Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XII.

Während der nächsten Wochen ging Rosa, des Umbaus wegen, auf Valärs Stadtbüro ziemlich häufig aus und ein. Auch an einem blassen Aprilmorgen, zu Beginn des Monats, saß sie auf seinem Zimmer, um den Vertragsentwurf für den Umbau des Sanatoriums durchzusehen und den endgültigen Kostenvoranschlag in seinen Einzelheiten zu prüfen. Valär hantierte an seinem riesigen Zeichentisch, die Pfeife im Mund; ab und zu wechselten sie ein paar rein geschäftliche Worte.

Plötzlich entdeckte er in einem der Worte Rosas ganz versteckt einen der kleinen Angelhaken, die sie des öfteren mit der Miene der Unschuld in ihren Fragen und Anmerkungen verbarg. Denn im Anschluß an seine Bemerkung, daß auf die Stirnwand des Wellenbadraumes, zur Vervollständigung seiner Schönheit, doch auch noch ein der Bedeutung des Ortes entsprechendes Freskogemälde gehöre, von Marius Ruckstuhl geschaffen, versuchte sie herauszubekommen, wie seinerzeit die sonderbare Bekehrung ihres Mannes zu dem von ihr stammenden Plane erfolgt sei. Valär ließ sich jedoch nicht aufs Eis der Vertraulichkeit locken, Er sagte nur lachend, daß sie ja mit dem reizenden Sorgenkinde verheiratet sei und beileibe nicht er. Nun müßte sie es auch haben.

Rosa fingerte ein wenig an ihrem stark vorstehenden Busen herum und schien leicht enttäuscht zu sein. Aber sie fügte sich, ohne 125 zu schmollen. Gehorsam blieb sie an dem ihr zugewiesenen Fenstertisch sitzen und vertiefte sich in den Vertrag. Und da der Vertrag etwas Geschäftliches war, und weil ihr Geschäftliches lag, kam sie schnell auf andere Gedanken.

Nach einer guten Weile hatte sie sogar etwas gefunden, was sie nicht so haben wollte, wie es geschrieben stand, und was sie deswegen beanstanden mußte. Sie zog die Augenbrauen bis fast unter den Ansatz ihres schön gewellten Kupferhaares empor, schielte nach Valär, der ihr jedoch, von seiner Arbeit gefangen, den Rücken zukehrte, und nachdem sie eine Weile auf einem Blättchen gerechnet hatte, sagte sie wie jemand, der etwas Wertvolles zu verteidigen hat:

»Ich sehe, daß du für Unvorhergesehenes zehn Prozent der planmäßigen Bausumme in den Kostenvoranschlag eingesetzt hast.«

»Erscheint dir das als zu wenig?« fragte Valär von seiner Arbeit am Zeichentisch.

»Oh – willst du scherzen?«

»Demnach als zu viel?«

»Ich finde zehn Prozent jedenfalls auffallend reichlich, nachdem fünf Prozent das Uebliche sind«, entgegnete Rosa und sah nicht aus, als ob sie von dieser Meinung abgehen würde.

»Bei Neubauten, ja, da rechnet man fünf vom Hundert«, erklärte Valär. »Bei Umbauten rechnet man mehr, wenn man vor dem Bauherrn als gewissenhaft dastehen will. Man rechnet acht und rechnet zehn. Manchmal rechnet man sogar zwölf oder fünfzehn.«

»Soso! Ich kann dir aber nur sagen – in meinem ganzen Leben habe ich so etwas noch nicht gehört.«

»Dann schau nur in den zweiten Vertrag, der von dem Kücheneubau handelt. Dort sind fünf Prozent eingesetzt. Nur im Voranschlag für den Umbau stehen die zehn, von denen du sprichst.«

Rosa blätterte in ihren Papieren, bis sie die Stelle gefunden und sich überzeugt hatte, daß es so war, wie er sagte.

»Aber warum dieser Unterschied?« fragte sie wißbegierig.

