Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XXXV.

Der erste Sonntag im Mai war so naß, windig und kalt, daß Valär in seinem Häuschen heizen ließ. Später mischte sich auch noch Schnee in den Regen. Das gab einen geruhsamen Nachmittag mit hochwillkommenen Lesestunden, einem guten Kaffee und einer guten Zigarre. Erst um die Dämmerungszeit zog er seine Wetterausrüstung an und machte sich auf den Weg nach dem 357 Schwedenhäuschen. Eine Woche war seit der Begegnung im Walde verflossen, und sie hatten sich in der Zwischenzeit nicht gesehen.

Valär kommt unangemeldet. Es ist schon fast Nacht. Im Haus ist kein Licht. Es regnet und schneit noch immer, schneit in die Blüte und ins junge Grün. Er sucht die Glocke und läutet. Es ist keine Besuchszeit jetzt, und vielleicht sind die Insassen gar nicht daheim.

Während er den Schmutz von den Stiefeln trampelt, geht drin eine Türe. »Wer ist da?« ruft eine heisere herrische Stimme. Es ist die Stimme der Mutter.

Er nennt seinen Namen.

»Ich schließe auf«, sagt die Stimme. »Aber Sie dürfen mich jetzt nicht sehen. Sie müssen warten, bis ich gegangen bin. Nele – –?« ruft die Stimme, und schon ist sie im Hintergrund des Häuschens verschwunden.

Er kratzt und trampelt noch ein wenig drauf los, und wieder geht eine Türe. Auf dem Gang wird es hell, und gleich danach wird die Haustüre von innen geöffnet. Nele blinzelt ihn an, scheint ihn erst jetzt zu erkennen, blinzelt wieder und reicht ihm die Hand, zögernd, verlegen, noch halb verschlafen. Sie zieht ihn wortlos hinein. Ihr Haar ist nicht aufgesteckt. Es hängt in zwei Zöpfen über die Schultern herunter, wie einst; an den Schläfen ist es verwirrt, und das Licht blendet sie immer noch. Denn sie entzieht ihm plötzlich die Hand und hält sie über die Augen. Er nimmt ihr die Hand wieder weg und behält sie in der seinen, betrachtet sie. Die Hand ist sonderbar trocken und faltig; die Haut an den Fingerbeeren ist weißlich und eingeschrumpft – da hält sie ihm auch die andere hin, durch seine Verblüffung ergötzt, und sagt lachend: »Ich habe heute Waschtag gehabt.« Aber die Hände tun ihm doch leid. Denn den Händen fehlt der feste, frische und bewegliche Ausdruck, den er an ihnen gewohnt ist; die Hände sind alt.

Nele hilft ihm beim Mantelabziehen und wird von neuem verlegen, denn sie steckt offenbar noch in dem Kleid, das sie bei der Arbeit getragen hat. Es ist abgenutzt und verwachsen. Darüber trägt sie eine Art Bademantel aus dickem gestreiftem Stoff, der in 358 der Taille mit einer dazugehörigen dicken Kordel gegürtet ist. Sie wirft schnell einen Blick in den winzigen, hellblau gerahmten Korridorspiegel, Valär sieht das Spiegelbild, und Neles Gesicht wird ihm dabei fremd: sie gleicht plötzlich ihrer Mutter. In Bruchteilen einer Sekunde huscht dieser Eindruck vorüber, aber der Augenblick hat genügt, um Valär zu erschrecken. Er blickt noch einmal in den Spiegel, sieht aber nur sich selber darin, und wendet sich ab. Nele bittet ihn in die Stube.

Die Luft ist so wie immer in Räumen, in denen nur Frauen leben, wenn die Fenster seit ein paar Stunden geschlossen sind. Es ist ein Mischgeruch von Schlafzimmerluft und etwas Tierischem, Milchigem, Dumpfem, ein Gemisch von süßlich, dicklich und fad. Es riecht auch nach Seife im Zimmer und einer medizinischen Salbe, in der Ichthyol oder Toluol verarbeitet ist – jemand hat offenbar ein Ekzem. Richtig steht auch an einer Schmalseite des langgestreckten Raumes ein von Wandbänken umgebener Tisch mit einem sehenswerten Durcheinander von Porzellanschüsseln, Tuben, Schwämmen, Salbentöpfen, Flaschen und Fläschchen mit farbigen Flüssigkeiten, nassen Tüchern, trockenen Tüchern, Gazestreifen und Wattebäuschen, die auf jede Weise zerrupft und zerknüllt sind.

