ist es wichtig, daß wir weiterfahren darin, damit es nicht kommt. Es ist viel für mich, so zu trinken. Aber es tut gut, und deswegen her mit dem Wein. Trinken wir auf das Mädchen, das Sie heiraten will! Stoßen wir an!«

»Ihr Wohl!« sagte Valär und stieß mit ihm an.

»Und wie heißt sie?«

»Dinah.« – Abermals lachte Valär und begriff nicht, warum.

»Sie soll leben!« rief Saxer. »Dinah ist bündnerisch. Leben soll sie! . . . Und die Augen, die Lily machen wird, wenn sie uns so sieht!«

 

In der Tat machte Dinah Valär seit diesem Sommer ein wenig Sorgen.

Es hatte begonnen an jenem Donnerstag nach den Osterferien, 316 an dem sie ihn in seinem Büro wieder zum gemeinsamen Mittagsmahl abgeholt hatte, und er sie nach seiner Mittelmeerreise zum ersten Mal sah. Er hatte ihr damals erzählt, daß er am vorhergehenden Donnerstag Nele getroffen und mit ihr gegessen habe. Dinah hatte die Stirn gekraust und erklärt:

»Mann, du hast etwas verletzt, was mir ein Heiligtum ist. Mach so was nicht wieder! Denn du weißt, daß ich dich liebe, und dieses langbeinige Mädchen gefällt mir nicht.«

Dazu hatte sie ihn mit ihren leicht kurzsichtigen Augen fest angeblickt, ruhig und mit großer Geduld, und sie war seinem Blick auch nicht ausgewichen, als dieser sie traf, prüfend und fast ein wenig erschrocken.

Später war Dinah nicht mehr auf diese Sache zurückgekommen. Aber es war nun doch etwas da, was sich aus ihr immer leicht hervorschob in seiner Gegenwart und mit ihm Fühlung suchte, so behutsam und leise, daß es fast nicht zu spüren war und sich dennoch bemerkbar machte, und dieses eifrige, sich selbst immer wieder besorgt auf die Probe stellende Etwas, am leichtesten erkennbar an der Art, wie es aus einer Nichtigkeit eine Begebenheit machte, hatte sich auch geregt, als er für sie und ihre Geschwister die Badesaison in seinem Seelein hatte eröffnen können, weil es Sommer geworden war.

Damals hatte sie geheimnisvoll von ihrem neuen Badeanzug phantasiert, von dem Valär auf Grund der Familiensage ohnedies ja längst wußte, daß er nur aus Höschen und Büstenhalter bestand, und ihre Aeußerungen hatten geklungen, als ob sie sich von diesem Kostüm einen ungeheuren Erfolg für ihr Auftreten vor ihm verspräche. Mit merkwürdiger singender Betonung hatte sie im Anschluß daran noch bemerkt:

»Jetzt bin ich aber gespannt, ob du mich noch stemmen kannst!«

Er tätschelte ihre Hand, um sie zu beruhigen, so wie man einem Pferd, das ein wenig aufgeregt ist, begütigend den Hals und die Schulter klopft, und sagte gelassen, es werde sicher noch gehen. Da hatte sie mit komischer Betrübnis erwidert:

»Ach, ich bin ja so eine Last geworden!«

Das mit der Last war nun freilich zu viel gesagt. Immerhin 317 war Dinah während des verflossenen Jahres so stark gewachsen, daß sie Valär nun schon über die Schulter reichte, und man sah ihr kaum mehr an, daß sie sich noch in der Hand des Schöpfers befand. Ihre Formen hatten sich mit einem mächtigen Sprung aus der kindlichen Verschmelzung gelöst und waren auseinandergetreten, so daß die Eva körperlich fertig war. Dabei war sie kräftig und war gesund und hatte dichtes schwarzbraunes Haar. Frieda nannte sie »ein geklärtes Mädchen«.

Nun hatten Dinah und ihr um drei Jahre jüngerer Bruder Jürg die Eröffnung der Badesaison so wenig erwarten können, daß sie schon vor der Stunde, die Valär festgesetzt hatte, zur Stelle waren. Da sie annahmen, er schlafe noch, und sie ihn nicht stören wollten, hatten sie sich ums Haus herum vorsichtig in den Garten geschlichen. Aber als sie auf die vordere Wiese kamen, saß er schon im Bademantel auf dem Rand eines Liegestuhls, ganz vorn, wo es einen aus dem Wasser steigenden jungen Röhrichtgürtel, alte Weiden und buntes Buschwerk gab, und arbeitete an einem Aquarellchen. Er war aus der Uebung, aber Spaß machte es doch.

