Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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V.

Schon im Frühzug, der ihn am folgenden Tag nach der Stadt zurückbrachte, erfuhr Valär, daß das Preisgericht zu seinen Gunsten entschieden hatte. Das Urteil stand in der Morgenzeitung. Unter 46 78 Bewerbern war er mit seinem Projekt nahezu einstimmig als Sieger hervorgegangen. Eine zahlenmäßig stärkere Konkurrenz hatte er nur einmal zu bestehen gehabt, aber noch nie hatte ihm eine Bausumme von so vielen Millionen für ein einziges Objekt zur Verfügung gestanden. Die Kommission wünsche zwar noch einige kleine Abänderungen, hieß es in dem Vorbericht, aber sie würden die innere und äußere Grundgestalt des außerordentlichen Entwurfs nicht berühren. – Nun, diese Formel kannte er, und sie brauchte ihn nicht aufzuregen. Es war der landesübliche Tupfer, den aus Gründen der Parität jeder irgendwo oben Hinausschwingende versetzt bekam, damit ihm der Kamm nicht allzustark schwoll. In dieser Stunde fühlte er nur, daß er sich durchgesetzt hatte, sogar gegen die mächtig aufkommende Jungmannschaft, und das war ihm genug.

Schon vor dem Verlassen der Bahnhofshalle empfing Valär die erste Gratulation. Ein bereits grauhaariger Architekt, den er als Vertreter der konservativen Richtung aufrichtig schätzte, ein jederzeit sehr ernst zu nehmender Konkurrent, der diesmal allerdings nur im vierten Range gelandet war, kam in voller Bergausrüstung und unverkennbarer Durchbrennerlaune mit einem »Hallo« auf ihn zu, riß die Pfeife aus dem Mund, streckte ihm seine knochige Tatze entgegen und rief:

»Valär, das haben Sie sehr gut gemacht – ich gratuliere und trete neidlos vor Ihnen zurück. Wissen Sie auch, warum ich das sage? – Weil Ihr Projekt weit über die Grenzen seiner Bestimmung hinausgreift. Es ist nicht nur für sich selbst etwas vorbildlich Schönes und Ueberzeugendes, sondern gibt auch die Richtung für Künftiges an. Wir alle haben nur Einzelgänger- oder Liebhaberwerke zustand gebracht und sind mit unserer Weisheit im Monologisieren steckengeblieben, teils im anständigen, teils im öden. Ihr Projekt aber wirkt organisierend, auch auf das, was noch gar nicht ist.«

Ein solches Lob aus solchem Munde wog viel. Ein größeres hätte er seinem Gefühl nach gar nicht empfangen können. –

Im Büro fand Valär seinen Arbeitsplatz mit Blumen geschmückt. Luise trug ein festliches Kleid, und Hauri hielt im Namen des 47 Personals eine kleine humorvolle Rede. Valär dankte damit, daß er sie alle zu einer Wochenendfahrt auf den Rigi einlud. Auch einem Pressephotographen mußte er noch zu Gefallen sein. Dann unterhielt er sich telephonisch mit Brunos Vater, und dieser versprach, am Abend mit seiner Frau in die Stadt zu kommen, um das frohe Ereignis mit dem Freunde zu feiern.

In diesem Augenblick kam noch ein Strauß, diesmal ein Strauß aus Flaschen, in einem mit Bändern und Früchten geschmückten, wannenartigen Henkelkorb, auch als Schutenhut zu gebrauchen: wie appetitlich – und was für Marken! Valär riß das begleitende Briefchen auf: aha, Alma Studer! Sie schrieb, daß ihr Mann ihn heute früh von fern gesehen habe, er sei also zurückgekehrt: welche Freude! Sie erwarte, ihn morgen mittag zum Martinigans-Essen bei ihrer Mutter zu sehen.

Erwarte! Was für eine Sprache! Bildete sie sich wirklich ein, er lege Wert darauf, ihr vierter Mann zu werden? Danke für Masern! Offenbar war ihr nicht wohl, wenn ihr in ihrem Kopf nicht ein wenig schwindelig war.

»Soll der Bote etwas bestellen?« fragte Luise.

Er zerriß das Kärtchen. »Nein!« sagte er.

 

Doktor Wilhelm Elmenreich, um einige Jahre älter als Valär, war ein großer, neuerdings ein wenig zur Schwere neigender Mann mit großem, auffallend blassem Gesicht und wundervoll blauen Augen. Der Blick dieser Augen war immer leicht verwundert und wie mit einem strahlenden Gemisch von tiefer Besorgtheit und warmem Zuspruch erfüllt. Manchmal bemerkte man in ihnen auch einen Zug leiser Melancholie. Es war eine sanfte Schwermut von jener dem andern nie beschwerlich fallenden, lautlos schwebenden Art, wie sie das Bewußtsein der Unvollkommenheit aller menschlichen Dinge erzeugt. Er ging ganz auf in seinem Beruf, und niemals hätte er es fertig gebracht, angesichts fremder Not seiner eigenen Bequemlichkeit etwas zu schenken.

Seiner Frau Nany imponierte diese Berufsleidenschaft sehr, aber sie begriff nicht, weswegen, und daher fiel sie ihr immer wieder 48 zur Last. Wenn in einem Frauenkonvent die Eigenschaften der eigenen Männer wie Wäschestücke herumgereicht und begutachtet wurden, so sang sie zwar in hellsten Tönen sein Lob. Aber im Grund war ihr die Treue, die er seiner Pflichtauffassung hielt, mehr als einmal recht unbequem, und diese Unbequemlichkeiten schätzte sie nicht. Wenn er sich's nur leichter machte! Es war ihre ewige Klage.

