Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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LIII.

Frau Ellegast erschien auf die vereinbarte Zeit; wie eine zerfetzte Rauchfahne fegte sie ins Zimmer herein, und mit einem kurzen heiseren »Danke!« setzte sie sich auf den angebotenen Stuhl. Aber als der Rechtsanwalt Heß, der sie nie hatte spielen hören, mit seiner leisen sanftmütigen Stimme sich als Bewunderer ihrer Musik bei ihr einführen wollte, wischte sie ihm so heftig 505 über den Mund, daß nur seine Routine im geduldigen Hinnehmen der dicksten Beleidigungen ihn vor einem glatten Durchfall bewahrte.

»Ach, schweigen Sie von Musik!« fuhr sie ihn an. »Glauben Sie, ich hätte nicht gesehen, wer eben bei Ihnen war? Sie sind ja nur der Handlanger der gemeinsten Person, die jemals meine Wege gekreuzt hat.«

»Sie meinen – –?« fragte der Rechtsanwalt.

»Frau Doktor Streiff meine ich . . . Im Wartezimmer bin ich gesessen und habe gehört, wie Sie sie auf dem Gang da draußen verabschiedet haben. Machen Sie doch keine Faxen!«

»Sie scheinen nicht gut auf diese Dame zu sprechen sein?«

»Es gibt überhaupt keine Worte, um auszudrücken, in welch schamloser Weise diese Frau mich hintergeht und unter der Maske der Freundschaft ihr Gespött mit mir treibt«, platzte Frau Ellegast los. »Weiß sie denn überhaupt, daß Künstler ebenfalls eine Ehre haben, auf der man nicht ungestraft nach Belieben herumtrampeln kann?«

Der Rechtsanwalt machte ein melancholisches Gesicht und sagte verträumt:

»Künstler – ich bin erstaunt, daß Sie dieses Wort so besonders betonen. Wenn ich mir vergegenwärtige, was die Kritik, die schließlich ja doch einigermaßen ein Urteil hat, über Ihre Darbietungen geschrieben hat – –.«

»Geschrieben!« unterbrach ihn Frau Ellegast mit einem dicken, heiser bellenden Lachen, »– mein ganzes Leben lang bin ich dorthin gegangen, wo die Schußlinie war und das zusammengefaßte Feuer aller Waffen auf mich gewartet hat. Auch ›Hundefutter‹ und ähnliches Dynamit schmeißt mich nicht um. Deswegen ziehe ich meine Musik doch immer noch jeder andern vor – auch der Ihren.«

»Das ist sehr tapfer von Ihnen«, sagte Heß. »Wie kann Ihre Künstlerehre dann überhaupt noch beleidigt werden?

»Beleidigt?«

»Ja. Beleidigt . . . Eben sagten Sie, Frau Doktor Streiff wisse 506 von Künstlerehre anscheinend nichts. Sie sagten auch etwas von Hintergehn und Gespött und von Nach-Belieben-Herumtrampeln-Können. Wie können Sie zu so empörten Vorwürfen kommen, wenn nichts Sie anfechten kann?«

»Mein Herr, angenommen, Sie wären unbekannt und wären arm. Nie hätten Sie einen Prozeß zu führen. Sie brennen darauf – Sie sind ja Anwalt – haben Ihr Büro – Sie zahlen Miete dafür – Sie wissen auch, daß Sie etwas können, aber niemand denkt an Sie und macht von Ihren Fähigkeiten Gebrauch. Da kommt ein sogenannter Freund zu Ihnen und sagt: Bitte, verteidigen Sie mich in dieser Sache. Ich gebe Ihnen tausend Franken dafür, einerlei, ob Sie gewinnen, oder ob Sie verlieren. – Selbstverständlich nehmen Sie an. Der Prozeß geht ordnungsgemäß seinen Gang, und stolz gehen Sie eines Tages nach Hause, weil man endlich einmal Bedarf für Sie hatte. Auch die Einnahme macht Ihnen Spaß. – Nach einigen Monaten erfahren Sie, daß man Sie nur genarrt hat. Die Prozeßsache war fingiert, die Richter waren fingiert, das Publikum war fingiert – alles war nur eine bezahlte Angelegenheit, ausgeführt von Statisten, um Ihnen ein Auftreten möglich zu machen und Ihnen ein Honorar zuzuspielen, das in Wirklichkeit nur ein Almosen war, die kümmerliche Entschädigung für den Mißbrauch, den irgendein reicher gewissenloser Laffe mit Ihnen getrieben hat. – Herr Doktor, wie wäre Ihnen zu Mut? Wie würden Sie so etwas nennen?«

