Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XXXVII.

Und Nele?

Manchmal beginnt etwas, und in kurzer Zeit ist es auf seinem Gipfelpunkt angekommen. Es gibt keine Steigerung mehr. Dieses aber, was da begonnen hatte, zwischen Valär und Nele, das war noch nicht dem Lauf des Sonnenungetüms zu vergleichen, den niemand aufhalten kann, oder dem Stoß eines Habichts nach seiner Beute. Es war nur ein Ball ins Rollen geraten, auf einem Gelände, das unregelmäßig gefaltet und nicht sehr abschüssig war, und jetzt war der Ball an einer kleinen Unebenheit hängengeblieben. Dort lag er still. –

Zu Beginn des Sommers, als Valär aus dem Militärdienst zurückgekehrt war, und Heidi das Sanatorium mit ihrem Gezwitscher noch füllte, wurden die Erdbeeren an den Waldrändern reif, und in den Fichtenwipfeln schetterten und schalten die Elstern mit ihren Jungen. Valär hatte ein ganzes Sträußlein der kleinen und leichten, blumenartig duftenden Früchte gepflückt; sie zitterten an ihren dünnen nickenden Stengeln und waren rosig und zugespitzt wie die rosigen Zäpfchen auf der Brust eines Mädchens, das leicht erregt ist. Das Sträußlein war für Nele bestimmt, und Valär war fest überzeugt, daß sie kommen werde, abermals an die durch den Mörderbock geheiligte Stelle, folgend ihrem Gefühl und den Stimmen der Erinnerung, die sie riefen. 378

Denn Nele wußte, daß er zurückgekehrt war. Er hatte es ihr nicht gemeldet. Aber als er im Wagen bergauf zu seinem Häuschen fuhr, etwas später als üblich, war sie in der Gegenrichtung an ihm vorbeigesaust, auf einem Rad, in Begleitung eines jungen Mädchens und eines jungen Mannes, denen sie folgte. Sie hatte ihn im Vorübereilen erkannt, und sich umkehrend auf ihrem schmalen Sitz, für eine Sekunde nur, hatte sie mit jäh emporfliegendem Arm sich ihm bemerkbar gemacht, bevor sie von der nächsten Biegung verschlungen wurde. Nele mußte sich denken können, daß er hier auf sie warte.

Aber Nele kam nicht. Alles mögliche ereignete sich. Eine armlange Ringelnatter schlich züngelnd durchs Gras und fing sich ein Mäuslein. Ein Mutterreh trat aus dem Wald, sichernd, im Abstand gefolgt von einem Kitz, und führte es an einen Haferacker. Dort ästen sie. Und die Kleinbahn schrie von jenseits des Höhenrückens herauf, als wäre sie allein groß auf der Welt und müßte alle wissen lassen, daß sie kam, mit ihrem Gerenn und Geschnaufe. Wie schön war das Warten, wenn man sich seiner Sache so sicher fühlte wie er!

Aber Nele blieb aus.

Auf dem Heimweg begegnete er Rosa, die von irgendeiner Feldbesichtigung kam, grad als müßte es sein.

»Oh, komm doch mit mir zum Abendessen«, sagte Rosa. »Ich bin ganz allein.«

»Ich denke, das bist du immer?«

»Augenblicklich nicht, seit Wochen nicht mehr«, erklärte Rosa mit einer sonderbar betonten und umständlich-steifen Wichtigkeit. Sie habe ihr Gastzimmer aufgeschlossen, und dort wohne jetzt Freddy, ihr Stiefsohn, der Buchhandlungsvolontär, der junge Streiff.

»So!«

Ja, aber heute sei er nicht hier. Es sei ja so herrliches Sommerwetter. Sie habe die jungen Leute deswegen zusammen auf eine Radtour geschickt – ihn, Heidi und Nele –. »Macht, daß ihr mir aus den Augen kommt«, habe sie zu ihnen gesagt, »und laßt euch den Wind um die Nasen wehen und steht mir nicht in zwei 379 Stunden schon wieder da« – und vergnügt wie die Schwalben seien sie daraufhin losgezogen: Richtung Vierwaldstättersee. Irgendwo würden sie übernachten. Morgen abend kämen sie wieder heim.