Als Valär sie einmal deswegen neckte, erwiderte sie:

»Ich bin nicht in einer solchen Atmosphäre von Schwerblütigkeit und Opfersinn aufgewachsen wie er. Bei uns spielte man sich so . . . so mit Herzklopfen durch – ach, es war arg, darfst du mir glauben, und die schlimmste war ich. Von Rechts wegen hätte Wilhelm ja auch meine Schwester bekommen sollen, nicht mich. Sie hätte seine Art mehr zu schätzen gewußt. Aber ich kam ihr zuvor, und nun muß ich's auch haben.«

Alles das stimmte. Elmenreich hatte ein Semester seiner Studienzeit in Lausanne und eines in Zürich verbracht, und auf einem Studentenball war er mit den Schwestern Bubikofer bekannt geworden. Nach seiner endgültigen Uebersiedelung in die Schweiz waren die Bubikofer-Mädchen ihm eines Tages wieder eingefallen, und auf einer Wanderung hatte er sie in ihrem goldenen Krähennest in der Ostschweiz besucht. Er mußte ein paar Tage lang bei ihnen bleiben. Bei dieser Gelegenheit machte er die Erfahrung, daß Nany keine Prüderie kannte und überhaupt einen großen Zug in sich hatte, der ihm besser gefiel als die sorgenvolle Verhaltenheit ihrer älteren Schwester.

Erst als sie verheiratet waren, entdeckte Elmenreich, daß Nanys Großzügigkeit leicht die Gangart der Oberflächlichkeit und eines fahrigen Tändelwesens annehmen konnte, das auch mit ernsten Fragen schnell und oft mehr als schnell fertig war. Gewahrte sie, daß daraus Unzuträglichkeiten entstanden, oder daß sie mit ihrem leeren Geflatter andern beschwerlich fiel, so wurde sie entweder widerspenstig oder zerknirscht und nannte sich selber ein Suppenhuhn. Als Valär ihr klarmachte, daß sie dazu viel zu mager sei, und ihr Perlhuhn vorschlug, gefiel ihr das sehr, und von da an blieb es bei diesem an ein Geschöpf aus dem Märchenreich 49 erinnernden Namen. Sie hatte hundert, tausend und noch viel mehr Verwandte im Land – es war gar nicht zu sagen, wie fruchtbar das Geschlecht war, dem sie entstammte, nicht nur in allen eigenen Gliedern, sondern auch in den Linien, mit denen es sich durch Heirat verband. Deswegen war sie auch immer irgendwohin auf der Fahrt oder hatte Besuch, und jeden Augenblick erbte sie. Sie war stolz darauf, aus eigenen Mitteln ihren Kindern alles bieten zu können, was mit Geld sich beschaffen ließ, und hatte die Neigung, sie sehr zu verwöhnen. Sie stieß damit aber bei Dinah und Jürg, den beiden jüngeren, energisch auf Widerstand. Beide richteten sich nach dem Vater. Dafür war Bruno ihr Schatz.

 

Für Elmenreich hatte es auch an diesem Tag keineswegs festgestanden, daß er die Verabredung mit Valär würde einhalten können. Man hatte ihn gegen Ende der Nachmittagssprechstunde zu einem Notfall gerufen. Näheres wußte seine Frau nicht –, aber sie hatte Valär deswegen sehr aufgeregt telephoniert, weil es ihr gar nicht paßte, daß sie womöglich wieder einmal das Opfer seines Berufs werden und auf die Stadtfahrt verzichten sollte. Elmenreich hatte dann gegen Abend aus einer städtischen Klinik berichtet, daß er mit einer halben Stunde Verspätung doch käme.

Zum erstenmal sah Valär seinen Freund müde und fand ihn verdrossen.

»Ach, diese Weiber!« klagte Elmenreich, sich in einen Stuhl fallen lassend, »wozu bekommen sie Kinder, wenn sie nicht den Verstand haben, ihnen auch Mutter zu sein, wozu denn, wozu?« – und als Valär weiter fragte, zeigte es sich, daß er wieder einmal dem Tod in einer seiner gräßlichsten Gestalten begegnet und davon noch ganz benommen war. Denn ein kleines prächtiges Kind, dem er vor einem halben Jahr ins Leben verholfen hatte, das Kind der Lina Dübi, die auch Valär kannte, weil sie vor ihrer Verheiratung bei Elmenreichs Zimmermädchen gewesen war – dieses Kind war während der Abwesenheit der Mutter in den Kissen erstickt. Wiederbelebungsversuche blieben umsonst, und Elmenreich hatte 50 nur noch die traurige Pflicht gehabt, die Eltern von der Notwendigkeit einer sofortigen gerichtlichen Leichenschau zur einwandfreien Feststellung der Todesursache zu überzeugen.

So berichtete Elmenreich und war sehr, sehr gedrückt. Nachdem er aber eine Weile im Hotelsalon ungestört hatte ausruhen und an einem Aperitif sich hatte erfrischen dürfen, erhob er sich, als ob er einen langen Schlaf getan hätte, und war für alle Tafelfreuden zu haben.

