Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XLV.

Außergewöhnlich früh, schon in den ersten Junitagen, setzte der Sommer ein mit einer Hitzewelle, wie man sie in dieser Gegend selbst zu späterer Jahreszeit nur ganz selten erlebte. Valär fuhr daher täglich nach seinem Tuskulum. Hier oben zirkulierte die Luft noch an lebendigen Wäldern vorbei, bevor sie zu den Menschen kam, und die Nächte waren erträglich, gegen Morgen hin sogar frisch, während in den Häuserschächten der Stadt an Schlaf 435 kaum zu denken war, wenigstens nicht für erwachsene Menschen.

An einem Mittwoch hatte er über Mittag durchgearbeitet, um früher frei zu sein, und war schon vor sechs Uhr oben am Berg. Er hatte sofort nach der Ankunft ein Bad genommen, im See, hatte in unmittelbarem Anschluß daran gegessen und sich dann auf dem Sofa hingestreckt, um zu schlafen. Als er erwachte, zeigte ihm ein Blick auf die Armbanduhr, daß es nur noch anderthalb Stunden bis Mitternacht war. Simba lag vor dem Sofa auf der Seite am Boden, alle viere von sich gestreckt, und klopfte mit dem Schwanz auf das Parkett, als sein Herr sich rührte und dann erhob. Seline war zu Bett gegangen. Nur im Eßzimmer brannte ein Licht. Vorsichtshalber hatte Seline es angedreht, denn alle Fenster und der Ausgang zum Garten standen noch offen. Er ließ es brennen, nahm eine Zigarette vom Tisch und trat unter die Türe.

Herrgott, was für eine verzauberte Welt! Der Föhn hatte die Herrschaft nun völlig an sich gerissen und hielt mit seinem Druck die Wärme so unerbittlich am Boden fest, daß sie sich nicht rührte. Kaum, daß ein Hauch zu verspüren war. Am Himmel aber stand der Mond, noch zwei Tage von seiner Fülle entfernt, und übergoß eine unübersehbare Schar kleiner weißer Lämmerwölkchen, die gegen Westen hin dichter wurde, mit silbernen Fluten dünnen, trockenen, zitternden Lichtes.

Valär fühlte sich ausgeruht und unternehmungslustig. Als er das Wasser zwischen den Bäumen hindurchschimmern sah, beschloß er, nochmals ein Bad zu nehmen und dann in den Wald zu gehen. Simba merkte etwas, stieß ein beifälliges hohles Bellen aus und wich ihm nicht mehr vom Fuß.

Das Wasser knallte, als er vom Bootssteg hinuntersprang; er prustete kräftig, denn das Wasser war kühl, und kaum war der Knall davongeschossen, so fing es im Walde jenseits des Sees heftig zu schimpfen an. Es war ein schmälender Rehbock, der sich erschrocken hatte und weiterscheltend tiefer ins Holz zog. Am überhöhten Rand des nämlichen Waldes bemerkte Valär während des Schwimmens einen sehr hellen Fleck, der ihm fremd war. Es war ein größerer Gegenstand, den der Mond zufällig sichtbar machte. Der Gegenstand bewegte sich nicht. 436

Während er sich auf dem Ufersteg trocken rieb, fiel ihm der helle Fleck wieder ein. Er schaute in der vermuteten Richtung, aber der Fleck war verschwunden. Gleich danach stutzte er. Denn in einiger Entfernung von der Stelle, an der er den Fleck gesehen hatte, ging eine helle schmale Gestalt in der Richtung des Hinterlandes. Ihr Gang war beschleunigt. Eine Weile verfolgte er die Gestalt mit den Augen und spürte, wie sein Herz heftig zu klopfen begann. In einer plötzlichen Eingebung hielt er die Hände hohl an den Mund und ließ den Vorschlag des Waldkauzrufs erschallen. »Wauwau!« sagte Simba. In diesem Augenblick hielt die Gestalt an, und auf sein »Huhu« kam im üblichen Intervall als Antwort der Hauptruf dieses Nachtvogels zu ihm herüber.

Es war also Nele! Sie hatten einmal diesen Ruf im Walde geübt.