Rosa blickte ihn aus ihren grünen Augen forschend an; eine Wolke von Bosheit lauerte auf ihrer Stirn, und er glaubte erraten zu können, was sie in seinem Gesicht suchte. Aber er gab ihr den Blick mit größter Ruhe zurück und erwiderte, nicht ohne Spott:

»Schau, schau! Das war also der Freddy . . . Ich habe sie an mir vorbeiradeln sehen. Ganz so unwiderstehlich wie sein Vater erschien er mir allerdings nicht. Auf dem Rad sah es aus, als ob er X-Beine hätte.«

Rosa lenkte ab:

»Es handelt sich nicht um das. Es handelt sich einfach darum, daß er mehr an die Luft kommt und nicht Portiönchen ißt wie ein bleichsüchtiges Mädchen. Aber wie soll's auch anders sein bei dem Leben, das er führt – sag selbst! Zuerst acht Stunden Ladendienst und Büro und hintennach abermals nichts als Literatur, Kunst und Theater, nur gemessen mit einem andern Maß, nicht mehr als Ware. Den stärksten Menschen bringt das ja um . . .! Dabei war während der schlechten Jahreszeit nicht einmal viel dagegen zu tun. Man konnte ihm wirklich nicht zumuten, täglich zwischen der Stadt und hier hin- und herzufahren, nur damit er ein wenig ins Freie kam. Aber jetzt ist ja der Winter seit einer Weile vorbei, und das tägliche Hin und Her ist für einen jungen Menschen keine Zumutung mehr. Ich habe ihm deswegen meinen alten Fiat geschenkt. Abends fährt er heraus und morgens hinein, und nun ist's schon viel besser. Auch mit den Mädchen hat er sich angefreundet, und das ist mir ebenfalls lieb, auch für Nele.«

Rosa schwieg. Sie schüttelte ihr rotes Haar, als stünde sie in der Arena, mit einem roten Tuch in der Hand, das den Stier reizen sollte. Und der Stier, das war Valär, und Valär sah ihr an, daß sie trotz der Ruhe, die sie äußerlich wahrte, kaum erwarten konnte, was er auf diese Anspielung antworten würde.

Die Antwort blieb wirklich nicht aus. Sie kam sogar schnell. Er sagte, ebenso boshaft wie sie: 380

»Na, immerhin hat Nele ja dich.«

»Gewiß hat sie mich«, erwiderte Rosa ebenso prompt. »Ich bin jedoch eine ältere Frau und bilde mir nicht ein, für sie eine Erholung oder eine Zerstreuung oder eine Erfrischung zu sein. Im Gegenteil: ich bin überzeugt, daß für diese jungen Menschen der ausschließliche Umgang mit uns Aelteren nur schädlich sein kann. Ganz können wir ihnen doch nicht genügen, – du weißt das aus unserer eigenen Jugend, uns ging es ja ebenso. Oder hast du's vergessen?«

Da hatte er's! . . . Er spürte, wie ihn etwas zu würgen begann, und blickte betroffen auf seine Hand: wie gut, daß er das Erdbeersträußchen jetzt nicht mehr bei sich trug – er hatte die Beeren zum Glück hinten im Wald noch selber gegessen . . .