»Auf erdichtete Fälle kann ich mich nicht einlassen, Madame«, erwiderte Heß. »Wo kämen wir hin – sagen Sie selbst! Ich bin nur für wirkliche Fälle da. Bitte, halten Sie sich an das, was geschehen ist.«

»Der wirkliche Fall ist, daß ein Agent mich engagiert für ein Konzert, angeblich aus Bewunderung für meine Kunst, und mir dreihundert Franken Honorar offeriert. In Tat und Wahrheit hat der Agent nur eine Geldgeberin hinter sich, die entschlossen ist, mich für ihre dreckigen Silberlinge öffentlich tanzen zu lassen wie einen Jahrmarktbären. Dreimal macht sie das: hier und in zwei andern Städten. Das nennt sie dann Freundschaft. Diese schamlose Mißgeburt ist Frau Doktor Streiff.« 507

Der Doktor hob seine schweren grauen Augendeckel und senkte sie wieder.

»Ich werde mit meiner Klientin sprechen. Wenn Ihre Darstellung sich bestätigen sollte, werde ich ihr vorschlagen, daß sie Ihnen Genugtuung leistet.«

Einen Augenblick lang saß Frau Ellegast mit schlappen fahlen Wangen da, als habe das Wort Genugtuung alle Kraft und Empörung von ihr genommen. Im nächsten Moment aber verzerrten sich ihre Züge wieder, und mit einem zähneknirschenden Lächeln sagte sie stolz:

»Nein, mein Herr! Ich habe keine Lust, hier eine zweideutige Rolle zu spielen. Schon zu oft in meinem Leben habe ich mich in eine zweideutige Lage hineinbugsiert. Die Etikette für den Verkehr mit solchen Respektspersonen liebe ich selbst zu bestimmen.«

Der Rechtsanwalt versuchte Frau Ellegast zu beschwichtigen. Er sprach noch einmal von Genugtuung, sogar von voller.

»Ja, bilden Sie sich denn ein, daß es für solche Tritte auf das Herz eines Menschen eine Genugtuung gibt?«

»Wir werden zusammensitzen und darüber sprechen, Madame. Ich gebe zu: das Thema ist delikat. Aber wahrscheinlich nehmen Sie gewisse Dinge doch aufregender und schwerer, als sie sind. Wir werden zusammensitzen, und es wird sich zeigen, daß sie nicht so schlimm sind, Schon für Schlimmeres hat sich bei gutem Willen eine Lösung gefunden.«

Frau Ellegast schoß in die Höhe:

»Darauf kann ich Ihnen nur sagen, daß es mir leichter fallen würde, mir die eigene Nase abzubeißen, als mich von dieser rothaarigen Hexe ein zweites Mal überlisten zu lassen.«

»Wissen Sie, daß das die dritte Beleidigung ist, die Sie sich meiner Klientin gegenüber erlauben?«

»Ich habe einen guten Charakter und nenne die Dinge so, wie sie es verdienen«, gab Frau Ellegast verächtlich zurück. »Sie haben nur keinen Sinn dafür.«

»Und worin drückt sich Ihr guter Charakter sonst noch aus, wenn ich fragen darf?« 508

»Darin, daß ich Ihre Frage als eine Unverschämtheit betrachte«, entgegnete Frau Ellegast, ohne eine Sekunde zu zögern. Im nächsten Augenblick war sie draußen.