Während sie durch die Hotelhalle gegen den Speisesaal schritten, sagte Nany plötzlich:

»Gott, da ist ja Vater!« Und schon lief sie weg und auf eine Treppe zu, die von oben in die Halle herunterführte.

Richtig: auf der zweituntersten Stufe der Treppe, über die ein dicker und breiter, braunroter Teppich herunterfloß, stand ein Mann und rührte sich nicht. Offenbar stand er schon länger dort und machte sich seine Gedanken. Es war ein grauer, mittelgroßer, kräftiger Mann, grau das Kleid, weißgrau das kurze borstige Haar, weißgrau der ebenso kurze, viereckig geschnittene Bart, in dem der Mund als ein langer schmaler Spalt sichtbar war, und grau die Augen. Er wirkte im Augenblick wie aus Stein, und es war wirklich Herr Bubikofer.

Jetzt streckte ihm Nany die Hand entgegen, und man sah, wie er sie mit den Fingerspitzen tätschelnd berührte, eine Bewegung voll stummer Zärtlichkeit; aber er machte keine Miene, den Treppenabsatz zu verlassen. Dagegen nahm er über Nanys Schultern hinweg die beiden näherkommenden Männer ins Auge, und als sie vor ihm standen, hockte sich ein mageres Lächeln in einem der grauen Mundwinkel fest, als sei es ihm einerseits ein Vergnügen, sie auf geheimen Wegen erwischt zu haben, und sei ihm andererseits doch auch nicht ganz wohl dabei, weil er sich in der gleichen Lage befand. Auch ihre Hände berührte er nur mit den Fingerspitzen, und erst, nachdem dies geschehen war, trat er eine Stufe tiefer. Dabei fuhr er sich mit gekrümmtem Zeigefinger hinter dem Kragenrand um den Hals. Sein Hals war kurz und sehr stämmig.

»Was tut ihr denn da?« – Er hatte bisher kein Wort gesprochen. 51

»Wir feiern. Sieg feiern wir. Der da –!« sagte Nany und wies auf Valär.

Der graue Mann nickte. »Hab's gelesen. Hatt's vergessen. Gratuliere.« Dann begann er seine Tochter schweigend zu mustern. »Verboten mager bist du! Und an Stoffmangel scheinst du gleichfalls zu leiden.« – Er starrte sie abermals an, und während er ihren Schulterpelz mit beiden Händen höherzog, trat er auch über die letzte Stufe herunter.

»Ihr hättet nicht zu wissen brauchen, daß ich hier bin.« – Er räusperte sich und blickte zur Seite, und dann blickte er sie wieder an, eines nach dem andern.

Nany kicherte und schlang ihren Arm um seine Schulter:

»Fühlst du dich ertappt?«

»Es ist nicht das. Aber wenn ich euch nicht besuchen kann, weil ich keine Zeit dazu habe, so ärgert mich das, und es ist besser, ihr wißt es nicht. Ich bin so wie so schon verdrossen.«

Nany ließ ihn los.

»Vater, ich ahne etwas.« Und sie schwenkte den Kopf auf dem langen mageren Hals wie ein Schaukelpferd von oben nach unten.

Er streifte sie mit einem zweifelnden Blick.

»Oberrichter Dällenbach?« fragte Nany.

Er nickte und seufzte. »Heute mittag um drei«, antwortete er. »Wenn das Krematorium nur nicht so jämmerlich wäre. Es fehlt nur die Roulette, und daß so ein Affe im Smoking ruft: Faites votre jeu. Der protzige Marmorkitsch und alles andere wären ja da, sogar die halbnackten goldigen Weiber.«

»Wer hat denn gesprochen?«

»Schwätzer! Lauter krampfhaftes, steifes, halbwahres oder verlogenes Wortgeklingel. Dieser Gottesmann mit seinem Schmalz! Diese Kollegen! Und was war er für ein Mann!« – Er schüttelte sich. Daß er selber gesprochen hatte, verschwieg er.

»Ich habe ihn nicht gekannt«, sagte Elmenreich.

»Aber Sie, Herr Valär?«

Natürlich hatte er ihn gekannt. Dällenbach war ja der erste Mann von Alma Studer gewesen. Und sie schwärmte von Gänsebraten an seinem Beisetzungstag! Aber das behielt er für sich. Er erwiderte: 52

»Wir haben verschiedentlich miteinander zu tun gehabt. Die Gerechtigkeit war immer sehr gut bei ihm aufgehoben.«

Der graue Mann stand in tiefes Nachdenken versunken da und schien daraus überhaupt nicht mehr erwachen zu wollen. Plötzlich leuchtete es in seinen tiefliegenden grauen Augen auf, und fast bewegt sagte er:

»Herr Valär, möchten Sie in unserem Verwaltungsrat nicht sein Nachfolger werden?«

Valär trat einen Schritt zurück, vor lauter Erstaunen, und Nany desgleichen. »Na so was!« rief sie.

»Ich wäre gern morgen zu Ihnen gekommen, um mit Ihnen darüber zu sprechen.«

»Ich verstehe aber wirklich nichts von Baumwolle und von Spinnerei, Herr Bubikofer«, sagte Valär. Er war immer noch so überrascht, daß ihm nichts Besseres einfiel.