Sprach Rosa schon wieder? Er hörte, wie sie sagte:

»Bei Nele besteht außerdem die Gefahr, daß ihre Mutter sie vollständig einziehen und mit ihren verrückten Ideen verwirren könnte. – Andrea, stell dir bloß vor – neulich sagte diese Frau in Gegenwart ihrer Tochter: ›Bleiben Sie mir vom Leib mit der heutigen Jugend! Wie ich so alt war wie Nele, da hatte ich mich schon dreimal, viermal verführen lassen. Ich gehörte nicht zu diesem matten Geschlecht. Und die Jungens, die ich kannte, auch nicht.‹ – Zum Glück ist Nele recht unempfindlich gegen Ermahnungen dieser Art. Da sich die jungen Leute miteinander sehr gut verstehen, wird Nele wohl auch ganz von selbst dafür sorgen, daß sie an ihren freien Tagen dem Einfluß ihrer Mutter nicht allzuoft ausgesetzt ist. – Meinst du nicht auch?«

Nun hatte er gleich auch den zweiten Stich! . . . Als ihr Vater noch am Leben gewesen war, hatte er ihr gewisse Späherdienste rundheraus abgeschlagen. Nun rächte sie sich und zahlte ihm heim dafür: mit vielen kleinen giftigen, weiblichen Stichen, und suchte sich dafür eine Stelle, wo sie ihn verwundbar glaubte. Womöglich hetzte sie das Mädchen gar noch gegen ihn auf.

Aber nun war es genug. Er blickte sie an, von oben bis unten, mit unbewegtem Gesicht, und antwortete nur, mit einer Betonung, die nicht mißzuverstehen war: »Wahrhaftig! Gold bist du wert, Rosa!« 381

Sie hob eine Braue und ließ sie wieder sinken.

»Oh, du willst nicht mit mir zum Essen kommen?« entgegnete sie in fast flüsterndem Ton. »Schade, Andrea! Na, dann ein andermal, wenn du mit dir besser daran bist als jetzt!«

 

Obgleich Valär Rosa nicht jedes Wort glaubte, spürte er nach diesen Enthüllungen dem Mädchen nicht weiter nach. Auch Nele hatte offenbar ihre Verhinderungen. Aber zwei Wochen danach, am späteren Sonntagnachmittag, läutete es an seinem Tor. Er war gerade dabei, seinem Bruder Linus, der bei der Eidgenössischen Münzanstalt tätig war, einen Brief zu schreiben: ». . . Morgen bringe ich auch den üblichen Honigkessel für Dich und die Deinen zur Post. Die Ernte war der Menge nach mittelgut, aber die Qualität ist vorzüglich. Den leeren Kessel erbitte ich – –«

Nele stand da.

»Endlich!« rief sie. Von weit mußte sie dieses Wort nicht herholen. Es lag ihr ganz vorn im Mund, als ob es auf diesen Augenblick schon seit weiß wie lange gewartet hätte, und gleichzeitig mit ihrem weitausgestreckten Arm schob sie das Wort ihm entgegen. »Ich mußte doch wirklich einmal –«.

Valär sah sofort, daß Nele ganz von sich erfüllt war. Sie war noch nie bei ihm im Haus gewesen, das Zimmer und alles darin war ihr fremd, aber sie schien von ihrer gesamten Umgebung überhaupt nichts zu bemerken. Sie war da, er war da, und das genügte. Sie hatte gewisse unvorhergesehene Abhaltungen gehabt, und er hatte vor diesen Abhaltungen zurücktreten müssen. Selbstverständlich für sie, daß er deswegen nicht böse war. Aber im Augenblick gab es ja dergleichen nicht, nicht für sie und nicht für ihn, und das war gut. Immer noch hielt sie seine Hand, den Arm weit von sich gestreckt, die Schulter leicht nach hinten genommen, und auf ihrem Gesicht stand ein großes, glückliches, lautloses Lachen . . . Oh, richtig, auch ein Diwan war da. Erst als Valär sie aufforderte, daselbst Platz zu nehmen, wurde sie es gewahr. Mit einer jähen Bewegung wandte sie sich dem Möbel zu und starrte 382 es an. Es war in einen Rahmen von Bücherregalen eingebaut, war auffallend lang und auffallend breit, und als Valär sie bat, sich dort niederzulassen, tat sie es sofort. Immerzu stand dabei auf ihrem Gesicht das große, glückliche, lautlose Lachen. Als sie den zu einem großen Teil schon aufgegessenen Erdbeerkuchen entdeckte, der vom Vieruhrkaffee her noch auf einem Tischchen daneben stand, rief sie: »Oh, Erdbeerkuchen?«, und seiner Aufforderung folgend, griff sie sofort zu; sie nahm unter leisen jauchzenden Beifallsrufen ein Stück in beide Hände und aß es.