 

Als sie sich vor seinem Haus auf dem Pappelweg trafen, war Nele noch ziemlich atemlos. Sie war ein Stück weit gelaufen, seit sie wußte, daß er noch munter war, und sie versuchte nicht, die gehabte Eile vor ihm zu verbergen. Schnappend antwortete sie auf seine Fragen mit Ja und mit Nein, und zuletzt sagte sie, und ihre hastige Stimme schaukelte leicht, während sie sprach:

»Und ob! . . . Dieses Silber! . . . Ich war ja schon richtig zu Bett gegangen . . . Du bist ruhig, habe ich zu mir gesagt, du schläfst, du bist nicht gemeint, du nimmst dich zusammen! . . . Alles umsonst! Das Licht ist davon nur noch wilder geworden. Da bin ich aufgestanden und bin gegangen.«

Neles Hand war so heiß und bebte so stark, daß er sie nicht länger halten konnte. Er ließ sie los. Wildes Licht! . . . Valär starrte zum Himmel empor. Ja, man konnte so sagen . . . War es nun schöner, sich vorzustellen, daß sie daheim lag und schlief, wie ein müdes Kind, welches das alles nichts angeht – oder daß sie wie ein schwärmender Nachtfalter fortgestürzt war, und daß sie sich auf ihrem Fluge gefunden hatten? Unsinn, wie konnte man eins mit dem andern vergleichen! Beides war schön. – Die kleine Falte auf seiner Stirnhaut glättete sich, abermals faßte er nach ihrer glühenden Hand und war mit einemmal dankbar dafür, daß er 437 sie halten konnte. Dann drehte er sich nach der Richtung um, aus der Nele gekommen war, und schob seinen Arm leicht durch den ihren. Er war ganz ruhig und fühlte sich während des Stehens vom Bad her so abgekühlt, daß ein bißchen Gehen nur gut tun konnte.

»Vom Wasser aus habe ich drüben am Wald etwas Helles gesehen«, sagte er. »Schon vorher hatte ich einmal an dich gedacht. Aber ich dachte nicht, daß der Fleck mit dir wirklich etwas zu tun haben könnte. Bis der Fleck dann Beine bekam.«

»Es war bei den Pfaffenhütchen. Sie blühen jetzt,« sagte Nele.

»Liegt nicht ein alter Baumstamm dort?«

»Ein Ahorn«, bestätigte sie. »Wir haben uns früher einmal an der Stelle getroffen – können Sie sich erinnern? . . . Dort bin ich gesessen.

Er erinnerte sich und blickte sie an.

»War das schön?« fragte er.

»Ich habe Simba bellen gehört. Und im Haus brannte ein Licht . . . Ja, es war schön . . . Ich habe über das Wasser geschaut und habe mich gar nicht mehr gefürchtet.«

»Oh –!«

»Es war trotzdem so, daß ich mich auf dem Weg hierher mächtig gefürchtet habe,« beteuerte sie. »Es war Unsinn, ich wußte es, aber ich war machtlos dagegen. Wer sollte mir etwas tun! Und an Gespenster glaube ich ja ebenfalls nicht. Trotzdem habe ich fortwährend ganz schrecklich Angst gehabt. Immer wieder habe ich mich ein Stückweit so gefürchtet, daß ich gelaufen bin, sogar bergauf, und dann habe ich mich wieder nicht mehr gefürchtet. – Später habe ich bei Ihnen Licht gesehen. Da war die Angst fort.«

Er fühlte, wie sein Arm den ihren losließ und sich um ihre Schulter legte. Sie hob diese Schulter ein wenig höher, und er empfand es als dankbar, daß sie nicht von neuem zu beben begann.

»Diese Frösche!« sagte Valär nach einer Weile . . . Sie blieben stehen und lauschten dem dröhnenden Nachtkonzert. Manchmal riß es ganz plötzlich ab. Einige Sekunden lang herrschte beklemmende Stille, weil Hunderte von Stimmen wie ausgelöscht waren. 438 Dann ließ sich irgendwo ein Vorsänger hören, und mit ungebrochener Macht fiel der Chor wieder ein.

»Wo sind sie bloß?« fragte Nele interessiert.