»Davon hat er auch nichts verstanden. Aber er war gegen jede Verquickung von Politik und Geschäft. Das war Sauberkeit, sehen Sie, und Sauberkeit, das war das, was ich brauchte. Es wäre mir oft nicht möglich gewesen, mich ohne ihn gegen die andern Herren vom Verwaltungsrat zu behaupten. Es ist mir peinlich, das sagen zu müssen, aber es ist leider wahr.«

»Ich verstehe, was Sie meinen. Außerdem hatte er weitherum einen Namen als Mensch und Jurist. Es war ein Name, der Vertrauen erweckte«, warf Valär ein. »Das allein war schon Empfehlung genug. Mein Name dagegen dürfte in jenen Kreisen kaum etwas wiegen.«

»Darin irren Sie sich, Herr Valär. Ihr Name ist so gut wie der seine. Der Unterschied ist nur der, daß er seinerzeit in ein wohlbestelltes Haus einziehen konnte, während jetzt in allen Winkeln die Sorge hockt.«

»Ueberleg dir jetzt ja, was du sagen wirst!« plapperte Nany und stieß Valär am Arm.

»Die Sorge ist überall. Das schreckt mich nicht«, sagte Valär.

»Um so besser! Denn darüber müssen Sie sich im klaren sein: in ein warmes Bett kommen Sie nicht zu liegen«, entgegnete Bubikofer, indem er immer lebhafter und gesprächiger wurde. 53 »Die Geschäfte gehen schlecht. Der Inlandabsatz ist flau, und exportieren können wir nur, wenn wir die Preise so niedrig halten, daß der Erlös gerade knapp noch die Selbstkosten deckt. Bei manchen großen Artikeln muß auch schon zugesetzt werden. Dividende gibt's keine. Tantieme gibt's ebenfalls keine, nur ein bescheidenes Sitzungsgeld. Nun könnte ich mich ja auf den Standpunkt stellen, es stehe nirgends geschrieben, daß Baumwolle für alle Zeit ein Geschäft sein müsse, bloß weil sie einmal ein solches gewesen war – und könnte schließen. Mit Einschluß der Reserven wären die Mittel ja da, um sämtliche Aktien glatt zurückzubezahlen. Ich wäre dann alle Sorgen mit einem Schlag los. Denn dieser neueste Krieg da unten, der macht natürlich nichts besser. Aber seit ich Sie, Herr Valär, vor einiger Zeit habe sagen hören, in der Arbeitslosigkeit liege die größte Bedrohung für den Fortbestand unserer Nation und unserer freiheitlichen Einrichtungen, weil sie das Selbstgefühl untergräbt, dieses Gefühl für die eigene Würde als Mensch, und weil sie damit auch den Unabhängigkeitsstolz vernichtet und überhaupt die ganze Moral: – seitdem weiß ich, auf welchem Feld ich antreten muß. Seitdem weiß ich auch, daß Sie mein Mann sind. Ich habe Arbeitslosigkeit in meinem Betrieb deswegen bisher nicht aufkommen lassen. Ich werde sie auch in Zukunft nicht dulden, selbst wenn alle Reserven draufgehen sollten. Diesen Herren Gewerkschaftssekretären, die dem Volk nichts als politische Ladenhüter verkaufen – denen paßt das ja gar nicht in ihren Kram. Sie sähen lieber, daß ihre Herde mit der Zunge aus dem Maul auf der Straße steht und Lärm schlägt, einfach gegen alles. Bis dann der Staat käme, die Unternehmer hängt und sich selbst zum Unternehmer macht. In andern Ländern geht man ihnen ja mit diesem Beispiel voran. Aber ich tue ihnen nicht diesen Gefallen. Denn wenn wir nicht an die Zukunft glauben, an unser Land, an unsere Heimat, an unsere Kinder und Enkelkinder, allem zum Trotz: – ja, was sind wir dann noch wert?«

»Stimmt! Wir müssen außer uns selbst noch etwas anderes für wichtig halten, wenn wir bestehen wollen, etwas, an das wir nicht herankommen können«, sagte Elmenreich in seiner stillen, bedächtigen Art. »Es ist von Bedeutung, daß wir das tun.« 54

Nany war die Unterhaltung mit einemmal langweilig geworden. Diese Arbeiterfragen! War es denn auf der Welt nicht von jeher Sitte gewesen, daß jeder mehr verlangte und nahm, als ihm zukam? Genau so würde es vermutlich auch bleiben, in alle Ewigkeit. Nur hatte man sich bisher vor den andern ein wenig geniert, daß man so war, aber in Zukunft würde man sich nicht mehr genieren. Und von wem hatten sie's, dieses Auftreten à la canaille? Pa, von den Großen! – Noch einmal blickte Nany sich in der Halle um, auf der Suche nach einem neuen Gesicht. Aber alle diese Damen hatte sie nun hinreichend »eingesehen«. Sie reckte den Hals nach dem Speisesaal, wo sie neue Toiletten und neue Gesichter erwarten durfte, und kaum daß ihr Vater geendet hatte, rief sie:

»Aber möchtest du nicht mit uns zum Essen kommen? Ihr könntet dann alles weitere in Ruhe besprechen.«

Ihr Vater stieß ein kurzes warmes Brummen aus, sein bei Nany so sehr beliebtes Brummen, beliebt, weil es, wie sie behauptete, ein Ausdruck höchster Zuneigung für sie war, und er tätschelte ihren Arm. Sehr lieb sei das von ihr.