»Hast du schon gemessen?« rief Dinah, während sie zum Wasser lief, um zu prüfen, wie warm es sei.

»Nur mit den Zehenspitzen.«

»Und?«

»Ich schätze auf achtzehn bis neunzehn Grad.«

»Kann stimmen – hier am Rand eher ein wenig mehr«, bestätigte Dinah und schwadderte mit den Händen im Wasser herum. »Und Laichkräuter sind noch keine da und auch keine Bremen.« – Sie stieg auf den hölzernen Laufsteg, der durch die Luft ein Stück weit in den See hinausführte, und blickte rings über die stille glitzernde Wasserfläche. Gleich danach rief sie über den Platz:

»Ich gehe jetzt hinein und ziehe mich um. Darf ich dein Badezimmer benutzen?«

Auch das war neu. Noch im vorigen Sommer war Dinah zum Umkleiden irgendwo hinter die Büsche in Deckung gegangen und hatte keineswegs besondere Sorgfalt verwendet, um sich zu verstecken. Jetzt war auch das Umziehen eine große Begebenheit, und sie konnte nicht davon schweigen. 318

Als sie dann aber umgekleidet den andern entgegen kam, war von dem märchenhaften neuen Badekostüm nichts zu sehen. Denn sie hatte den Bademantel um die Schultern gehängt und hielt ihn von innen mit einer gewissen Bedachtheit zusammen. Gegen ihre Gewohnheit drängte sie auch nicht sofort ins Wasser, sondern setzte sich in einiger Entfernung von Valär und Jürg auf ein Mäuerchen, drehte ihnen den Rücken zu und vertiefte sich scheinbar in ein Buch. Auch als die beiden Mannsleute dem See zustrebten, und Valär ihr zurief, daß sie kommen solle, antwortete sie nur »gleich«, folgte ihnen indessen nicht, und als die beiden nach etwa zehn Minuten dem Wasser wieder entstiegen, war von Dinah überhaupt nichts mehr zu sehen.

Mit einemmal kam sie ihnen entgegengesprungen, abermals aus dem Haus, über die Platten der Gartenwege. In lustigem Schrittwechselsprung kam sie angetanzt, stampfend klapperten ihre Zoccoli auf den Fliesen, und dazu schwang sie die Arme wie zwei Flügelräder hoch durch die Luft. Aber sie trug nicht ihr neues Badekostüm, sondern ihren alten goldgelben Badetrikot aus einem Stück. Als sie bei ihnen angelangt war, fiel sie Valär um die Schultern und sagte atemlos, wie erlöst und doch auch ein wenig wütend dabei:

»Ich habe wieder den alten nachträglich angezogen. Ich glaube, ich eigne mich noch nicht zur jungen Dame.«

Unter dem Gelächter der andern trabte sie daraufhin davon. Sie sang und sprang in den See und erschien auch hintennach so unbefangen wie jemals.

Was die Eignung zur jungen Dame anging, schien ihre Meinung sich gegen den Herbst hin dann aber geändert zu haben. Denn vor ein paar Wochen hatte sie beim Donnerstagessen unvermittelt zu Valär gesagt:

»Mann, schenk mir ein Ringlein, schenk dir ebenfalls einen Ring, schenk uns beiden die gleichen, zwei glatte, weißt du, und ohne Stein, gravieren lassen tun wir sie später. An Ostern gehe ich in eine Haushaltungsschule und dann heiraten wir. Vor hundert und hundertfünfzig Jahren haben die Mädchen fast alle das auch schon in meinem Alter gemacht, und ihre Männer sind 319 meistens viel älter gewesen. In der Literaturgeschichte haben wir das erst neulich gehabt. Aber ich habe die Literaturgeschichte jetzt satt. – Bitte, schenk mir ein Ringlein!«

Er hatte ihr eins geschenkt, aber ein Ringlein mit einem Stein, und auch dieses Geschenk war willkommen gewesen. »Ich bin millionisch stolz«, hatte sie ihm versichert. –

 

»Gut ist der Wein!« sagte Saxer abermals und setzte die Kachel ab. Er hatte sie diesmal nur zur Hälfte geleert, er hatte auch nicht alles geschluckt. Aus seinen Mundwinkeln tropfte es wie aus einer über dem Sauftrog auftauchenden Pferdeschnauze, und fädige Bahnen rannen ihm über das Kinn, ohne daß er es merkte. Die Kachel stellte er auf seine Schenkel und hielt sie dort fest. Die Sonne war hinter einer großen Wolke verschwunden.