Nele ist sofort zu einem der Fenster gesprungen und hat es aufgerissen, dann zu einem zweiten, als hätte sie das schon längst im Sinn gehabt. Dann läuft sie zum Tisch, schüttelt den Kopf, sagt, fast flüsternd, als müsse sie in ihren Aeußerungen vorsichtig sein: »Mutter hat hier gehaust! Wenn sie's mit ihrer Haut hat und Gesichtsdämpfe macht, stellt sie das ganze Haus auf den Kopf«, – – und beginnt den Tisch in großer Hast abzuräumen. Sie stößt in der Wand neben dem Tisch ein Türchen auf, das offenbar in die Küche führt und als Speisendurchreiche dient, und dahinter läßt sie Schüsseln, Töpfe und was auf dem Tisch liegt, mit großem Geschick verschwinden. Nur eine Schere bleibt da. Die vertropfte Tischplatte reibt sie mit einem der Tücher ab, tut es dann ebenfalls weg, und hat in der Hand mit einemmal eine Tube. Sie drückt etwas von deren Inhalt heraus und reibt sich damit die Hände ein; sie beginnen zu glänzen. Dann geht sie auf 359 ihren langen Beinen quer durchs Zimmer zu einer zwischen zwei Fenstern stehenden Couch, wo zerwühlte Kissen liegen und eine dicke wollene Decke, unter der erst vor kurzem jemand hervorgeschlüpft ist.

Dieser jemand ist Nele gewesen, wie sie mit einer gewissen Beschämtheit gesteht. Aber schon vor sechs Uhr in der Früh sei sie aufgestanden und habe bis ein Uhr gewaschen. Zum Mittagessen habe sie schnell Kartoffelpuffer gebacken, und dann habe sie noch in der Waschküche und auf dem Speicher zu tun gehabt: die Mutter ist wieder einmal so leidend und schwach. Von all der Arbeit ist Nele müde geworden, und sie hat sich hingelegt, mit einem Buch, um zur Belohnung ein paar Seiten zu lesen. Zuletzt ist sie darüber eingeschlafen.

Valär hört und sieht ihr zu, während sie die Decke und die Kissen in Ordnung bringt. Sie trägt lautlose Finken aus einem ziegelroten, warmen, filzigen Stoff. Am einen Finken ist der hintere Rand heruntergetreten, und in der Ferse zeigt sich ein Loch. Das Spiel ihrer Zöpfe bezaubert ihn. Durch die Fenster zieht es mächtig herein. Wie gut tut die frische Luft!

Valär ist in die dunkle Ecke des Zimmers gegangen. Dort steht ein schwarzer großer Flügel mit hochgestelltem Deckel und aufgeschlagenen Noten. Man hat offenbar musiziert. In der entgegengesetzten Ecke, über dem Tisch, brennt eine verstellbare Hängelampe, und über der Wandbank, in einer Ecke, wo in Bauernstuben katholischer Gegenden ein Kruzifixus zu hängen pflegt – schau an –, da steht auf einem Brettsockel eine Götzenfigur: irgend so ein holzgeschnitzter Südsee- oder Negerdämon mit infernalischer Fratze.

Nele will, daß Valär auf der Couch Platz nehmen soll; offenbar ist sie ihr selbst die liebste Sitzgelegenheit dieses Zimmers und in ihren Augen die feinste. Ob sie nicht eine Holzwelle habe, eine Welle aus grünen Fichtenreisern? frägt Valär zurück. Sie muß lachen, sagt »Pst!«, geht zum einen der Fenster, schließt es und kommt zurück. Er setzt sich auf den Klavierstuhl, sie entscheidet sich für die Couch.

Nele scheint die anfängliche Befangenheit darüber, daß er mit seinem Besuch in eine so unvorteilhafte Situation ihres 360 Privatlebens hineingeplatzt ist, inzwischen überwunden zu haben. Mit einer Grimasse zeigt sie ihm das Loch in ihrem Strumpf, sagt, er dürfe sich nicht vorstellen, sie laufe daheim immer so vernachlässigt herum, und sie bückt sich an ihren Beinen hinunter, um den Finken ordentlich anzuziehen und den niedergetretenen Rand der Kappe nach oben zu drehen, so daß man das Loch nicht mehr sieht. Dabei blitzt sie ihn von unten her an. Sie versucht auch die Haarwische zu beiden Seiten der Stirn auf passende Weise unterzubringen und zeigt ihm das Buch, in dem sie gelesen hat. Es ist das Leben der Cornelia Goethe. Sie sagt, es sei ein trauriges Buch. In einer Wandnische sind noch viele Bücher zu sehen. '

Dann kommt Frau Ellegast. Auch Nele steht auf und schließt eilig auch das andere Fenster.