 

Nachdem Frau Ellegast ihren größten Zorn in dieser Weise ausgetobt hatte, gewann das Vermögen der Ueberlegung, das sie ja gleichfalls besaß, wieder ein wenig die Oberhand. Sie sagte sich, daß es für sie in diesem Augenblick weniger wichtig sei, Frau Doktor Streiff ins Gesicht zu spucken, als dafür zu sorgen, daß sie nicht Stunde um Stunde und Tag für Tag wie eine unstillbar am eigenen Seelenfrieden zehrende Feuersäule vor sich selbst herging. Was sie jetzt nötig hatte, das war ein Mensch, der sich mit ihr solidarisch erklärte in dieser peinlichen Sache und ihr Fieber dadurch niederschlug, daß er sich an ihre Seite stellte. Wer anders konnte dieser Mensch sein als Nele? Außerdem, so meinte sie, könne es für sie nur von gutem sein, wenn sie sich ein wenig Abwechslung schuf, ein wenig Ausspannung und Zerstreuung. Sie mußte des Krieges wegen im Lande bleiben, und sie hatte auch nicht viel Geld. Aber am Südfuß der Alpen gab es ja einen Ort, an dem sie früher schon Gleichgestellte und Gleichgesinnte in hellen Scharen getroffen hatte, und an welchem sie außerdem von ihrer Tochter durchaus nicht so weit entfernt war, daß sie nicht zwischen Morgen und Abend bequem zu ihr hätte hinfahren und sie in Rosas Niederträchtigkeiten hätte einweihen können. Selbstverständlich würde Nele ihre Stelle aufgeben müssen – sie als Mutter würde nicht ruhen, bis Nele das tat. Von Anfang war sie ja, wie sie jetzt meinte, gegen Neles Berufswahl gewesen, und noch mehr, schien es ihr, sei sie dagegen gewesen, daß sich Nele von dieser Frau Streiff so hatte einfangen lassen, wie es geschehen war. »Du bist eine vermummte Göttin«, hatte sie zu Nele gesagt, als ihr diese mit der Gartenbauschule gekommen war, »du mußt Tänzerin werden – Tanzen ist genau eine so edle und wehmütige Kunst wie Musizieren – Musiker und Tänzer schaffen beide Werke, die nicht bestehen bleiben – niemals bekommt einer von ihnen seine Schöpfungen mit eigenen Augen zu sehen, weil sie 509 den flüchtigen Augenblick ihres Entstehens nicht überdauern. Das hebt sie über alle andern Künstler empor in ein tragisches Reich, dessen bittersüße Luft nur starke Naturen ertragen.« – Aber Nele war immer im Kopf zu beschränkt gewesen, als daß sie den Geist dieser Philosophie hätte erfassen können, und hatte sich von der eiskalten Erwerbsmaschine im Sanatorium einfangen lassen, genau wie sie auch.

Nachdem Frau Ellegast ihre Barschaft gezählt hatte, war sie zunächst sehr niedergeschlagen. Ihre Außenstände von den Klavierstunden her reichten zwar zur Begleichung der üblichen Monatsguthaben verschiedener Lieferanten von Milch, Butter, Eiern, Brot und so weiter und auch zur Bezahlung der Miete noch aus. Aber in Bälde würde auch die Prämie für die Versicherung ihrer Hände fällig sein, und mit dieser durfte sie unter keinen Umständen im Rückstand bleiben, weil die Versicherung sonst unerbittlich verfiel. Was blieb ihr dann aber für eine Erholung noch übrig, wenn sie auch diesen Betrag von ihrer Barschaft abzog?

