Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XXII.

Niemand hätte erraten können, in welchen Poren und unergründlichen Bodenspalten von Lilys Seele die vertraulichen Worte Dr. de Kälbermattens versickert waren. Umgekommen waren sie jedenfalls nicht. Denn Lily war von Stund an wie ausgewechselt. Auf Abreise drängte sie fortan bei niemand mehr; sie knallte keine Türen mehr zu; man hörte sie nichts mehr von Narrenhaus sagen. Ihr Mann schien ihr wieder ein Gegenstand des Wohlgefallens 226 zu sein, und das in einer Art, die niemand verdächtig fand. Selbst wenn er barsch und gehässig wurde, ließ sie es ihn nicht entgelten. Auch vor Rosa behielt sie die Krallen in ihren Scheiden. Der abgespannte und gequälte Ausdruck, den sie mit sich herumgetragen hatte, verschwand aus ihrem Gesicht, und sie verwandelte sich wieder in die dunkle weiche Brünette mit den warmen nachgiebigen Augen und der ebenso nachgiebigen Stimme, als welche sie Valär in Ragaz begegnet war. Und als Abgottspon im Sanatorium Dr. Streiffs seinen Einzug hielt, in Begleitung seines Freundes Valär, von diesem dorthin empfohlen, schloß sie sich schon am ersten Tag jenem an, so eng wie noch keinem andern Menschen in diesem Haus, und sie tat es vor aller Augen.

Abgottspon war im Auftrag seines amerikanischen Zeitungssyndikats als Kriegskorrespondent vom abessinischen Kriegsschauplatz auf den spanischen hinübergewechselt und hatte das Valär seinerzeit auch geschrieben. Aber nun stockte der Kampf, und Abgottspon benutzte die entscheidungslose Zeit, um sich in der Heimat zu erholen und Valär dabei nahe zu sein. Jedoch mit diesem zweiten Vorhaben hatte er Pech. Bei den üblichen militärischen Veränderungen von Neujahr war Valär zum Chef eines Divisionsstabes aufgerückt. Im Land war die Neuordnung des Heeres im Gang, und im Zusammenhang damit war auch Valär zu einem mehrwöchigen Generalstabskurs einberufen. Er konnte Abgottspon gerade noch in dem Haus der Lebensfreude versorgen. Dann schlüpfte er in seine Uniform und reiste ab.

Abgottspon wurde vom Tag seines Erscheinens an im Sanatorium nur der Riese genannt, und dieses Wort paßte. Es paßte zu seinem athletischen Körperbau, seiner dröhnenden Stimme, seinem dunklen struppigen Haar und zu der Art, wie eine innere Kraft seinen Körper nach hinten warf, wenn er im Gehen plötzlich anhielt, weil er stehenbleiben und etwas erzählen wollte. Wenn er lachte, so hörte man ein tiefes, langsames Gebrüll, das aber nichts Abstoßendes, Rohes oder Schamloses hatte. Es wirkte im Gegenteil anziehend wie das Freudengebrüll eines sehr großen glücklichen Kindes. Er war im Niltal geboren, als Sohn eines Schweizer Hoteliers, und hatte die neuen Sprachen studiert. Aber 227 seit er seine Examina gemacht hatte und unabhängig geworden war, litt es ihn nicht mehr daheim, und von da an war er durch viele Länder gezogen, unermüdlich von Kriegsschauplatz zu Kriegsschauplatz reisend, um Gottes Mühle an der Arbeit zu sehen, anfangs als Dolmetsch, später als Journalist. Er war glücklich, wenn es Feldherren gab, die gute Schlachten schlugen, und wenn er in der Lage war, die Welt mit ihnen bekanntzumachen. Er trug fröhliche und traurige Lieder aller Länder und Völker in seinem Innern mit sich herum und summte sie gern vor sich hin, wenn er allein war. Manchmal ließ er sich auch dazu bewegen, daß er davon einige sang. Geschichten konnte er erzählen wie eine Chronik, und wenn es ans Tafeln ging, war er jeder Lustbarkeit zugetan. Mit der gleichen gelassenen Fröhlichkeit ertrug er jede Entbehrung. Am liebsten wäre er in einem Wagen mit großhörnigen silbernen Stieren gereist, sechs Paare hintereinander, und hätte an die geschwungenen Hörner frische Bretzeln geheftet, Bretzeln mit bunten Bändern für alle die Kinder, die den Mut hatten, an die Stiere heranzugehen und sie sich zu holen. »Hallo – hallo – hallo – wie geht's«, das war seine Begrüßung. Und wenn er jemand besonders gewogen war, so vertraute er ihm auch an, daß er direkt von den Göttern abstamme, nur wisse er nicht sicher, von welchen.

Trotz seinem athletischen Körperbau war er kein schwerfälliger Mann, und schon in den ersten Tagen seiner Anwesenheit führte er zu seinem Privatvergnügen und zur gemeinsamen Unterhaltung mit den übrigen Insassen des Hauses ein paar aus der Mode gekommene Spiele mit Erfolg wieder ein: Tanzknopfspiel, Stelzenlaufen, Seilspringen, Fadenkäuen, Ins-Paradies-Hüpfen und ähnliches mehr. Die Aufnahmeschwester war ihm dankbar dafür. Sie hielt viel von Zerstreuung. Aber gerade davon hielt das nicht altern wollende Fräulein Molitor nichts, und besonders ging es dieser Dame durch Mark und Bein, daß Abgottspon zum Gruß vor ihr einfach die Zähne bleckte und dazu stumm wie ein großes Roß nickte.

Um so unverkennbarer war sein belebender Einfluß auf Lily. Schon am ersten Abend lachte sie den Riesen an wie ein Mädchen, 228 das gekitzelt wird und davon noch mehr haben möchte – noch niemals hatte sie sich im Sanatorium Männern gegenüber in dieser Art aufgeführt. Von der Vorstellung, daß er direkt von den Göttern abstamme, schien sie geradezu einen leichten Schwips bekommen zu haben. Denn sie fragte ihn, ob mit seiner göttlichen Abstammung auch noch ein Stück der Fähigkeit, sich in einen Schwan oder in einen Goldregen zu verwandeln, auf ihn übergegangen sei. Höflich und ehrlich wie er war, antwortete er, er sei bisher stets ohne solche Tricks ausgekommen. Aber wenn es gewünscht werde, wolle er das nächste Mal gern seine Zauberkräfte versuchen.

Genau vier Wochen nach seiner Ankunft reiste Abgottspon wieder ab.

 


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