Im Handdruck der Mutter ist nichts, aber ihre Hand ist fein und gepflegt, sie ist nicht rauh und verschafft wie die Neles. Die Frau sieht auch sonderbar aufgefrischt aus, gar nicht verwüstet und geisterhaft oder verfallen, nicht einmal leidend, wie Nele vorhin behauptet hatte, und nur der lasterhafte Zug um den Mund und die rund um den Kopf laufende Pagenfrisur wirken wie alte Bekannte. Frau Ellegast macht bei der Begrüßung eine leichte Verbeugung wie Schauspielerinnen oder Tänzerinnen, wenn man sie vor den Vorhang klatscht: – jenseits der Rampe steht sie, diesseits steht er, und in der Luft prasselt es . . . Irgendwo muß sie von der Ichthyolsalbe an sich haben, denn der Geruch ist mit einemmal wieder da. Sie trägt eine seidene weiße Bluse und einen kurzen flohbraunen Rock mit weißen breiten Längsstreifen.

Im nächsten Augenblick dreht sie ihr Gesicht aus dem Licht und bittet Valär, sich auf den hölzernen Lehnstuhl in der Nähe der Büchernische zu setzen, während sie selbst den Klavierstuhl nimmt, wo ihr Gesicht im Halbdunkel bleibt. Der Lehnstuhl habe einst in Mörikes Arbeitszimmer gestanden, erläutert sie; ihr Großvater mütterlicherseits sei Mörikes Arzt gewesen, auch ihr Vater sei Arzt gewesen, Direktor einer Irrenanstalt, alle seine Kinder seien davon ein wenig verrückt. Sie sagt es ruhig und ernst, als glaube sie, was sie sage, und als besitze sie damit einen Freibrief für alles. 361

Valär betrachtete den Stuhl und versuchte sich gleichzeitig dafür zu entschuldigen, daß er so zur Unzeit hereingeplatzt sei. Vorgehabt hatte er es nicht. Bei Nele hatte er sich auch nicht entschuldigt, aber nun tat er es doch. Frau Ellegast ging jedoch auf seine Entschuldigungen nicht ein. Mit einer gewissen Feierlichkeit dankte sie ihm vielmehr, daß er gekommen sei, und gab ihm zu verstehen, wie sehr sie es schätze, daß sie endlich wieder einmal sich aussprechen könne mit einem Mann, der nicht sei wie alle. Im allgemeinen mache sie sich ja nicht mehr viel aus den Menschen, schon gar nicht aus Frauen. Den Umgang mit ihnen verachte sie; Frauen seien ihr lästig wie Fliegen. Auch Männer brauche sie nicht; sie habe an dem Hund, der abgerichtet sei aufs Bellen bei Nacht, und an ihren Nerven vollkommen genug. Auch sei es ja beinahe ein Ding der Unmöglichkeit für eine Ausländerin, in diesem Land gesellschaftlich Fuß zu fassen. Da stünden die Berge, oben weiß, unten blau – wie großzügig, wie erhaben! Aber die Menschen? Daß Gott erbarm! Winterkrähen seien das ja, mißtrauische, arme, schwunglose Hungervögel, nichts als Gekrächz, nirgends ein Freudenausbruch und offene Arme, nirgends heitere Reden bei Tisch! Kaum aber gäbe es etwas Unangenehmes zu sagen, so tauten sie auf. Nicht einmal, wenn man eine junge hübsche Tochter habe, sei ihnen nahezukommen. Da habe neulich so eine Glucke aus dem Sanatorium oben an sie die Frage gerichtet, bei welchem Pfarrer ihre Tochter konfirmiert worden sei. ›Konfirmieren‹, habe sie geantwortet, ›gibt es das noch?‹ – ›Aber, bitte!‹ habe die Glucke gerufen. Da sei sie aber gestiegen. Zum Glück gebe es auch Ausnahmemenschen, und wenn sie einem solchen begegne, so fühle sie es. Sie werde plötzlich von Strahlen getroffen, und dann bedürfe es gar keiner Worte mehr. Prachtvolle Menschen hätten ihr diese Strahlen schon zugeführt: Gelehrte, Künstler, Seeoffiziere, Forschungsreisende und andere Menschen von freien Sitten und freiem Geist. Herrliche Zeiten habe sie in diesen Kreisen verlebt. »Und wie viele haben mir gehört – wie viele sind meine Freunde gewesen – ha! sind es noch, auch in der Ferne . . .« Einmal habe sie auch als Vertraute eines hohen Beamten wertvolle Nachrichten von einem Staat nach einem andern zu übermitteln gehabt. 362