Offenbar war ihr jedoch mit ihren langen Beinen auf diesem niederen Sitzplatz nicht wohl. Denn sie hatte den letzten Bissen des Kuchens noch nicht geschluckt, da stand sie auf, bückte sich leicht vornüber und drehte sich ein wenig halbseits. Sie fuhr unter dem Rock mit ihrer rechten Hand am Schenkel entlang in die Höhe, brachte gleich danach aus unerforschten Gebieten ein Taschentüchlein hervor und wischte sich die Fingerspitzen mit dem Taschentuch ab. Danach wischte sie sich die Lippen ab, und dazu richteten sich hinter dem Tüchlein hervor ihre Augen auf sein Gesicht. Dann ging sie durchs Zimmer und setzte sich auf das Fenstersims, mit dem Rücken gegen den Garten. Das Fenster war offen. Sie trug ein weißes Musselinkleid mit zwei oder drei Rüschenkränzen am unteren Rand, weiße Halbschuhe und weiße Söckchen. Die langen nackten Beine wirkten zwischen dem Weiß sehr kraftvoll und braun. Ebenso braun waren die Arme. Auf ihrem Gesicht war nichts als Frische und Fröhlichkeit, und sie war gar nicht befangen. Bald würde sie mit den Absätzen laut gegen die Verschalung der Zentralheizung trommeln, die unter ihrem Sitzplatz dahinlief, dachte Valär.

Das tat sie nun allerdings nicht. Aber was sie erlebt hatte, seit ihrer letzten Zusammenkunft im Hause der Mutter, das sollte auch ihm gehören –, nicht nur ihr, sondern auch ihm.

Und sie erzählte. Vergnügt wie ein kleines silbernes Wiesenbächlein schoß es daher.

Zuerst erzählte sie von Brunos Dreitannenklub, der ohne sein Haupt immer noch fortexistierte, und von den jungen Leuten, die sie dort kennengelernt. Heidi hatte sie mitgenommen. Nicht jeder 383 war nach ihrem Geschmack. Aber mit einigen könne man sehr gut reden. Sie habe jedoch den Eindruck gehabt, daß Mädchen in diesem Kreis etwas Störendes seien, und sie war nicht mehr hingegangen. An Heidi waren die Burschen gewöhnt, jedoch nicht an sie – mit Heidi war's etwas anderes. Aber vielleicht ging sie doch wieder hin. Der Sohn des Apothekers hatte sie darum gebeten.

Dann kam sie auf die Radtour zu sprechen. Dabei ergab sich, daß bei dieser Veranstaltung die Gewürznelke auf dem Braten nicht Freddy gewesen war, sondern das Uebernachten in einer Jugendherberge. Freddy hatte eine Pension in einem Ort am Küßnachter Zipfel des Vierwaldstättersees für diesen Zweck ausersehen. Sie wurde von zwei älteren holländischen Damen geführt, die Kundinnen seiner Buchhandlung waren: wenn er in die Gegend komme, müsse er bei ihnen wohnen. Er hatte für den Aufenthalt bei diesen Damen auch bereits ein Abendprogramm aufgestellt: sie würden sich in einem Gartenwinkel am Fuße des Rigi niedersetzen, und er würde ihnen und den beiden holländischen Damen zum würdigen Abschluß des Tages etwas Schönes vorlesen – Hofmannsthals »Der Tor und der Tod.«