Aber er habe seine Spiegeleier mit Rösti und seinen Apfel schon hinter sich. Ueberdies erwarte er einen Kerl – er blickte auf seine Taschenuhr und dann rundum durch die Halle –, der von Rechts wegen schon da sein müßte. »Natürlich komme ich unter diesen Umständen morgen früh nicht zu Ihnen«, wandte er sich an Valär und gab ihm zum Abschied die Hand, »sondern fahre schon mit dem Frühzug weiter. Meinen Wunsch kennen Sie jetzt, und daß so etwas zunächst überlegt sein will, das braucht mir niemand zu sagen. Aber unsere vier oder fünf letzten Geschäftsberichte schicke ich Ihnen auf alle Fälle sofort nach meiner Rückkehr zu, und wenn Sie dann – – ha, da ist ja der Kerl!«

Aus dem Hintergrund war jemand auf sie zugekommen und in einem Abstand von fünf, sechs Schritten in unterwürfiger Haltung stehengeblieben, im Mantel, den Hut in der Hand und unter dem linken Arm ein rechteckiges, schmales, ziemlich großes Paket. Es war ein häßlicher, kleiner, jüdisch aussehender Mensch, und als er bemerkte, daß die Gruppe Notiz von ihm nahm, lief über sein 55 gelbes Gesicht ein flaches, demütiges Lächeln. Das Paket enthielt ohne Zweifel ein Bild. Die drei gingen.

»Paßt mal auf!« sprudelte Nany, während sie in den Speisesaal traten, »Vater kauft wieder Scharteken. Wenn er Scharteken kauft, muß er ganz gut bei Kasse sein, und wenn er bei Kasse ist, ist auch das mit der Baumwolle nur ein so – o – o langer Bart.«

»Eine Sprache gewöhnst du dir an – –.«

»Die Kinder, alles die Kinder! Sie bringen's heim, und unsereiner nimmt's an. Wir haben als Kinder nicht Bart gesagt. Wir sagten Schwalbenschwanz, nur die besseren Kinder natürlich. Jetzt sagen alle Bart. Auch darin fallen die Schranken.«

 

Nany hatte sich schön gemacht für diesen Abend und war glücklich, daß ihr niemand das Recht auf diese unschuldige kleine Zerstreuung bestritt. Sie trug ein blaßblaues seidenes Abendkleid und eine üppige Silberfuchsgarnitur, unter der sie ihre mageren Arme und kantigen Schlüsselbeine unauffällig verstecken konnte. Auch die Männer waren ihr zu Ehren in Schwarz. Das mit der Lina Dübi und dem in den Kissen erstickten Kind war allerdings nicht die richtige Festouvertüre gewesen. Das verstörte Gesicht ihres Mannes! Und die arme Lina, dieses brave, tüchtige, fleißige Schwabenmädchen, anspruchslos, sparsam und immer so fröhlich! Jeden Rappen hatte sie auf die Sparkasse getragen, bis die Aussteuer beisammen war. Und dann hatte sie den Briefträger Dübi geheiratet, ebenfalls einen braven Mann. Sie hatte die Lina gar nicht gern ziehen lassen. Und nun dieses Unglück, dazu noch das erste Kind! Sie würde morgen zu ihr gehen und sich alles erzählen lassen; Wilhelm hatte über die Einzelheiten so wenig gesagt. Gewiß waren sie peinlich. Wenn es für die Dübis nur nicht noch Anstände gab – oft hatten die Leute ja so böse Mäuler.

Aber die Begegnung mit ihrem Vater und der Betrieb in der Halle hatten Nany dieses traurige Vorspiel vergessen lassen, und während sie die Vorbereitungen zum Diner genoß und in dem hellen großen Saal angeregt Umschau hielt, glitzerte an ihr da und dort diskret ein Brillant. Auch bei der Coiffeuse war sie 56 gewesen. Aber ihr störrisches, in allen Nuancen von Rotgelb schimmerndes Haar hatte sich aus den aufgezwungenen Banden allmählich wieder gelöst, und sie hatte schon in der Halle an den Wellen und Löckchen so viel herumgezupft, daß sie nach einer halben Stunde aussah wie eine zerzauste Glucke, die sich mit einem Gockel gerauft hat.

Erst nach Beendigung des Mahles erzählte Valär, daß er gestern bei Bruno gewesen sei, und wie er es mit ihm getroffen habe.

Elmenreich, der sich alle Menschen genau ansah und sich auch von seiner Frau längst nicht mehr blenden ließ, hatte sich im Sommer Valär gegenüber geäußert, er habe das bestimmte Gefühl, daß sich ihm Bruno entfremde. Das bekümmerte ihn. Der Junge, so meinte er, verstehe sich nach wie vor ausgezeichnet mit seiner Mutter. Sie seien wie zwei Elemente, zwischen denen es nur sympathische Verbindungen gibt. Alles zwischen den beiden spiele sich ab in einer Atmosphäre der Reibungslosigkeit und des Gelingens. Mit ihm dagegen verstehe der Junge sich immer schlechter. Ueberall träten Widerstandszentren auf, und diese trieben sie auseinander. »Ich glaube, er schämt sich meiner«, hatte Elmenreich zu Valär gesagt. »Er lehnt mich ab, und ich kenne den Grund dafür nicht, vermag ihn nicht einmal zu ahnen.« – Trotzdem hing Elmenreich an seinem Sohn. Bruno wußte das auch und war in Gegenwart des Vaters nie anders als zuchtvoll und fügsam. Aber er schien sich weder aus seiner Fügsamkeit noch aus der Zuneigung des Vaters etwas zu machen.