»Nicht ungefährlich«, bemerkte Valär. Es war sein erstes Wort.

»Ich war unabhängig. Was wollen Sie! Jetzt habe ich manchmal keine zehn Franken.«

»Sie haben Verluste gehabt?« fragte Valär, als hätte er nie etwas von ihrer Geldmisere gehört.

»Mein Sohn!« sagte sie. Und von neuem brach der Redestrom los. Schlecht habe er sich aufgeführt, dieser Sohn, gar nicht so benommen habe er sich, wie es eine Mutter von ihrem Kinde erwarten darf. Verklatscht habe er sie, als er nach Australien kam, und sei überhaupt auf der ganzen Linie glatt zu seinem Vater übergegangen. Zum Beispiel habe sie anderthalb Jahre nach der Scheidung noch einmal ein Kind bekommen, das dann aber gestorben sei. Selbstverständlich sei das Kind nicht mit der Luftpost gekommen – es war ein ganz normales uneheliches Kind. Ging das jemand etwas an? Niemand ging es etwas an. Zehn uneheliche Kinder wären niemand etwas angegangen. Aber der Sohn habe es seinem Vater gemeldet, wahrscheinlich zum Beweis ihrer Schlechtigkeit . . . Und jetzt schicke der Vater, schon seit bald zwei Jahren, nicht einmal mehr das Unterhaltsgeld, das er für Nele bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr zu bezahlen habe. »Bitte, Herr Valär, wovon soll ich da leben?«

»Aber, Mutter«, fiel Nele ein, »du glaubst doch nicht, daß Herr Valär dir diese Frage beantworten kann? Außerdem weißt du doch, daß wir Vaters Geld gar nicht mehr brauchen. Ich verdiene jetzt ja doch selbst.«

Nele hatte sich bis dahin nicht bemerkbar gemacht. Wie unbeteiligt war sie auf dem Couchrand gesessen, noch enger in ihren Bademantel gehüllt, den Blick und die Beine am Boden. Manchmal griff sie in eine Tüte, die neben ihr lag, holte daraus eine gezuckerte Mandel hervor, und man hörte, wie sie diese in aller Ruhe mit den Zähnen zerkrachte. Auch den Kappenrand des Finkens hatte sie wieder hinuntergetreten. Manchmal zog sie den Fuß aus dem Finken heraus, stieß ihn wieder hinein, zog ihn von neuem heraus und war offenbar nur darauf bedacht, bei diesem Spiel den Finken nicht zu verrücken. Nun hatte sie plötzlich gesprochen, mahnend, leise und flehend fast, als ob sie 363 mit ihrer Einwendung etwas Bestimmtes, was sie kommen sah, abwenden wollte.

»Haben Sie gehört? . . . So ein gutes Kind ist sie, so uneigennützig, wenn es um ihre Mutter geht«, wandte sich Frau Ellegast an Valär. »Alles würde sie für mich opfern! Aber davon kann gar keine Rede sein – nein, das machen wir anders.«

Mit diesen Worten schwang sie sich auf dem Klavierstuhl herum, so daß sie die Tasten des Flügels dicht vor den Händen hatte, streckte die Arme aus und fing an zu spielen.

Sie spielte an die zwanzig Minuten lang, pausenlos, frei aus dem Kopf, und eine Welt voll Licht, Zwielicht und Leid, voll schmerzlich-seliger Träume und glühender Trauer wuchs aus den Tönen hervor, füllte mit ihrem unsteten Dasein den Raum und verging. Valär wußte nicht, was sie spielte, und er war auch nicht sehr musikalisch. Aber er wußte, daß er gefesselt war. Widerstandslos geriet er in den Bann ihrer Zauberei, und ein Blick auf Nele bestätigte ihm, daß es ihr nicht anders erging. Trotzdem konnte er seinem Eindruck kaum glauben.