»In den Riedgräben. An seichten Uferstellen im See. Sehr beliebt sind Logensitze auf Seerosenblättern. – Hörst du? Jetzt schreit auch ein Fuchs.«

Neles Aufregung schien sich gelegt zu haben. Sie bebte nicht mehr, und mit einem warmen versteckten Lachen sagte sie heiter, beinahe zärtlich:

»Alles schreit! . . . Hinter den Scheunen haben die Katzen geschrien – die Wiesen sind voller Grillengeschrei – daheim schrie meine Mutter mit mir – Sie haben über den See geschrien – und als ich auf dem Baumstamm saß, da schrie hinter mir im Walde ein Tier, daß es mich fast umgelegt hat. Was für ein Tier ist das gewesen? . . . Herr Valär, ich hätte dem Tier vor Mitgefühl um den Hals fallen mögen. Es ist ja, als wüßte mit einemmal keines mehr allein sich zu helfen.«

So also stand es mit ihr! . . . Da lauschte sie mit ihm in die tönende Nacht, die Arme nackt, die Augen schwarzgelb und groß, die weißen Schuhe versilbert vom Licht, und spürte sich in ewige, große, unwandelbare Zusammenhänge hineinbezogen! Ein unfaßbarer Geist, der wie die Sonne erleuchten und wie ein Irrlicht verblenden kann, hatte sie angehaucht und ihr kleines Schifflein in Fahrt gebracht . . . Valär fand es rührend, daß sie zu dieser ins Ungewisse steuernden Fahrt ihr blaßgelbes langes Velourkleid angelegt hatte, als ginge sie zu einem Fest, und während er sie mit Wohlgefallen betrachtete, obgleich das Mondlicht einen ganz andern Menschen aus ihr zu machen schien, blickte sie ihn unverwandt an, im Gesicht noch immer das versteckte, warme, fast zärtliche Lachen, mit dem sie gesprochen hatte.

»So, auch noch vor Mitgefühl«, neckte er sie und zupfte ein wenig an ihrem Haar, »geradezu mit Begeisterung und so weiter – gut, daß ich das weiß. Ich werde es dem Rehbock beim nächsten Mal melden!«

»Ah! Ist es ein Rehbock gewesen?«

»Wahrscheinlich sogar ein sehr guter.« 439

»Darauf kann ich nur antworten, daß mir das in jenem Augenblick herzlich gleichgültig war. Ich hatte etwas viel Schöneres im Kopf.«

Auf seinen fragenden Blick setzte sie freimütig hinzu:

»Ich habe gewünscht, daß Sie herauskommen möchten.« – Plötzlich ließ sie den Kopf heruntersinken und sagte leise: »Aber vielleicht können Sie mich nicht einmal brauchen, und ich bin Ihnen nur im Weg.«

»Sag das nicht! Es ist wunderbar, daß du gekommen bist. Geschlafen hab' ich ja schon. Ich wäre ohnedies noch in den Wald gegangen.«

»Oh – wollten Sie etwas schießen?«

Valär drehte sich um und pfiff. Wo war Simba? . . . Aber Simba hatte längst kehrtgemacht und war langsam nach Hause gezottelt. Wäre sein Herr nach der Begrüßung auf dem Pappelweg wieder zurückgegangen und hätte die Büchse geholt: Wauwau – mit Vergnügen! Aber ein Mädchen begleiten! Das war nicht Simbas Fall . . . Er hatte noch an einem Prellstein herumgeschnuppert und sich dann unauffällig gedrückt.

»Nein«, sagte Valär. »Ich wäre nur ein wenig herumgegangen. In den Stocken hinten hat's junge Dachse. In solchen Nächten spielen sie gern vor ihrem Bau.«

Sie neigte den Kopf zur Seite und wischte mit ihrer Wange scheu und schnell über seine auf ihrer Schulter liegende Hand.

»Aber das könnten wir jetzt ja zusammen tun?«

»Was du dir vorstellst! Könnten!« . . . Fast hätte er Sirene gesagt . . . Aber ein prächtiger Vorschlag war es. Das war nicht zu bestreiten. – Er atmete tief und blickte nach dem Walde hinüber. Jedoch der Wald schien mit ihrem Vorschlag nicht einverstanden zu sein. »Nein, jetzt machen wir den Rank gegen Dreitannen hinauf«, sagte er, »und von dort bringe ich die Durchbrennerin auf dem kürzesten Weg nach dem Schwedenhäuschen. Es geht auf Mitternacht, und das Mädchen muß morgen früh wieder frisch an sein Werk.«

Scherzte er? Meinte er's ernst?