Anfangs hörte Elmenreich, über den Tisch geneigt, der Erzählung Valärs ohne Anzeichen von Erschrockenheit zu, und seine blauen, immer leicht verwunderten Augen liefen zwischen Valär und seiner Frau hin und her, während die Verwunderung in ihnen wuchs. Als aber der ersten Verfehlung eine zweite entsprang und diese den Knaben widerstandslos mit fortriß in eine dritte und vierte, schien ihm ungemütlich zu werden. Er suchte mit dem Rücken Halt an der Lehne des Stuhles, auf dem er saß, zog sich lautlos in sich zusammen, und so, das lange blasse Gesicht von Licht und scharfen Schatten zerrissen, blieb er unbewegt sitzen. Manchmal sog er mechanisch an seiner Zigarre. 57

Auch als Valär mit seinem Bericht zu Ende war, sprach er kein Wort. Erst als auch das Schweigen der andern sich in die Länge zog, schien er wieder zu sich zu kommen. Er griff nach dem Weinglas, tat einen Schluck, setzte es wieder hin und sagte leise:

»Jeder Mensch stammt aus einem Zauberreich. Ueber Bruno ist mit einem gefährlichen Stab gezaubert worden, als er entstand. Das ist schlimm für ihn und für uns. Aber es ist daran nichts zu ändern.«

Instinktiv haßte Nany solche Aeußerungen. Die eben gefallene mißfiel ihr sogar sehr. Zauberreich – gefährlicher Stab – wollte ihr Mann zum Mystiker werden? . . . »Nun, ich glaube, den Stab hast du geführt, du!« fauchte sie wütend. Plötzlich zuckte sie zusammen, als hätte sie etwas beinahe Obszönes gesagt und sich selbst einen Stich versetzt. Hilfe suchend blickte sie nach Valär aus ihren wässerig braunen, vom Wein leicht erhitzten Augen.

Und er tat, was er konnte. Er sagte:

»Die Burschen merken, daß in der Welt etwas wacklig ist. Sie wittern Erdbebenluft, und nun wollen sie um keinen Preis mehr parieren. Ein Fauxpas, den unsereiner macht, oder ein Tritt, den die Diktatoren etwas Altem versetzen, das alles interessiert sie sehr viel mehr als Thukydides oder die Namen der Kreuzzugführer. Dazu sind sie in dem Alter, wo jeder Bub sich ohnedies als der Herrlichste fühlt und hingabefähig an alles ist, was sie unter sich einigt. Wir wissen das ja von uns selbst. Ich habe mir, ohne Brunos Wissen, seinen Freund kommen lassen, diesen Ellegast oder Braestrup, wie er angeblich von Rechts wegen heißt. Ein heller offener Kopf, anderthalb Jahre älter als Bruno, kühl, spöttisch, fanatisch – ein kleiner Danton.

›Gibt es denn in diesem Hause einen einzigen Menschen, den man bewundern kann?‹ fragte er mich. ›Den Mann auf der Kommandobrücke? Das ist ja nur ein ahnungsloser fixbesoldeter Weihnachtsmann, der sich in einem fort gebildet verspricht, und in Formeln denkt, die für die Zukunft nichts zu bedeuten haben.‹ – Das war seine Antwort . . . Solche Balken hat bei diesem Burschen das Wasser, in dem er seinen Knappen Bruno das Schwimmen lehrt! Und man darf den Jungen ihre verschiedenen 58 Unverschämtheiten und ihre Schwärmerei für fremde Götter nicht einmal verargen. Was kümmert es sie, daß es fremde sind! Es genügt, daß etwas da ist, was Eindruck macht. Auch sie haben ihren geistigen Stolz, und sie pfeifen darauf, für das Leben in einer bequemen und glänzenden Welt erzogen zu werden, von der kein Mensch weiß, wie lange diese noch dauert. Wir haben ja auch unsere Hörner gehabt und mit ihnen um uns gestoßen.«

»Das haben wir allerdings«, bestätigte Elmenreich. »Ich säße ja jetzt nicht hier, hätte nicht auch unter mir der Boden einmal gewackelt.«

An der nachfolgenden Diskussion zwischen Valär und Nany beteiligte sich Elmenreich nicht. Er hörte nur zu und merkte gut, daß jedes Wort, das Nany zur Verteidigung Brunos ins Treffen führte, nur der Beschwichtigung ihrer eigenen inneren Unruhe galt. Erst als Nany ihren Mann geradezu fragte: »Aber was soll nun geschehen? Meinst du, daß man Bruno von dort wegnehmen soll?« entgegnete er voller Gefaßtheit:

»Der Bub wird für die Folgen seiner Unbesonnenheit einstehen müssen. Ich sehe nicht, was sonst man vernünftigerweise von ihm verlangen könnte. Geschenkt wird ihm dieses Mal nichts.«

 

Ueberraschenderweise schien es, als ob Bruno selbst nicht wolle, daß er mit Nachsicht behandelt werde. Zwar schwieg er zunächst. Er unterließ jede Mitteilung über das, was geschehen war, und schien warten zu wollen, bis man ihn zur Rechenschaft zog. Da er in seiner Stellung den andern gegenüber im Nachteil war, lag diese Taktik ja nahe, trotz der angeborenen Kampflust, die ihn bei allen Konflikten beseelte und ihn gewöhnlich zum Angriff trieb. Aber gerade, als der Vater die Geduld allmählich verlieren wollte, kam ein langer Brief, der diese Vermutungen widerlegte.