Heidi hätten sich alle Haare bei diesem Vorschlag gesträubt, berichtete Nele weiter. Erstens habe er während des Tages so schon genug geschwatzt. Zweitens laufe ihnen der Hofmannsthal nicht davon. Drittens wolle sie Studien machen, und beste Gelegenheit dafür sei das Uebernachten in einer sogenannten Jugendherberge, ebenfalls am Fuß des Rigi gelegen und direkt auf ihrem Weg. Sie hoffe, die gesamte proletarische Herrenwelt unter Zwanzig, die heute an ihnen vorübergeradelt sei, vom Ausläufer bis zum Werkstudenten, nebst ihren Damen, dort versammelt zu finden und allerlei zu erleben. Freddy willigte schließlich ein, weil er überzeugt war, sie sähen viel zu gut aus und auch viel zu erwachsen und würden deswegen weggeschickt. Das war jedoch nicht der Fall. Man nahm sie anstandslos auf, und sie zogen in der Herberge ein: achtzig Rappen das Lager und zwanzig die Feuerung.

Heidi sei denn auch ganz auf ihre Kosten gekommen und ein wenig sie auch. Denn nach der üblichen Abkocherei unter den 384 Bäumen habe dieser und jener seine Ziehharmonika aufgeboten, und dazu habe man im Freien getanzt. Ihr habe einer ihrer Tänzer erklärt, daß er sich ›bäumig‹ aufs Tauchen verstehe, und sie sei ein ›bäumiges‹ Mädchen, und morgen werde er sie alles zum Tauchen Nötige lernen. Er war Lehrling in einem Spenglergeschäft. Ein anderer erzählte ihr, wie viele Goals er in diesem Jahr für seinen Klub schon geschossen habe, und lud sie zum nächsten Fußballspiel ein; ein dritter war Kommunist und trat ihr beim Tanzen fortgesetzt auf die Füße – oh, es war alles sehr nett.

Aber dann später im Haus – herrje! Sie wisse wirklich nicht, wie sie sich ausdrücken solle. Betten habe es natürlich keine gegeben und auch keine Zimmer. Man bekam ein Strohsacklager in einem langen Saal und eine wollene Decke dazu, und die Geschlechter waren natürlich getrennt. Auch insofern herrschte Ordnung im Haus, als um zehn Uhr alle ihr Lager aufgesucht haben mußten. Aber jedesmal, wenn sie meinte, jetzt könne sie schlafen, habe sie etwas herumtappen oder knarren oder flüstern und kichern gehört, daß sie sich gar nicht denken konnte, was los war, bis sie von Heidi aufgeklärt wurde. Während der ganzen Nacht sei dieses Gelaufe und Geschleiche von einer Abteilung zur andern fortgegangen. Einmal habe einer sogar Heidis Decke wegzuziehen versucht. Aber er habe mit der Decke auch ihren Strohsack erwischt. Heidi hatte geahnt, was kommen würde, hatte die Decke mit Nadeln an den Strohsack geheftet und war schon längst vorher bei ihr untergekrochen. Natürlich war von Schlaf keine Rede. Bei Tagesgrauen hätten sie daher die Herberge verlassen und im Freien eine Suppe gekocht. Auch Freddy sei ganz zerschlagen erschienen. Es sei beinahe kalt gewesen, und sie seien sofort weitergeradelt, um sich zu erwärmen. In Vitznau hätten sie die Räder untergestellt und seien mit dem Bähnchen auf den Rigi gefahren. Dort hätten sie endlich ein paar Stunden geschlafen. Auch der Rest des Tages sei schön verlaufen. Aber eine Jugendherberge: – nie wieder!