»Schumann!« sagte Frau Ellegast, nachdem sie geendet hatte, klappte den Deckel über den Tasten zu und kehrte sich auf ihrem Drehstuhl wieder herum. »Ich lerne jetzt wieder«, sagte sie. »Wie habe ich mich jemals an die Moderne verlieren können! Armselige Maschinengeräusche neben Göttergesang – Gegurgel schmutzigen Spülwassers im Abzugsrohr neben dem Rauschen einer sauberen Quelle oder dem Geflüster der Blätter in einem Baum! Aber ich übe jetzt wieder, bis ich so weit bin, daß ich auftreten kann. Nebenher werde ich Stunden geben, werde verdienen, damit das Kind da am Sonntag nicht mehr am Waschzuber stehen muß. So machen wir's! Alles hole ich nach, was ich in Jahren an dem Kinde habe versäumen müssen. Außerdem werde ich natürlich auch prozessieren«, fügte sie mit plötzlich verändertem Tonfall hinzu. »Ihr Vater soll nicht glauben, daß er mit uns einfach machen kann, was er will. Bezahlen muß er!« – Und mit einemmal war wieder das heisere verwilderte Lachen da, recht für die Steppe, wo die Wölfe es hören und heulend Reißaus nehmen davor, aber nichts für ein Zimmer, in dem Schumanns Stimme noch nicht verklungen war. 364

Auch Nele hob jetzt den Kopf. Das Spiel mit dem Finken hatte sie aufgegeben, und ihre Augen wanderten neugierig von Valär zu ihrer Mutter und von ihrer Mutter zu ihm.

Valär schwieg.

Da sagte Nele, sonderbar lauernd und, wie ihm schien, mit einem leichten Anflug von spöttischer Gereiztheit:

»Herr Valär ist dagegen, daß du prozessierst. – Nicht wahr, Herr Valär?«

Valär hielt sich zurück. Ausweichend antwortete er:

»Prozesse verschönern das Leben nicht. Ich hätte auch einmal prozessieren sollen. Im letzten Augenblick habe ich mich gefragt, ob ich meine Kräfte, meine Zeit und mein Geld wirklich nicht für etwas Ersprießlicheres einsetzen könnte . . . Damit war das Problem für mich auch schon gelöst.«

»Ich weiß genau, was Sie damit sagen wollen«, fuhr Frau Ellegast los. »Warum läuft sie zum Rechtsanwalt, ha! –wollen Sie sagen – wo der geringste Schnauf zwanzig Franken kostet, wenn sie ihrem Kind etwas Gutes tun will, anstatt ihm den Strumpf zu stopfen, während es am Waschzuber steht? Warum zieht sie es nicht vor, ein Stück weit in den Wald zu gehen und dort ein Bündel Fallholz zusammenzulesen? Wenn sie nicht die Kraft hat, um ein großes Bündel zu schleppen, so könnte sie sich ja mit einem kleinen begnügen: schon ein bloßer Armvoll Holz hätte ausgereicht, um heute ein wenig zu heizen und es in diesem Zimmer gemütlicher zu machen, als es jetzt ist. Aber es kommt gar nicht auf das an, was Sie jetzt denken, mein Herr! Sondern wir wollen unser Recht, mein Herr, – unser Recht dort vor den Gesetzen.«

»Und ob wir es wollen!« tönte es von Neles Platz. »Natürlich wollen wir es! Glaubt Vater denn, daß ich mir einfach alles von ihm gefallen lasse? Zweimal, zuerst, als ich sechzehn, und dann, als ich siebzehn war, habe ich ihm in aller Güte geschrieben und habe ihm auseinandergesetzt, wie niederschmetternd es für mich ist, als fast erwachsenes Mädchen von der reinen Guttat anderer Menschen leben zu müssen. Er möge doch ein Einsehen haben und mich befreien von diesem Druck, der mich erniedrigt. Was ist geschehen? Nichts ist geschehen! Nicht einmal geantwortet hat 365 er mir. Aber das habe ich nicht verdient, und er soll es büßen. Sein Geld will ich nicht, aber ich hasse ihn!«

Nele sprühte wie ein glühendes Eisen unter den Hammerschlägen. Sie sah aus, als ob sie jeden fressen wolle, der es wagen sollte, ihr zu widersprechen.