»Aber warum heiraten Sie nicht, wenn das Mädchen Sie will?«

Valär zog seine Pfeife aus dem Sack, stopfte sie und erzählte, warum das nicht ging. Er erzählte, weil er Saxer vom Trinken ablenken wollte. Er erzählte, um die Zeit zu vertreiben, bis Lily kam. Hoffentlich ließ sie nicht mehr lang auf sich warten.

Aber Saxer trank weiter. Noch zweimal hob er die Kachel zum Mund, während Valär erzählte, und als er sie zum zweiten Mal auf seine Schenkel setzte, war sie abermals leer.

Valär war entschlossen, ihm nichts mehr zu geben, falls er noch mehr zu trinken verlangen sollte. Denn er sah, daß der Wein wirkte. Er stieg Saxer zu Kopf. Aber . . . er stieg ihm nicht in die Augen! – und später, viel später mußte Valär noch oft und oft daran denken, daß dies eine große und zugleich sehr grauenhafte Entdeckung war. Ich habe nüchterne Augen und versoffene Augen und besoffene Augen gesehen, dachte er bei sich selbst. Aber diese blinden Augen da blieben unberührt von dem Wein, so unberührt wie die Knöpfe an seinem Rock, und das war ein ganz entsetzlicher Anblick. Rund um die Augen war alles weinseliger Dusel oder auch schon regelrechte Betrunkenheit. Ueberall war der Alkohol eingedrungen und machte sich in dem Gelände, das nicht mehr verteidigt war, wichtig und breit. Unter der Nase schwitzte 320 er auch wieder, der Mann, und zuweilen blähte sich der dicke kurze Hals, als bekäme er nicht genug Luft.

Nur in die Augen hatte der Alkohol keinen Zugang gefunden. Sie waren nicht nüchtern und nicht betrunken. Sie waren einfach ausgeschaltet und tot, und jetzt erst, wo die Umgebung in alkoholischer Seligkeit schwamm, jetzt erst sah man und spürte man, was dieses Totsein bedeutete. . . . Überhaupt sah der Mann aus, als säße er da mit abgeschlagenem Kopf, und hielte den Kopf mit beiden Händen im Schoß, und der Kopf wartete, rot vom Wein, was nun weiter mit ihm geschähe . . .

»Und das andere Mädchen – es war doch noch ein anderes da«, fragte Saxer aus seiner Ecke, als Valär schwieg, »– die Langbeinige, die Dinah nicht leiden kann: sagt die auch, daß sie Sie heiraten wolle?«

Saxer sprach mit einemmal schwer und verwundert, wie jemand, der eine klebrige Zunge hat, und als er versuchte, sich aus seiner Ecke loszumachen, schwankte sein Oberkörper nach vorn und dann wieder nach hinten. Aber sein Geist war wach; wie hätte er sich sonst daran erinnern können, daß Valär ganz beiläufig noch von einem zweiten Mädchen gesprochen hatte?

Auch ein gewisses ängstliches Nichtverstehen zeigte sich plötzlich in Saxers Gesicht. So junge Geschöpfe, ihre Manieren und Sorgen schienen ihm unvertrautes Gebiet zu sein; es war Dschungelwildnis, in der man auf Schlangen trat, wenigstens für einen Mann seiner Art. Die Folge war, daß er sich genau so blind und unsicher fühlte wie vorhin beim Abstieg über die Treppe. Dennoch forschte er weiter, interessiert, nicht neugierig, sondern beklommen, besorgt, die Besorgnis umnebelt von Trunkenheit, und dennoch beseelt von dem Wunsch zu erfahren, wie Valär daran war nach dem Unglück mit Rosa, und was hinter dem ›Doch‹ sich verbarg.

Da Lily noch immer nicht kam, und Saxer an seinen Lippen leckte, als hätte er schon wieder Durst, erzählte Valär auch von Nele.

Er schickte sich eben an zu berichten, was Rosa für Nele getan, da hörte er Schritte. Auch Saxer hörte etwas. Dann sah man Lily unter den Hügelstämmen rasch näher kommen.