Nach einiger Ueberlegung leuchtete ihr ein Ausweg auf. Auf dem Speicher des Schwedenhäuschens hatte sie noch eine ganze Reihe von Koffern stehen, Reisekoffer aus früherer Zeit, gute Stücke, manche davon immer noch angefüllt mit Zeug aus jenen Tagen, in denen sie sich nicht mit Geldsorgen hatte herumschlagen müssen. Sie konnte sich nicht mehr an ihren Inhalt erinnern, aber jetzt stieg sie doch fast hoffnungsvoll die Speichertreppe hinauf, zog einen Koffer um den andern hervor und packte aus.

Guter Gott, was da alles zum Vorschein kam! Hüte kamen heraus, Kleider kamen heraus, dann kamen Unterwäsche, Mäntel für jede Jahreszeit, Pelze, sogar gute, abgestandener Modeschmuck, Schirme und Schuhe. Auch Bücher, Zeichnungen und Oelgemälde waren vorhanden. Das habe ich dort gekauft, das ist ein Andenken von Lister, das dort ein Geschenk von Valerio, weil – – nun ja, weil . . .

So durcheinanderliegend war alles Plunder. Und in dem Plunder hing ihre Vergangenheit, und in manches Stück waren auch Fetzen vom Leben anderer verwirkt . . . Aber nun wurde der 510 Plunder sortiert; die Schuhe wanderten auf einen Haufen, die Mäntel auf einen, die Pelze auf einen andern, und als am Tag nachher der Trödler kam und auch die besten der Koffer mitnahm, hatte sich ihre Barschaft recht erheblich gestreckt, so daß sie vertrauensvoll reisen konnte. Nun würde das Zeug in alle Winde zerstreut, wieder würden Frauen und Mädchen sich damit behängen, und sie würden nicht wissen, wovon ihnen manchmal plötzlich so schwindelig wurde im Kopf, wenn sie darin über die Straße gingen, oder so weh ums Herz, wenn sie versuchten zu lächeln.

 

Frau Ellegast fiel bei ihrer Tochter ein und schüttete ihre wilden Anklagen gegen Rosa wie einen Sack voll Ungeziefer vor Nele aus, aber mit ihrem Versuch, Nele zu einer flammenden Demonstration gegen Rosa aufzupeitschen, hatte sie bei dieser kein Glück.

Nele war bisher in einem zögernden Verhältnis zu ihrer Mutter gestanden. Diese Haltung war darin begründet gewesen, daß sie von der Mutter bald vernachlässigt und weggestoßen, bald wieder eingefangen und herangezogen, verteidigt und als ein Gott weiß wie geliebtes Kind verwöhnt worden war. Vornehmlich aber hatte die Mutter immer danach getrachtet, daß sie sich Nele untertan hielt.

Jetzt war Nele der Macht ihrer Mutter entwachsen. Als daher Frau Ellegast tat, als hätten sie sich immer sehr nahe gestanden und Kummer, Entbehrungen, Glück und Leid in der selbstverständlichsten Weise miteinander geteilt, widersprach ihr Nele aus Mitleid und Nachsehen nicht. Sie ließ die Mutter aber gleichzeitig wissen, daß sie außerstande sei, in Rosas Verhalten nur ein frivoles Spiel mit der sogenannten Künstlerehre zu sehen. Rosa habe ihr wirklich den Weg in die Oeffentlichkeit ebnen wollen. Aber sie habe sich durch ihre Willkür und Zügellosigkeit die Chancen dazu selber verdorben. Sie, Nele, hätte sich deswegen mit der Forderung der Mutter auf sofortige Lösung ihrer Beziehungen zu Rosa auch dann nicht befreunden können, wenn diese Forderung rechtzeitig gekommen wäre. Sie komme aber zu spät. Denn sie habe ihr 511 Anstellungsverhältnis bereits gekündigt. Sie werde die Arbeit hier im Tessin noch fertig machen. In ihre frühere Stellung kehre sie jedoch nicht mehr zurück. Sie erwarte von Dormond ein Kind . . . Sobald die Formalitäten des Aufgebots erledigt seien, heirateten sie. Dann werde Dormond an die Ausführung seines Wandbildes gehen. Während dieser Zeit würden sie eine kleine Stadtwohnung nehmen. Was danach geschähe, sei ungewiß.