»Hören Sie, mein Herr? Prachtvoll kommt das Mädchen in Schwung«, rief Frau Ellegast hingerissen. »Und alles Ihr Werk! Auch dafür danke ich Ihnen.«

Valär wurde eiskalt. Er blickte nach Nele. Aber Nele drehte sich von ihm weg, warf sich mit dem Kopf auf die Couch und heulte in ihre Hände.

»Was sagten Sie?« fragte Valär die Frau. »Mein Werk – –?«

»Ihr Werk – alles Ihr Werk! Was für eine Milchsuppe ist sie gewesen, bevor sie mit Ihnen Bekanntschaft machte, blaß, dünn – und ungesalzen! Niemals ein Anspruch, ein Aufbegehren. Wenn sie zum Frühstück ihre Hafergrütze hatte und dazu ein Stück Butterbrot, war sie zufrieden. Wenn ich ihr als Extragabe noch ein Stück Zucker dazu hingelegt habe, so fühlte sie sich im Himmelreich. Sie steckte es in den Mund, nahm ihre Schulmappe und galoppierte davon. Ich hätte in ihrem Alter die Grütze einfach an die Wand gepfeffert . . . Auch jetzt noch kocht sie sich in der Frühe ihre Grütze mit Milch und streut Zucker darüber. Dann wickelt sie ihr Vesperbrot ein und geht auf den Berg, an die Arbeit, so froh, als ging es zum Tanz. Aber eins hat sie niemals und niemals vergessen können: – daß sie ohne einen Vater hat aufwachsen müssen, ohne einen stattlichen, achtunggebietenden, älteren Mann, zu dem man aufsehen kann, weil er es zu etwas gebracht hat in dieser Welt, und über den man sich alle möglichen herrlichen Dinge ausdenken kann, weil man spürt, daß er einen liebt, und weil Liebe doch immer geheimnisvoll ist . . . Natürlich muß er einen auch ein wenig verwöhnen. Und raten und helfen, das muß er auch. Und außerdem darf er den ihm zugedachten schwärmerischen Bereich natürlich nie überschreiten. Sonst ist es aus . . . Diesen Mann hat sie in Ihnen gefunden. Sie sind in ihr eine Macht geworden, und ich gönne ihr das. Wunderbar gut haben Sie ihr getan! Mindestens hat sie bisher eines gelernt, was mich 366 freut: – sie hat gelernt, daß es mit Ungesalzensein und Sichfügen im Leben allein nicht getan ist. Man muß auch kratzen, beißen und hassen können, hassen, ja, hassen!«

Einen Augenblick stockte sie, und nachdem sie mit ihren schwarzen fahrigen Augen, wie mit einem Staubwedel, ganz kurze Zeit auf Valärs Gesicht herumgehuscht war, fügte sie mit einem sonderbaren Gemisch von Ernst und Bosheit hinzu: »Jetzt sollten Sie nur noch dafür sorgen, daß sie auch mit jungen Leuten Umgang bekommt . . . Aber ein wirklich netter junger Mann müßte darunter sein, in den sie sich recht kräftig verlieben könnte.«

Nele hatte sich mit einem Ruck aufgerichtet. Mit einem Taschentüchlein wischte sie sich schnell über die Augen, und bevor Valär, dem der Zorn mit einemmal hell in den Augen stand, etwas erwidern konnte, sagte sie mit ihrer verweinten Stimme, aber mit großer Ruhe und in warnendem Ton:

»Mutter, du bist dir hoffentlich klar darüber, daß ich nichts zu tun habe mit dem, was du soeben gesagt hast? Wie? Du bist dir doch klar darüber? . . . Nichts, Mutter, gar nichts?«

»Aha, ein Wink an Sie, Herr Valär!« rief Frau Ellegast. »Sie sollen nicht glauben, daß sie daheim schwatzt oder sich ausfragen läßt und mich einweiht in das, was sie mit Ihnen hat oder verhandelt . . . Keine suspekte Intimität zwischen Mutter und Tochter hinter dem Rücken des Mannes! Das möchte sie festgestellt haben . . . Nicht übel! – Nun, wenn es schon sein muß . . . meinethalben, ich bestätige, daß es so ist. Aber ich kenne sie doch, Herr Valär! Sie braucht mir gar nichts anzuvertrauen. Ich weiß ja doch, was für ein Täubchen sie ist, und was ihr fehlt! Sie sehen nichts, aber ich weiß es! . . . Ich weiß auch, was man bei ihr riskiert, wenn man bei der Annäherung ihre Fluchtdistanz überschreitet, weil sie heiße rote Lippen hat, und weil man deswegen glaubt, sich einen Übergriff leisten zu können . . . Im übrigen will ich damit nicht gesagt haben, daß nicht jedermann sein eigener Herr ist und machen kann, was er will«, schloß sie in selbstgefälligem Ton und mit theatralischer Geste. »Ich müßte mir ja selbst zum Hals heraushängen, wenn ich das übersähe. Auch sie ist ein freier Mensch! Und Sie sind es natürlich auch – –.« Und sie warf 367 ihren braunen Bubikopf hin und her, als wären noch viele Gedanken darin, von denen er keine Ahnung hatte, und die sie auch nicht preisgeben wollte.