»Herrje, was ist das?« rief sie entgeistert, noch bevor sie bei 321 ihnen war, und schlug die Hände zusammen und blieb stehen, wo sie stand. Dann lachte sie, als sie die buntgeringelten Kacheln sah, eine auf der Bank bei einer Flasche, die andere im Schoß ihres Mannes, von seinen Händen krampfhaft dort festgehalten, – vielleicht fühlte auch sie sich plötzlich an den kleinen klapprigen Küstendampfer erinnert, der sie nach Carciovasso getragen hatte, über das tiefblaue griechische Meer.

»Hab ich's nicht gesagt?« krähte Saxer in seiner Ecke und schnippte seinen Hut mit einer entzückten Bewegung halbseits in den Nacken. »Hab ich nicht gesagt, sie wird Augen machen?«

Jetzt erst tauchte Saxer für Lily aus dem Ensemble von Kacheln, Bank, Flasche und farbigem Herbstlaub als Einzelperson hervor, wurde zur Hauptfigur, und als sie sah, wie er sich schwankend erhob, war sie gelähmt vor Entsetzen.

»Ein Bacchanal!« erläuterte Saxer. »Mein Kopfweh haben wir weggetrunken. Griechenwein! . . . Silen, Wein, Ares und Nymphen, zur Zeit alle abkommandiert nach der Ostschweiz in Saxers Park . . . Weißt du, was Nymphen sind? Nymphen sind Nymphen. Und der Kriegsgott dort«, sagte er, eine Bewegung nach Valär machend, »der hat gleich zwei, jawohl, – und eine kann die andere nicht leiden. Immer ist's so. Aber uns regt das gar nicht auf, – nein, nein, nein, nein, gar nichts macht uns das aus, nicht wahr, Valär? – wir wissen sogar, welche von den beiden wir heiraten sollten.«

»Wissen wir das?« fragte Valär erstaunt.

»Die, die ›Mann‹ zu Ihnen sagt. Die hat's erfaßt. Das ist die rechte! Auch sie spürt die Reihe. Die Illusionen sind es, Valär, das ist's, was sie spürt. Aber auch die zweite soll leben. Schenken Sie ein! Trinken wir jetzt auf die zweite!«

»Ich würde vorschlagen, daß wir jetzt langsam nach Hause gehen«, sagte Lily, sich sanft an ihn drängend, und griff nach der Kachel in seiner Hand. »Es wird kühl allgemach. Herr Valär und ich haben keine Mäntel dabei, und wenn du durchaus noch trinken willst, kannst du auch daheim weitertrinken. – Weißt du überhaupt noch, wer du bist?« jammerte sie, von einem plötzlichen Elend übermannt, und versuchte ihm die Kachel mit Gewalt zu entwinden. 322

Aber er gab die Kachel nicht her, und auch Valär versuchte vergebens, Saxer von seinem Vorhaben abzubringen.

»Pst, keine Anwendung von Gewalt, eingeschenkt und Friede auf Erden! Es gibt nicht viel, ihr Leute, was man tun kann für einen andern, wenn's darauf ankommt, daß man ihm eine Freude macht, an der er vor Leid nicht erstickt«, wehrte er sich und schien mit einemmal wieder nüchtern zu werden. »Friede also und eingeschenkt! Auch eingeschenkt ist ein Wort mit Gewicht, nicht nur Herbst oder fortgeflogen. Nur noch einen kleinen Schluck! Eine große Reise macht er mit, dieser prächtige Wein – nur noch ein Schlückchen! Dann gehen wir heim.«

»Gut«, lenkte Lily ein. »Herr Valär gießt dir ein, ihr stoßt an, und dann brechen wir auf. Wirst du mir verzeihen, daß ich dich für betrunken hielt?« fragte sie, setzte ihm den Hut gerade und wischte ihm mit ihrem Tüchlein zärtlich den Schweiß vom Gesicht.

»Alles verzeihe ich«, murmelte er. »Ich weiß, daß mein Benehmen nicht ganz das Richtige ist. Macht alles nichts. Später wirst du es trotzdem verstehen.«

Dann stießen sie an. Er trank und trank abermals leer. »Gut!« nickte er schwer und reichte Lily die Kachel. Dann fragte er, ob noch etwas in der Flasche sei, und als Valär bejahte, sagte er abermals ›gut‹ und verlangte mit leiser Stimme, daß man sie ihm gäbe.

»Was willst du damit?« fragte Lily, von neuem ängstlich werdend.

Er erwiderte ruhig: »Du wirst es sehen.«

Nach diesen Worten stellte er sich breitbeinig hin und streckte den rechten Arm waagrecht aus, in Erwartung der Flasche. Er wurde jetzt wieder ganz blau im Gesicht, aber er stand ohne zu wanken. Der Ausdruck seines Gesichtes war seltsam fern.