Dieses bestimmte und durch keine weiteren Vorhaltungen beirrbare Auftreten Neles, sowie der Aerger darüber, daß Nele sie bisher nicht in alle Einzelheiten ihrer intimen Beziehungen zu Dormond eingeweiht hatte, brachten Frau Ellegast dermaßen aus dem Gleichgewicht, daß sie ihre Tochter wegen ihres Zusammenlebens mit Dormond in der spitzigsten Art zu kritisieren begann.

Da wies ihr Dormond die Türe. »Wenn Sie den Umgang mit Menschen nicht entbehren können, und wenn Sie sich doch auch nicht mit ihnen vertragen können, dann machen Sie sich wenigstens nicht so mausig, wie Sie es tun«, sagte er. »Es ist das Mindeste, was man verlangen kann.«

Eine Weile danach kehrte sie heim.

 

Doktor Elmenreich, der Frau Ellegast nur vom Sehen und Hörensagen kannte, fiel es auf, daß er sie auf einer Patientenfahrt im Garten des Schwedenhäuschens stehen und mit einem Beil Holz spalten sah. Es war ein verfrühter Februarfrühlingstag, der alle Menschen so unwiderstehlich zu irgendeiner vorbereitenden Arbeit ins Freie lockte, daß ihn das ungewöhnliche Bild nicht einmal so sehr überraschte. Aber die Art, wie diese Frau das Beil herumschwang und auf das Holz einschlug, hatte einen derart beängstigenden Eindruck auf ihn gemacht, daß er daheim zu Dinah davon gesprochen hatte.

Er wunderte sich denn auch nicht, daß man ihm in der Woche danach, mitten in die Sprechstunde hinein, aus dem Schwedenhäuschen telephonierte, er möchte sofort, sofort kommen. Frau Ellegast habe sich in die Hand gehackt. Ein Finger sei ab. – Die 512 Meldung kam von der Zugehfrau. Ungesäumt fuhr er hin, zusammen mit Dinah.

Richtig, der Zeigefinger der linken Hand war weg. Beinah hätte ihn die Katze gefressen, wenn ihn die auf das Geschrei der Frau Ellegast herbeieilende Zugehfrau nicht im letzten Augenblick noch gerettet hätte. Jetzt lag er auf einem Teller und war nicht mehr zu gebrauchen, während Frau Ellegast auf dem Ruhebett im Wohnzimmer lag, die verstümmelte Hand umwunden mit einem blutigen Tuch, sehr blaß, aber bemerkenswert ruhig und dennoch nicht teilnahmslos. Sie sprach nur sehr leise, und das war Elmenreich lästig. Denn er begann neuerdings, viel zu früh für seine Jahre, schwerhörig zu werden – ein übler Zustand für einen Arzt. Verzweifelt versuchte er mit seinen blauen, immer leicht verwunderten Augen den Leuten vom Gesicht abzulesen, was sie bedrückte, wenn er das gesprochene Wort nicht mehr verstand. Oft verhörte er sich auch in der lächerlichsten Weise. Dieser Zustand machte ihn unsicher, manchmal geradezu schüchtern und zugleich reizbar. Auch Frau Ellegast mußte er bitten, lauter zu sein.

Nachdem er den Schaden eingehend besichtigt hatte, tat er, was seines Amtes war, und Dinah half ihm.