Valär sehnte sich plötzlich nach seiner Pfeife. Er griff in die Taschen und suchte danach. Wie elend ihm war! Ach, dieser Fetzen von einer Frau! Was für einen Tanz hatte sie aufgeführt! Wäre dieser Fetzen ein Mann gewesen, so wäre er schnell und leicht mit ihm fertig geworden. Aber was machte man mit einer Frau? – Weder ein Blick auf den Götzen, noch ein Blick auf Nele halfen ihm weiter. Sie saß auf der Couch, leicht vornübergebeugt, in Pausen geschüttelt von einem krampfartigen Schlucksen, wie es einem sehr schmerzlichen Weinen zu folgen pflegt, und blickte ihn von unten her an, unendlich traurig wie neulich im Wald, bevor sie ihn mit ihren Armen umschlungen hatte. Deuten konnte er diesen Ausdruck jedoch nicht, ebenso wenig wie damals.

Im nächsten Augenblick fiel ihm wieder Frau Ellegast ein, und er starrte sie an. Was hatte sie gesagt?

Mit einemmal lachte er. Es war fast wie ein Erbrechen, das allmählich in Belustigung überging, und schließlich hörte er sich selber sagen: »Schön, wir haben nun also ein Täubchen und haben ein Risiko und sind uns einig darüber, daß jeder sein eigener Herr ist und machen kann, was er will. Außerdem scheint draußen augenblicklich ein Wolkenbruch niederzuprasseln. – Möchten Sie uns daraufhin jetzt nicht noch etwas spielen?«

Einen Augenblick zögerte sie. Sie saß da, mit einem Punkt im Gesicht, und schien irgend etwas nicht verschmerzen zu können. Plötzlich stand sie auf und ging zum Flügel. »Gut denn! Ein Brahms.«

Viel wurde nachher nicht mehr gesprochen. Aber Valär hatte doch noch eine Pfeife in seinem Rock gefunden, und während der ganzen Zeit hielt er sie im Mund. Das beruhigte ihn, und schließlich bat er, sich empfehlen zu dürfen. Er war fast nicht zu Wort gekommen; um so mehr hatte er dafür gehört.

»Ich komme noch ein wenig mit«, sagte Nele, als er sich erhob, und war im nämlichen Augenblick auch schon auf den Beinen, um wegzugehen und sich fertig zu machen. 368

»Bei diesem Wetter?« fragte die Mutter.

Nele gab keine Antwort.

Draußen, als sie durch die Nacht langsam höhenwärts schritten, sagte Nele:

»Herr Valär, ich habe gesehen, wie Sie heute erschrocken sind, und wie Sie mich plötzlich nicht mehr verstanden haben. Es war, als ich wegen des Prozesses gegen meinen Vater auf Mutters Seite trat. Nun, ich habe die Wahrheit gesprochen: ich hasse ihn und wünsche wirklich, daß mir mein Recht wird. Sie dürfen aber nicht vergessen, daß ich Mutter in dieser Sache noch aus einem andern Grund unterstützen muß, der allein schon genügen würde, wenigstens mir. Für Mutter ist dieser Prozeß ein Teil jenes großen Programms, mit dem sie glaubt, alles das nachholen zu können, was sie versäumt hat, vor allem an mir. Er ist genau so ein Teil des Programms wie der Entschluß, wieder zu üben, und wie die Absicht, Geld zu verdienen. Ich bin sehr glücklich, daß sie das will, und daß sie wieder ein Ziel hat. Ob sie durchhalten wird, das weiß ich allerdings nicht. Dagegen weiß ich bestimmt, daß ich ihr von dem Prozeß nicht abraten dürfte, selbst wenn ich es möchte. Sie ließe sonst auf der Stelle auch alle andern Vorhaben fallen. Und dann?«