Valär nickte Lily zu, brachte die Flasche und gab sie Saxer in die geöffnete Hand:

»Die Flasche ist hier, Herr Saxer.«

»Danke!« kam es zurück. Dann öffnete sich Saxers Mund abermals, ein horchender Ausdruck kam in sein Gesicht, und er kippte die Flasche. Als der Wein dann aus der Flasche floß und er ihn auf den Boden aufklatschen hörte, bewegte sich sein Mund abermals, und er sagte wie ein Priester: 323

»Den Göttern! . . . Ein prächtiger Reisegefährte!«

Doch bevor der Wein ganz verschüttet war, entglitt die Flasche seiner erschlaffenden Hand; sein Arm fiel herab, sein Kopf fiel herab, und der Mann sackte lautlos in sich zusammen, als hätte jemand mit einem Prügel ihm die Beine unter dem Körper mit einem Hieb weggeschlagen. Am Boden liegend, verfärbte er sich. Aber die Augen schlossen sich nicht. Erst später begann er zu stöhnen.

Außer Valär waren zwei starke Männer nötig, einer der Gärtner und der Chauffeur, um Saxer über den weiten Weg durch den Park in sein Zimmer zu tragen. Zwei trugen hinten, einer vorn zwischen den Beinen. Man entkleidete ihn und tat ihn ins Bett. Er atmete weiter, aber das Bewußtsein blieb weg. Der Arzt, der bald zur Stelle war, sagte: Schlaganfall mit Lähmung der rechten Körperseite. Das hatten die Männer, die Saxer vom Parkhügel in sein Zimmer trugen, auch schon gedacht. Denn sein rechter Arm und sein rechtes Bein waren nur noch eine widerstandslose schwere Masse gewesen, die mit dem Körper einzig darum noch zusammenhing, weil sie nicht abfallen konnte. Im ganzen sah der Arzt Saxers Zustand als sehr bedenklich an. Der Schlaganfall, meinte er, könne sich schon in nächster Zeit jeden Augenblick wiederholen, was der Patient kaum überleben würde. Schon ein Aderlaß in diesem Augenblick schien ihm gewagt. Dennoch machte er einen. Inzwischen hielt die Bewußtlosigkeit an.

Jetzt bekam Lily solche Angst, daß sie Valär inständig bat, sie nicht zu verlassen und wenigstens über Nacht dazubleiben. Auch Rosa möge er, bitte, telephonisch in Kenntnis setzen. Man erwarte sie morgen. Lily selbst schickte ihr Auto weg nach einer Krankenschwester, die schon früher die Pflegerin Saxers gewesen war.

Ueber Nacht kehrte Saxers Bewußtsein zurück, und es zeigte sich, daß sein Geist nicht gelitten hatte. Sein Kopf war klar. Auch sein Sprachvermögen war unversehrt. Er war nur sehr matt. Mit seinem Zustand fand er sich nicht sofort zurecht, und man mußte ihm alles erzählen. Er nickte, sagte nichts und verlangte ein Glas Champagner. Man gab es ihm; er schlief wieder ein.

Rosa erschien schon während der Nacht in ihrem Wagen. Valär und Lily waren noch auf. 324

Als Rosa, von Valär am Eingang zum Haus begrüßt und von ihm begleitet, das Zimmer betrat, in dem Lily und Valär es sich bequem gemacht hatten, und Lily sich erhob, bemerkte Rosa sofort, daß Lily hochschwanger war. Abermals hatte Lily nichts getan, um ihren Zustand zu verbergen.

Wie angewurzelt blieb Rosa auf eine Entfernung von drei, vier Schritten vor Lily stehen. Ihre Arme sanken an ihr herunter und sie entfärbte sich. Dennoch war in ihrem Antlitz ein Ausdruck, als ob sie darauf gelauert hätte, das, was sie jetzt sah, zu sehen. Der Ausdruck war katzenhaft, hochgespannt, bitter, wissend, ironisch.

»Also doch – das ist's!« sagte sie langsam.

»Gewiß, das ist's«, sagte Lily.

»Deswegen hab ich nicht kommen dürfen«, fuhr Rosa fort.

Lily schwieg.

»Dann kann ich ja sofort wieder gehen,« sagte Rosa. Sie drehte den Kopf nach Valär und blickte dann wieder nach Lily.