»Nein, bitte nicht! Nicht schon wieder heim«, flehte sie. »Wer 440 weiß, wann ich wieder so fortkommen kann. Ich will ja alles tun, was Sie von mir verlangen! Nur nicht schon wieder heim. – Bitte, nicht schon nach Hause!«

»Und wenn deine Mutter entdecken sollte, daß du mitten in der Nacht auf und davon bist? . . . Was wirst du ihr dann sagen?«

Nele wurde auf etwas aufmerksam, was sie fast erschreckte: auf einen sonderbar besorgten und dabei fast mißtrauischen Nebenton. Fürchtete er am Ende, daß ihre Mutter nicht nur etwas erfahren könnte von diesem Nachtausflug, sondern sogar schon darum wußte?

Nele faßte sich.

»Mutter schläft«, sagte sie. »Zuerst hat sie mir Krach gemacht, weil ein Wespennest auf dem Speicher war. Als ob ich den Wespen befehlen könnte, wo sie hinfliegen sollen. Nachher hat sie von dem Krach und dem Wetter Kopfweh bekommen. Darauf hat sie sich hingelegt und ein ganz abscheuliches Schlafpulver geschluckt – wie immer in solchen Fällen. In dem Pulver ist so viel Gift, daß man Holz auf ihr spalten könnte, ohne daß sie es merkt. Sie wird nicht vor morgen mittag erwachen.«

Valär mußte über die Umständlichkeit und den Eifer ihrer Erklärungen lächeln. Sie konnte, wenn sie etwas wollte, offenbar sehr ungestüm und sehr hartnäckig sein. So etwas verstand er; denn er konnte es auch . . . Und jetzt lag ihr daran, diese Unbekannte, die er als Schwarzen Peter ins Spiel gebracht hatte (und Mutter nannte), ganz gründlich auszuschalten, Soso. – Sein Lächeln rutschte ihm langsam und sanft in den Hals hinunter, und während er sie leise an sich zog, sagte er mit fast zustimmendem Lachen:

»Gewappnet bist du, daß man dir wirklich nicht beikommen kann . . . Weißt du, daß du beinahe leichtfertig bist?«

Sie blickte ihn rasch von der Seite an, und dann lachte auch sie:

»Aber wieso!« versetzte sie übermütig. »Herr Valär! Ich stehe doch unter Ihrem Schutz!«

Er war geschlagen.

Als der Wald kam, gingen sie nicht in der Richtung gegen Dreitannen weiter, sondern bogen links ab und in diesen ein. Nele 441 frohlockte. Sie mußte nicht auf dem nächsten Weg wieder heim. Zuerst lief sie vor lauter Freude ein Stückchen voraus, und als ein Tannenzapfen am Boden lag, duckte sie sich und gab ihm mit dem Fuß einen solchen Stoß, daß er hoch ins Gebüsch flog. Nachher begann der Weg zu steigen, und Nele schloß sich Valär wieder an. Sie war jetzt damit beschäftigt, ein schmales Grasblatt, straff wie eine Saite, zwischen die zusammengepreßten Handballen und die Daumen zu spannen. Als es gelungen war, formte sie die Hände zu einer Muschel, legte den Mund auf den Daumenspalt und bemühte sich, mit dem Grasblatt Musik zu machen. Es gab ein paar quietschende schaurige Töne, und sie warf das Blatt wieder weg. »Kindskopf!« sagte sie laut. Von nun an versuchte sie, gelassen und verständig zu sein. In abwartender Haltung ging sie neben ihm her, bald einen halben Schritt voraus, bald ein wenig zurück. Einmal sagte sie: »Gott, wie ist's hier dumpf! Draußen wär's besser.«

Das fand Valär auch. Und weil sie ihm von der Seite her so verschmitzt in die Augen blickte und dazu so lieb, und weil sie so vergnügt war, so festlich in ihrer Erscheinung, so ungestüm in ihren Wünschen, so arglos in ihrem Vertrauen zu ihm, und weil sie dennoch ihr letztes Geheimnis bewahrte, berührte er ihre Wange mit einem flüchtigen Kuß. Da legte sie ihren Arm wortlos um seine Taille: – es war für ihn ein ganz neues Gefühl, und stumm ging sie neben ihm weiter.