»Die Sache ist einfach. Bei einem Neubau ist das Terrain noch frei. Ich kann mich deswegen vorher durch Bohrungen von seiner Beschaffenheit überzeugen und die Kosten für die Erdarbeiten 126 und die Fundamentierung genau berechnen. Ich kenne auch die Leistungsfähigkeit des Materials, das ich für einen Neubau vorsehe, und die Vertrauenswürdigkeit der Firmen, an die ich die Arbeit vergebe. Die Möglichkeit von unangenehmen Ueberraschungen ist deswegen gering. Bei einem Haus, das ein anderer gebaut hat, stehe ich dagegen vor einer fertigen Situation, die ich trotz aller Stichproben nur unvollkommen durchschauen kann. Es ist wie bei einem Kranken, den man mit einer bestimmten Diagnose als operationsreif ins Spital bringt. Die Diagnose kann haargenau stimmen. Es ist aber auch möglich, daß der Chirurg nach dem Oeffnen des Bauches vor ungeahnten Ueberraschungen steht. Solche Ueberraschungen können bei einem Umbau auch unsereinem beschieden sein. Zur Deckung dieses Risikos wird der Posten ›Unvorhergesehenes‹ entsprechend erhöht.«

Hartnäckig sagte Rosa:

»Aber wir haben doch den Beschrieb des alten Gebäudes. Er gibt Auskunft über den Untergrund und das verwendete Material.«

»Das stimmt. Aber der Beschrieb gibt keine Auskunft, ob der Baumeister nicht ein Spitzbube war, und ob er das vorgesehene gute Material nicht da und dort durch geringere Baustoffe ersetzt hat, um seinen Profit zu erhöhen. Dem Baubeschrieb ist auch nicht anzusehen, wie sich der Untergrund seit dem Bestehen des Hauses verändert hat, und ob wir nicht beim Ausheben der Schwimmbecken auf Verhältnisse stoßen, die uns zu stärkeren Fundamentierungen oder zu umfangreichen Drainagen zwingen. In allen diesen Fällen würde ich vor größeren Ausgaben als den vorgesehenen stehen, und dagegen muß ich mich schützen«, erklärte Valär.

Rosa blickte von neuem in die Papiere, schlug die Beine übereinander, blätterte, suchte und bemerkte nach einer Weile:

»Hier steht ein Paragraph 23, und der Paragraph lautet: Für alle den anerkannten Voranschlag von 96 250 Franken übersteigenden baulichen Kosten haftet der Architekt mit seinem ganzen Vermögen.«

»Du hast ja selbst gewünscht, daß eine derartige Bestimmung in den Vertrag komme«, sagte Valär. 127

»Ich habe den Passus gewünscht, damit ich den Vertrag jedem Geschäftsmann vorlegen kann, ohne mir von ihm sagen lassen zu müssen, daß ich eine blutige Anfängerin sei, die sich nicht zu sichern versteht. Sogar mein Vater müßte mit mir zufrieden sein können«, erwiderte Rosa mit tiefgerunzelter Stirn und blickte wirklich wie ein ernsthaftes Schulmädchen drein, das mit der allerbesten Note abschneiden möchte. »Aber nun ist deine Antwort auf diesen Passus, daß du den Betrag für das Unvorhergesehene von fünf auf zehn vom Hundert erhöhst.«

Sie war gekränkt, daß unter alten Freunden so etwas vorkam.

»Selbstverständlich«, lachte Valär aufgeräumt. »Oder traust du mir zu, daß ich nichts sehnlicher wünsche, als allfällige Mehrauslagen aus eigener Tasche bezahlen zu dürfen, nur weil du die Bauherrin bist?«

»Du verstehst mich nicht! Ich meine doch nur, daß wir bei einem Ansatz von fünf Prozent für Unvorhergesehenes mit einem Voranschlag von 91 875 Franken ausgekommen wären, während jetzt, bei deinen zehn Prozent, 96 250 Franken mein Budget belasten.«

»Rosa, du übersiehst, daß ich weder 96 000 noch 91 000 Franken wirklich verbauen will. Ich hoffe vielmehr, daß du bei der ganzen Geschichte mit 87 500 Franken davonkommst – daß wir also die zehn Prozent mehr überhaupt nicht angreifen müssen. Warum bist du trotzdem so verbohrt, und tust heute schon so, als wären die zehn Prozent glatt verlorenes Geld?«

Rosa schaute ihn von unten her an, lange. Es war etwas Geplagtes in ihrem Gesicht, aber auch etwas Gieriges und zugleich Schlaues. Wieder dachte Valär an ihren Vater. Mit einemmal schüttelte sie den Kopf, richtete sich sehr gerade auf in ihrem Stuhl und sagte entschlossen:

»Es geht nicht um das, was du hoffst! Es geht um dein Honorar!«

Valär verstand nicht.