Aber vom ersten Augenblick an fiel ihm an der Verletzung allerhand auf, was zu den Erklärungen der Patientin über den Hergang des Unglücks nicht passen wollte und immer weniger paßte, je mehr er davon erfuhr. Sie habe ein Rundholz, das noch draußen liegen mußte, senkrecht auf den Hackklotz gestellt wie schon manches vorher und es mit der linken Hand ganz unten gehalten, damit es nicht umfiel. Beim Hieb habe sie offenbar zu weit links geschlagen. Denn das Holzstück sei weggeprellt, und das Beil sei ihr in die Hand gefahren. Da war der Finger schon weg.

Ja, das sah er. Der Hieb war ins Grundglied des Zeigefingers gegangen, nahe dem Gelenk, das den Finger mit der Handfläche verband. Wenn aber die ihm gegebene Darstellung richtig sein sollte, so hätte die Trennungsfläche schief von unten nach oben durch das Grundglied verlaufen müssen. Sie lag aber genau quer zur Achse des Fingers. Haut und Weichteile waren an den Rändern 513 auch nicht zerfetzt, sondern ganz glatt durchschnitten, und der Knochen zeigte keinerlei Splitterung.

»Das muß aber ein sehr scharfes Beil gewesen sein«, meinte Elmenreich zu Frau Ellegast. »Für die Wunde ist das zwar ein Glück, für den, der mit so einem Instrument umgehen muß, ist es aber nicht unbedenklich.«

»Der Wagner hat es mir erst gestern geschliffen«, versetzte Frau Ellegast.

Aber es gab noch andere Sonderbarkeiten. Denn nach der Darstellung der Frau wären noch weitere Verletzungen an der Hand zu erwarten gewesen, mindestens eine Anhiebstelle des nächstfolgenden Fingers oder des Daumens, oder Quetschwunden irgendwelcher Art am Außenrand des dem Klotz aufliegenden Handballenteils. Jedoch nicht das eine war da und auch nicht das andere. Verletzungen dieser Art fehlten ganz. Außerdem war der Blutverlust dem Tuch nach recht unternormal, als hätten die Gefäße unter dem Einfluß einer starken Kontraktion gestanden und daher nur spärliche Blutmengen abgegeben. War die Hand unterbunden gewesen? Elmenreich suchte nach Spuren dafür, fand jedoch keine. Endlich war es Elmenreich und auch Dinah durchaus nicht entgangen, daß die Schmerzempfindlichkeit der Zeigefinger- und Daumengegend außerordentlich herabgesetzt war. Sie war so stark herabgesetzt, daß er nachträglich meinte, er hätte die eigene schmerzlindernde Einspritzung wahrscheinlich überhaupt sparen können.

Als Elmenreich daraufhin die Hand außen und innen noch einmal untersuchte, entdeckte er wirklich drei kleine Verletzungen, die aber nicht von einem Beil herrühren konnten. Es waren winzige, leicht mit Blut verklebte Einstichstellen in der Daumen- und Zeigefingergegend, die vom Hantieren mit dornigem Reisig oder benadelten Tannenzweigen herstammen, aber auch ganz andere Ursachen haben konnten . . . Hm! Hatte sich die Frau am Ende mit einem lokalen Betäubungsmittel gespritzt? – Von Valär und vom Apotheker hatte Elmenreich gehört, Frau Ellegast sei früher Morphinistin gewesen. Sie war also mit der Technik des Spritzens vertraut, und es war denkbar, daß sie nach dem Unfall sofort das 514 ihr zur Schmerzbetäubung gut Erscheinende vorgekehrt hatte. Wie aber stand die Sache, wenn die Einspritzungen erfolgt waren, bevor der entscheidende Beilhieb den Finger abgetrennt hatte?