Nele setzte voraus, daß ihn das alles genau so interessiere wie sie – im Grund fand er sie viel jünger, unbeschwerter und 385 kindlicher als früher. Das war nicht die Nele des Weihnachtsspaziergangs, die bestürzt gewesen war über das Kriegsgeflüster, »weil man mit Kriegen doch keine besseren Menschen macht«, und die er mit einem Vortrag darüber, daß das Uebel ein ebenso notwendiger Bestandteil des Weltganzen sei wie das Gute, notdürftig über ihren Kummer hatte hinwegtrösten müssen. Es war auch nicht die Nele, die ihre Mutter für ihr loses Geschwätz warnend zurechtgewiesen hatte mit dem lapidaren Satz: »Mutter, du bist dir hoffentlich klar darüber, daß ich nichts zu tun habe mit dem, was du soeben gesagt hast? Nichts, Mutter, gar nichts?« . . . Ebensowenig war diese jetzige Nele identisch mit jenem schmerzlich erregten, in allen Adern glühenden Mädchen, das sich ihm jäh an den Hals geworfen hatte, mit einer wilden Umarmung, in diesem Frühling dahinten im Wald. Die jetzige Nele hatte alle jene früheren von sich distanziert und hatte damit auch die Beziehung zu ihm verschoben. Während er sie ihr Garnknäuelchen abspulen ließ, kam er sich selber mehr und mehr vor wie ein Vater, der seiner etwas verspätet heimkehrenden Tochter dadurch eine Freude bereitet, daß er sie ihre kleinen, harmlosen und doch so wichtig genommenen Erlebnisse geduldig ausbreiten läßt, und es kam ihm auch vor, daß sie ihn so nahm.

Oder doch nicht?

Neles honigfarbige Augenkerne lagen oft so sonderbar dicht in den Augenwinkeln, wenn sie während ihrer Erzählung plötzlich zu ihm hinüberblickte, so unheimlich ziehend und sinnlich lockend zum Spiel, daß er alle jene Gedanken, die ihn ja nicht glücklich machten, wieder verwarf. Gleichzeitig erfaßte ihn jedesmal ein so rasendes körperliches Verlangen nach ihr, daß er nur noch ihre weich abfallenden Schultern sah, die warmen kräftigen Glieder und das steile spitze Gedräng ihrer Brüste unter dem Kleid. Am liebsten hätte er sie dann an sich gerissen und weggetragen, hinaus in den Wald.

Daß es so mit ihm stand, verstimmte ihn gegen sich selbst. Und mit einemmal wußte Valär nicht mehr, was er mit Nele anfangen sollte. Bisher war zwischen ihm und ihr alles so glatt und selbstverständlich gegangen; eins hatte sich folgerichtig aus dem andern 386 ergeben. Jetzt war ihm zu Mut, als hielte er in der Hand einen Würfelbecher, und er wußte gut, daß kein Wurf, wie viele er nacheinander auch täte, in seinem Ergebnis mit den vorausgegangenen Würfen in Zusammenhang stand. Es entging Valär auch nicht, daß er allmählich einsilbig wurde, und daß in Neles Verhalten etwas Zögerndes kam. Ein wenig matt saß sie auf ihrem Fensterbrett und beobachtete ihn mit großen unsicheren Augen. Oft blickte sie ziellos zu Boden, und irgend etwas ließ auch sie mit Worten sparsam und sparsamer werden. Auch ihren Bewegungen teilte sich das Zögernde mit: sie wurden unfrei und steif.

Und doch konnte er Nele keinen Vorwurf machen. Sie war – wenigstens faßte er es so auf – ja nur gekommen, um ihm auf die ihr augenblicklich am nächsten liegende Art zum Bewußtsein zu bringen, daß ihre Anhänglichkeit an ihn weiterdauerte: gerade so, wie sie seine weiterdauernde Anhänglichkeit als etwas ganz Selbstverständliches annahm. Er mußte von ihnen beiden auch der Klügere sein. Er riß sich daher zusammen, zeigte ihr sein Haus, den Garten, seine Bienen, den See. Er ruderte sie in seinem Boot nach der andern Seite und begleitete sie noch ein Stück weit nach Hause.

Aber auf dem Heimweg tat ihm etwas weh.

 


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