»Mein Honorar?«

Sie nickte, blickte triumphierend in ihre Papiere und versetzte wie jemand, der vor einer endlich gewonnenen Schlacht steht:

»Paragraph 7 bestimmt, daß dein Honorar acht Prozent des 128 Voranschlages betrage mit 5000 Franken Anzahlung bei Abschluß des Vertrags.«

»Die acht Prozent sind die offiziellen Ansätze unseres Verbandes, Planarbeit und Bauleitung inbegriffen. Das sage ich dir heute doch nicht zum ersten Mal.«

»Ich weiß es. Und ich will auch nicht, daß du aus Freundschaft unter diesen Ansatz heruntergehst. Aber bei einem Voranschlag von 96 250 Franken bekommst du mehr als dir von Rechts wegen zusteht, wenn du die Arbeiten, wie du sagst, wirklich für 87 500 Franken zu erledigen erhoffst. Die Differenz beträgt immerhin 700 Franken. Diese Summe bekämst du zuviel.«

Daß diese Erwägung hinter allen bisherigen Einreden Rosas gegen den zehnprozentigen Zuschlag für Unvorhergesehenes stecken könnte, das hatte Valär allerdings nicht vermutet. Und weil er sofort begriff, daß er Rosa die ganze Baufreude verdürbe, wenn sie von ihm fortgehen müßte ohne die Genugtuung, ihm wenigstens eine Kleinigkeit abgeschachert zu haben, und ohne das Gefühl, doch noch ein wenig schlauer als er gewesen zu sein, erwiderte er:

»Gut, dann ändern wir den Paragraph 7 also dahin ab, daß ich als Honorar acht Prozent von der wirklichen Bausumme erhalte.«

Rosa triumphierte nicht. Sie leckte sich nur die Lippen ab, drückte ihre langgeschnittenen grünen Augen ganz eng zusammen, und antwortete fast unterwürfig:

»Dann sind wir einig! Und du darfst nicht denken, daß es mir wegen der paar hundert Franken mehr oder weniger ist, die du bekommst. Ich bin nur grundsätzlich dagegen, daß Gewinnsucht und Egoismus des Einzelnen, die das ganze jetzige Weltdurcheinander verschuldet haben, auch in Zukunft einer gerechten Verteilung der irdischen Güter im Wege stehen. Außerdem machen wir ja ein Geschäft miteinander, nicht wahr, und bei allen solchen Angelegenheiten muß ich das Gefühl haben, daß ich an Tüchtigkeit meinen Partnern gewachsen bin, und daß ich die Dinge nicht auf die leichtfertige Schulter nehme, wie gewisse andere Leute das alle Tage mit ihrem Heldenkram tun. Bloße Geschenke aber hast du ja glücklicherweise nicht nötig.« 129

Eine prachtvolle Frau – demütig wie eine Sklavin und gerissen wie sechs Genuesen. Valär lachte in sich hinein. Er war geschlagen.

Bald danach meldete Luise, draußen sei ein Fräulein und frage nach Frau Doktor Streiff.

»Rosa, hast du gehört? Ein Fräulein ist da und wartet auf dich«, sagte Valär.

»Ach, mich geht das an? Dann entschuldige, bitte!« Und sich an Luise wendend: »Hat das Fräulein gesagt, daß es mich abholen wolle?«

»Ja, ich glaube, so sagte es«, antwortete Luise.

»Wenn du erlaubst, Andrea, möchte ich das Mädchen schnell hereinkommen lassen. Es könnte mir noch etwas besorgen, bis ich hier vollends fertig bin.«

Er winkte Luise, und sie verschwand.

Unmittelbar danach erschien auf der Schwelle ein großes mageres Mädchen, mit zwei langen goldroten Zöpfen vorn auf der Brust, ein blasses Nordlicht, schüchtern und kühl, die Züge noch unbestimmt, im Werden begriffen – und im nächsten Augenblick erkannte Valär in ihm das gleiche hochbeinige Geschöpf, das ihm im vergangenen Februar, auf dem Heimweg aus seinem Revier, in den Wiesen beim Schwedenhäuschen begegnet war. In diesem Moment blickte das Mädchen ihn an. In ihren Augen sprang etwas auf, fragend, neugierig, unbestimmt, aber er spürte, wie dieses Etwas sich sofort wieder duckte, gleich einem Hasen im Klee, und dann war es nicht mehr zu sehen. Von neuem spürte er eine seltsame Rührung.

Fast gleichzeitig sagte Rosa, mit dem Gesicht einer Sibylle:

»Guten Tag, Nele!« – Und zu Valär: »Das ist Fräulein Ellegast« – und zu dem Mädchen: »Das ist Herr Valär.«

 


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