Ohne jede Weh- und Demütigkeit berichtete Bruno, daß er zu dem Besitzer des entwendeten Rades gegangen sei, um Abbitte zu leisten, wie es ihm der Götti befohlen habe. Der Mann sei ein Bauer mit stattlichem Hof, zwei Pferden, vierzehn Kühen, drei Rindern, einer Frau und vier Kindern. Er sei Gemeinderat, 59 Mitglied der Schulpflege und habe ihn schweigend empfangen. Als er gesagt habe, daß er gekommen sei, um sich zu entschuldigen und um seine Tat wieder gut zu machen – diese Stelle war unterstrichen –, habe der Mann genickt und sei freundlich geworden. Er habe einen Krug Most aus dem Keller geholt, ihn nach daheim ausgeforscht – nach seinen Eltern, Geschwistern, dem Haus und nach allem – und habe ihn gefragt, was er werden wolle. Er habe dem Mann das Nötige mitgeteilt, aber noch einmal erklärt, daß er vorderhand nur eine Absicht habe, und das sei die Wiedergutmachung seiner Verfehlung.

Wie er sich das denke, habe der Bauer gefragt und habe ihn sehr neugierig angeschaut.

Da habe er gesagt, daß er die Schloßschule verlassen wolle, und daß er auf Herrn Lüschers Hof – so heiße der Bauer – ein Jahr lang als Knecht und Gehilfe arbeiten wolle, ohne Lohn, nur für Essen und Unterkunft, und daß er sich fügen wolle in alles, was man von ihm verlange.

Der Bauer habe ihn lange und groß angeschaut und geschwiegen. Dann habe er erwidert: ja, so einen Jungen, der überall mit zur Hand geht, könnte er wohl gebrauchen. Alle seine Kinder müßten, bis auf das älteste, noch in die Schule, so daß sie in der Wirtschaft nicht sehr viel helfen könnten, und der junge Knecht, den er neben dem Großknecht habe, müsse bald zum Militär. Sein eigener Vater sei freilich auch noch da. Aber der alte Mann werde viel von seinem Bein geplagt und könne nicht mehr so tapfer zugreifen wie früher.

Allein mit einemmal habe der Mann laut gelacht und habe ihm einen Schlag auf die Schulter versetzt. Daran habe er gemerkt, daß der Bauer den Antrag nicht für ernst nehme, und daß er meine, er, Bruno, habe nur so gesprochen, damit er ihm gnädig sei und die Anzeige gegen ihn unterdrücke.

Da habe er geschworen, daß er ihn nicht hinters Licht führen wolle, und habe ihm auseinandergesetzt, wie alles zusammenhänge, und wie ihm wirklich zu Mut sei. Er habe Herrn Lüscher gesagt – und er wolle es genau aufschreiben, weil es seine wirkliche Meinung sei, und damit auch sie es für allemal wüßten –, er 60 habe ihm also gesagt, er könne nicht finden, daß das Gefühl, in einer teuren und feinen Schule zu sitzen, aus ihm einen brauchbaren Menschen mache, und er könne ebensowenig finden, daß es ein Glück für ihn sei, sich vollstopfen zu dürfen mit all dem Luxuswissen und Bildungskram, den die Schulmeister als ihr Eigentum vorweisen können, und auf dessen Besitz sie so unflätig stolz sind. Derlei Wissen sei recht für Leute, die Wert darauf legen, daß sie später einmal über Griechen und Römer, alte Tempel, alte Kirchen, alte Staatsverfassungen, alte Religionen und alte Sitten gescheit vor andern werweißen können, und die sich einbilden, daß das etwas sei, was sie hoch über die andern erhebe. Es sei ihm nie wichtig gewesen, so einer zu werden. Er habe nur nicht gewußt, warum. Aber sein Freund Thornton habe ihn sehend gemacht, und seitdem seien sie einig darüber, daß Bildung nicht mehr zu den notwendigen Ausrüstungsgegenständen eines Menschen gehöre, der unter zukünftigen Lebensverhältnissen seinen Mann stellen wolle. Bildungsbesitz – sein Freund habe darüber einen wunderbaren Klassenaufsatz geschrieben – sei das Ideal des bürgerlichen Wohlstandszeitalters gewesen; das Wohlstandszeitalter sei aber durch den Weltkrieg vernichtet worden. Nur hätten es die meisten noch nicht gemerkt, und besonders niemand in dieser Schule. Denn es gäbe immer noch Menschen und Völker, die im Fett und im Ueberfluß lebten und ihren Ueberfluß weiterhin häuften. Aber die Massen seien verarmt. Herrje, diese Schuldenbäuerlein hier auf den Höfen! Und jetzt liege sogar noch die Heimarbeit still! Da man Bildung jedoch nicht gebrauchen könne, um aus diesem Zustand herauszukommen, und da auch niemand mit seiner Bildung den Unterdrückten bei der Befreiung aus ihrer Lage tatkräftig helfen könne, werde in Zukunft kein Hahn mehr nach den Gebildeten krähen. Bei einem heftigen Streit, der dieser Frage wegen unter den Schülern entstanden sei, habe sogar einer der Lehrer zugeben müssen, daß Thornton ganz recht haben möge, und daß es dem Bildungsbrief der jetzigen hohen Schulen genau so ergehen könne wie dem Adelsbrief in der Französischen Revolution und nach dem Weltkrieg den Kaiser- und Königskronen: – er werde als Wertobjekt weggefegt werden. 61