Nachdem die Hand kunstgerecht eingeschient war, sagte Elmenreich:

»Sie werden den Arm von jetzt an in einer Schlinge tragen, die Ihnen meine Tochter noch machen wird. Komplikationen sind nicht zu erwarten. Sie werden meine Besuche daher bald wieder entbehren können. Uebel genug sind Sie aber auch nach Ihrer Wiederherstellung noch daran. Denn Ihre Kunst werden Sie kaum mehr ausüben können.«

»Zum Glück sind meine Hände versichert«, sagte Frau Ellegast, und Elmenreich nahm wahr, daß sie sich wappnete.

»So. Nun, das ist ja günstig für Sie.«

»Seit bald fünfundzwanzig Jahren habe ich nun bezahlt und bezahlt, und das nicht wenig. Nie habe ich davon einen Nutzen gehabt, und mehr als einmal wollte ich die Versicherung eingehen lassen. Aber jetzt bin ich doch froh, daß sie noch läuft.«

Elmenreich blickte sie an, fragend und forschend.

»Dann werden Sie den Schaden aber sofort anmelden müssen.«

»Ich weiß. Unter Beilage eines ärztlichen Attestes, dessen Unterschrift notariell beglaubigt ist, heißt es in dem Vertrag . . . Werden Sie mir dieses Attest schreiben?«

»Ist die Versicherung hoch?« fragte Elmenreich.

»Fünfundzwanzigtausend Dollar für jeden Handschaden, der mir das weitere Auftreten in Konzerten unmöglich macht.«

Elmenreich und Dinah blickten sich an.

»Ich kann Ihnen eine Befundaufnahme ausstellen«, erwiderte er. »Bei Patienten mit Versicherungsansprüchen sind wir Aerzte sogar verpflichtet dazu.«

»Was ist das: eine Befundaufnahme?« wollte Frau Ellegast wissen.

»Was das Wort sagt: ein genauer Bericht über die Art der Verletzung.«

»Also nicht auch ein Bericht über den Hergang?«

»Nein. Ich bin ja nicht dabeigewesen. Diesen Bericht über den 515 Hergang müssen Sie selbst verfassen. Ich habe nur zu melden, wie sich der Vorgang nach den Aussagen des Patienten zugetragen hat. Falls Augenzeugen vorhanden sind, müssen Sie auch diese in Ihrem Bericht miterwähnen.«

»Zeugen sind keine da. Ich weiß von keinen«, sagte Frau Ellegast.

»Dann sollten Sie wenigstens das Beil aufbewahren. Nichts daran ändern und säubern, könnte nur gut sein. Auch den Hackklotz, an dem das Unglück geschehen ist, sollten Sie in seinem Zustand belassen. Bei so hohen Versicherungen pflegen die Gesellschaften sehr genau nachzuforschen, ob auch alle Angaben stimmen oder wenigstens stimmen können. Sachliche Ausweise vereinfachen vieles.«

Auf der Heimfahrt sagte Elmenreich zu Dinah:

»Diese Geschichte wird noch ein Nachspiel haben.«

»Ich weiß, was du sagen willst. Ich habe sofort gemerkt, daß dir verschiedenes gar nicht gefallen hat. Was es war – dahinter bin ich freilich auch jetzt noch nicht gekommen.«

»Das kann man auch nicht verlangen von dir. Du solltest dich aber auch in diesen Dingen auskennen lernen, und deswegen will ich es dir sagen.«

»Also Selbstverstümmelung?« fragte Dinah, nachdem der Vater zu Ende war.

»Wer weiß! Jedenfalls nicht ganz unwahrscheinlich.«

»Aber warum?«

Elmenreich zuckte die Achseln:

»Der Mensch wird mir immer unbekannter. Aber die Juristen halten sich trotzdem für helle Köpfe. Sie unterscheiden deswegen Selbstverstümmelung aus Spieltrieb, aus Selbstvernichtungstrieb und aus Selbsterhaltungstrieb. Lies dir aus, was du willst. Aber behalt es für dich. Solange man uns nicht fragt, geht es uns auch nichts an. Ich diktiere dir meinen Befund, und damit fertig.« 516

 


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