»Wie du willst«, erwiderte Lily. »Wenn es dir nur wichtig war, das zu erfahren, was du jetzt weißt, kannst du wieder gehen. Wenn dir dagegen wichtig war, deinen Vater noch einmal zu sehen, kannst du auch bleiben.«

»Ich werde bleiben«, entgegnete Rosa.

»Gut, dann könnte ich dich ja jetzt zu ihm begleiten«, mischte sich Valär ein. »Meistens schläft er, dein Vater. Aber gerade eben, als ich dich abholen ging, kam die Schwester heraus und sagte mir, er habe den Wagen kommen hören und habe gefragt, was das sei.«

»Bitte, ich bin bereit«, sagte Rosa.

»Dort!« sagte Valär und wies nach der Türe, durch die sie gehen sollte, und ging voraus, um die Türe zu öffnen.

Lily blieb zurück.

»Grüß Gott, Vater!« sagte Rosa an Saxers Bett, nachdem sie das, was von ihm zu sehen war: den Kopf auf den Kissen und die beiden auf der Decke liegenden Hände eine Weile betrachtet hatte.

Saxer nickte. Seine Augen blieben geschlossen.

»Erkennst du mich?«

»Rosa«, murmelte er. 325

»Vater, es tut mir so leid um dich!« hub Rosa nach einer Weile von neuem an.

Saxer schüttelte schwach den Kopf. »Es braucht dir nicht leid zu tun. Es ist bald vorüber.«

»Es tut mir aber doch leid«, sagte sie und streichelte über seine reglosen Hände.

Er schwieg. Seine Augenlider öffneten sich. Dann gingen sie wieder zu.

Rosa beugte sich näher zu ihm. »Ich weiß nun auch, weshalb ich nicht kommen durfte.«

Saxer nickte. »Es ist gut, wenn du es weißt.«

»Findest Du?«

»Schweig!« befahl Valär im Flüsterton und versuchte sie wegzuziehen.

Sie stieß ihn fort. Im nächsten Augenblick beugte sie sich noch näher über Saxers Gesicht und sagte mit einer Ruhe, die Valär eine Gänsehaut über den Rücken trieb:

»Ja, aber dein Kind ist es nicht! Der Abgottspon hat's ihr gemacht, der Riese, weißt du! Der Mann, der von den Göttern abstammt! Das wollte ich dir noch schnell sagen.«

Saxer hatte, während sie sprach, die Augenlider wieder geöffnet und prompt erwiderte er, ebenso unerschütterlich ruhig wie sie und vollkommen klar bei Verstand:

»Genau das habe ich von dir erwartet gehabt. Aber so etwas sagen, das ist gar nichts, Rosa, gar nichts ist das. Es im rechten Augenblick sagen – das ist's, darauf kommt's an. Diesen Augenblick hast du verpaßt. Du sagst es zu spät. Ich stehe schon jenseits des Grabens, seit einer Weile schon, und jenseits des Grabens, da ist eine Welt, in der die Götter von jeher die Menschen in dieser Sache vertreten haben.«

Damit legte er den Kopf auf die Seite.

Inzwischen hatte Valär Rosa erbarmungslos an der Schulter und um die Taille gepackt und zerrte sie nach der Türe:

»Hinaus mit dir!« zischte er außer sich. »Siehst du nicht, daß hier ein anderer befiehlt? – A, so eine Hexe!« – Unter der Türe gab er ihr wirklich einen Rippenstoß, so daß sie fast in die Knie 326 sank, und als er sie auf dem Korridor hatte, gab er ihr einen zweiten.

Da begann sie zu heulen, und während sie sich in einen Stuhl fallen ließ, der grad vor ihr stand, sagte sie unter stürmischem Schluchzen:

»Mein Vater war er, nicht deiner – so gut wie du weiß ich, was sich gehört – mein Vater war er! Freude hat es mir keine gemacht, als ich es sagte. Aber ich habe es mit reinem Gewissen gesagt. Und ich würde es noch einmal sagen, wenn ich in die gleiche Lage käme. . . . Ich würde ihn auch nicht mehr lebendig machen, selbst, wenn ich es könnte.«

»Schweig!« sagte Valär und hielt sich die Ohren zu. »Schweig, schweig, schweig, schweig!«

Saxer starb gegen Morgen.

Eine Woche darauf wurde Valär amtlich mitgeteilt, Saxer habe ihn testamentarisch zum Vormund seines noch ungeborenen Kindes ernannt.

 


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