Sein Freund Thornton und er hätten es deswegen satt, bei dem leeren Bildungsspiel noch länger mitzumachen, als unbedingt nötig sei. Sie würden nach Uebersee fahren und Pflanzer werden, und dazu brauchten sie anderes Geschirr, als es in der Schule geschmiedet werde. Sein Freund werde freilich seiner Mutter wegen noch bleiben müssen. Er selbst fühle sich nicht mehr gehalten, stelle sich aber vor, daß ein Jahr lang Bauern als Vorbereitung für seine Zukunft ganz gut sein könne, und daß es für Herrn Lüscher vielleicht eine ganz annehmbare Entschädigung wäre, wenn er dieses Jahr bei ihm verbrächte und mithälfe, wo er nur könne.

Der Bauer habe lang überlegt. Dann habe er ihn bei der Hand gefaßt und habe sehr ernst gesagt:

»Ich sehe, du bist in Not. Vielleicht ist deine Not sogar noch viel größer und schlimmer, als du selbst weißt. Aber wenn du meinst, daß es dir helfen könnte, ein Jahr lang bei mir zu dienen, so will ich dich gerne zu mir nehmen. Bedingung ist allerdings, daß du dich von der Schule auf gute Art lösen kannst, und daß deine Eltern mir ihre Einwilligung zu deinem Plan schreiben.«

»Ich bitte Euch nun«, hieß es in Brunos Brief, »daß Ihr meinem Wunsche willfahrt, und zwar so schnell, als es geht. Es ist kein Gewaltakt gegen mich, den ich verübe, wenn ich das sage. Aber ich möchte nicht einfach ertrinken, weil man das in seinem Leben nur einmal kann. Auch das ist ein Wort meines Freundes.«

Beim Familienrat, an dem teilzunehmen man Valär gebeten hatte, meinte er:

»Bruno ist immer reich an Illusionen gewesen. Diese hier ist wahrscheinlich die erste, die etwas taugt.«

Die Mutter war über diese Bemerkung empört.

»Ich will keinen Sohn, der nach Kuhfladen riecht und Hände wie ein Lastträger hat. Was werden meine Verwandten sagen! Wenn ihr ihm nachgebt«, fauchte sie, »reise ich ab.«

»Du begreifst doch, daß etwas dem Leben Form geben muß«, erwiderte Elmenreich, nicht ohne Melancholie. »Wenn die Eltern diese Form nicht zu liefern vermögen, und wenn auch die Schule versagt, so muß eben das Leben den Buben erziehen.«

»Als ob ein Kuhbauer das Leben wäre! So etwas wagst du zu 62 sagen, nachdem du doch selber weißt, daß alles in schönster Ordnung sein könnte, wenn du dir mehr Zeit für deine Familie nähmst. Aber zuerst kommt bei dir ja seit Jahr und Tag der Beruf, und zuletzt kommt ebenfalls der Beruf, und wenn dann etwas mit den Kindern nicht geht, wie es soll, muß ich zu allen Lasten hin, die ich habe, auch noch den Sündenbock machen«, heulte Nany.

»Nany, höre!« mischte Valär sich von neuem ein, »es geht jetzt nicht um dich, sondern um deinen Sohn! Wenn er seinen Nacken von selbst so tief beugen will, so ist das mehr, als wir alle von ihm erwartet haben. Und wenn er seine Verfehlung auf diese Art aus der Welt schaffen will, so, meine ich, sollten wir ihn gewähren lassen. Oder weiß eins von euch einen besseren Rat? – Ich weiß keinen.«

»Ich ebenfalls nicht«, stimmte Elmenreich zu. »Nur ein Bedenken kann ich nicht unterdrücken. Ich fürchte, daß auch dieses Mal Brunos Sucht, alle andern zu übertreffen, bei seinem Entschluß eine Rolle spielt. Ich fürchte daher, daß alles ihm keinen Spaß mehr macht, wenn es mit dem Knalleffekt aus ist.«

»Seine Eigenliebe ist sicher nicht unbeteiligt«, gab Valär zu. »Aber ich glaube auch, daß er wirklich in Not ist, genau so in Not, wie du es warst, als du aus deinem Vaterland fortgingst. Ich glaube auch, daß er wünscht, auf anständige Weise aus seiner Lage herauszukommen. Wenn wir es dabei recht heftig zugehen sehen – na ja, lieber Freund, von wem sollte er diese Heftigkeit haben, wenn nicht von dir?«

Die beiden Männer blickten sich in die Augen. O ja, auch Elmenreich hatte einmal in heller Empörung wild um sich geschlagen. Aber jetzt war er zahm.

»Dann stimmen wir ab«, sagte Elmenreich zu seiner Frau. »Andrea stimmt mit. Die Majorität entscheidet.«

»Ich enthalte mich«, erklärte Nany voll Trotz.

»Dann wär's ja entschieden«, sagte ihr Mann.

Elmenreich wartete noch, bis sein alter Kollege Joho ihn in der Praxis vertreten konnte. Dann reiste er ab, um Brunos Sache persönlich zu ordnen. 63

 


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