Glaubte Nele, was sie sagte? Der Klang der Aufrichtigkeit hatte ihren Worten durchaus nicht gefehlt. Aber es tat ihm doch leid, daß Nele in dieser häßlichen Angelegenheit mit ihrer Mutter ein Herz und eine Seele war, und daß sie das Wort »hassen« mit der gleichen schneidenden Schärfe aussprechen konnte wie ihre Mutter, und dazu noch mit einer fast krankhaften Erbitterung, die ihm nahe an Wollust zu grenzen schien. Valär wußte in diesem Augenblick jedoch nicht, wie er es anfangen sollte, um mit ihr über diese Sache in vernünftiger Weise zu sprechen, und daher schwieg er. Er sagte nur:

»Ja, deine Mutter! Du magst manchmal nicht wissen, wie du es ihr recht machen sollst.«

»Niemand weiß das, Herr Valär. Für jeden ist sie eine schwierige Nuß. – Wissen Sie, daß ich Sie wegen Ihrer Geduld mit ihr geradezu bewundert habe?« 369

»Nein, Geduld war das nicht, Nele. Geduld ist keine Tugend von mir. Es war mir nur elend. Und ein wenig war es auch die soldatische Schulung. Als Soldat muß man ja manches hören und dazu schweigen können, gehe es einem noch so arg wider den Strich. Außerdem bin ich es ja schon gewohnt, daß deine Mutter einfach alles so rennen läßt, wie es in ihrem wilden Kopf zufällig daherkommt.«

Es schien Nele zu amüsieren, daß er es für gut fand, so von ihrer Mutter zu sprechen, so, wie von einem kleinen, noch nicht zur Stubenreinheit erzogenen Kind. Aber einer zustimmenden Aeußerung wich sie ebenso aus wie einer Gegenerklärung.

Nach einer Weile nahm Nele wieder das Wort. Sie sagte:

»Und nun werden Sie wieder einrücken müssen?«

»Ja, nächsten Donnerstag.«

»Für längere Zeit?«

Er gab ihr Bescheid.

»Oh, da werden wir uns ja viele Wochen nicht sehen!«

Allerdings. Bis er wieder heimkomme, werde es Sommer sein, bestätigte er. Aber dann seien ja die langen Tage, und dann komme er auch unter der Woche manchmal nach seinem Häuschen. Auch das Wasser in seinem See sei dann warm. »Dann mußt du einmal zu mir kommen, und dann werden wir zusammen schwimmen.«

»Schwimmen?«

»Warum nicht?«

Darin sei sie kein Held, gestand Nele. Sobald sie den Boden unter den Füßen verliere, sei's mit ihr aus. Er werde in dieser Hinsicht an ihr keine Freude erleben. Offen gesagt: sie sei feige.

»Die Fluchtdistanz? – meinst du das? – sie würde damit überschritten?« fragte Valär.

Einen Augenblick zögerte sie. Dann sagte sie leise und mit abgewandtem Gesicht:

»Ich kenne meine Fluchtdistanz nicht. Ich habe ja noch keine Gelegenheit gehabt, sie zu erproben . . . Nein, ich glaube nicht, daß es das ist.«

Kurz danach hielt Valär an. Sie waren jetzt bei dem Bauernhof mit dem bellenden Hund. Von der Stallaterne kam ein unsteter 370 gelber Flackerschein zu ihnen herangeflogen und hob ihre tropfnassen dunklen Gestalten als etwas schwach Glänzendes vom Hintergrund der Dunkelheit ab. Auch Nele trug einen undurchlässigen Mantel und war ohne Schirm. Weiter oben am Berg heulte der Sturm, und es regnete so, daß sie mit den Füßen im Wasser standen. Valär sagte:

»Jetzt ist's aber Zeit für dich, umzukehren.«

»Ja«, sagte Nele.

»Gott, bist du müde!«

»Ja!« wiederholte sie.

»Aber du fühlst dich doch wohl nicht krank?«

»Nein!« sagte sie. »Ich wäre nur froh, wenn ich grad auch mein Bett bei mir hätte.« – Sie stand krumm und geknickt, blickte ihn an und meinte offenbar, daß sie lächle. Aber sie rührte sich nicht von der Stelle.

Da faßte er sie unter dem Arm, hing sich ein, drehte sie um und sagte:

»Ich werde dich jetzt zurückbegleiten.«

 


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