Hinter dem Kamm der Bodenwelle, den sie gleich danach erreichten, kam eine Kreuzung, und hier schwenkten sie ab. Sie hatten jetzt einen schmalen Weg, der sich in lockeren Windungen senkte. Als die Bäume durchsichtig wurden, gingen sie schneller, und bald kamen sie in freies Feld. Einige Augenblicke blieben sie unter dem tiefen Schattendach des Waldrandes stehen und blickten schweigend in die blendende Weite. Nur noch wenige Wiesen waren von Margriten ganz weiß. Die meisten waren gemäht, und die Luft roch süß, schwer und waldmeisterartig nach Heu. In nicht sehr großer Entfernung, vielleicht zehn Minuten zu gehen, erhob sich eine neue bewaldete Bodenwelle. Das mondige Land war die Brücke zu ihr. Das Froschkonzert war hier nicht mehr 442 zu hören. Nur die Grillen sangen einander unentwegt zu, und der Waldrand grub vor ihren Füßen seine Schatten still und dunkel ins Gras.

Da machte Nele eine Bewegung, und das Bild, das sich daraus ergab, ließ Valär so erschauern, daß er sich davon ganz benommen fühlte: sie löste sich von ihm ab, ging zwei Schritte nach vorn und stand plötzlich im Licht. So blieb sie regungslos stehen, halb seitlich von ihm, und ihre Gestalt begann in dem heftigen Mondlicht sofort fühlbar zu leuchten. Sie brannte gleich einer einsamen Flamme, weiß, kühl und schön, und schien wie die kleinen Wiesenblumen, die dem Zauber des Mondlichts verfallen waren, ein geheimnisvolles zweites Leben in sich zu tragen, das einmalig und so vergänglich war, daß niemand erwarten durfte, davon morgen noch etwas an ihr zu finden.

Hier verwirrten sich seine Gedanken. Aber als er seinen Zustand gewahrte und sich von ihm losreißen wollte, da waren sie von dem Feldweg längst abgewichen und standen mitten auf einer Wiese, auf der in gemessenem Abstand, drei Reihen breit, ein Heuhaufen dem andern folgte. Eben bückte sich Nele, fuhr mit der Hand über die Stoppeln hin und sagte leise: »Ganz trocken! . . . Auch nicht eine Spur von Tau . . .« Im nächsten Augenblick lief sie davon. Aber sie lief nicht weit. Sie stürzte nur auf den nächsten Heuhaufen los, bückte sich, raffte von dem Heu so viel auf, als sie mit beiden Armen fassen konnte, und kehrte damit zu Valär zurück. Schon von weitem sah er, wie sie lachte. Das Mondlicht fiel auf ihre Zähne, und sie blinkten wie ihr Kleid. Sie trug das Heu zu dem Haufen, der Valär am nächsten war, und lud es dort ab. Jetzt lachte auch er wie einer, der aus einem Traum willig in einen andern gleitet. Aber als er auf dem Heu absitzen wollte, hielt sie ihn energisch zurück, rief »Warten!« und lief wieder weg. Danach holte sie in zwei weiteren Malen auch den Rest des Heuhaufens herüber. Sie gab der widerspenstigen Materie mit beiden Händen noch einen glättenden Puff, und dann war es so weit, daß sie sagen konnte, ein wenig flackernd und atemlos:

»Der Herr wird gebeten, Platz zu nehmen. – Jaso!« rief sie plötzlich, als ob sie etwas vergessen hätte. Im nächsten Augenblick 443 hatte sie mit einer verspielten Bewegung rechts und links ihren Rocksaum ergriffen, und während sie zu einem Knicks leicht in die Knie sank, spreizte sie ihr Kleid zu einem Rad. Zum erstenmal sah er jetzt auch an diesem Abend ein Stück ihrer Beine. Sie waren nackt.

»Und die Dame?« fragte Valär, sich ins Heu sinken lassend.

»Die Dame begnügt sich mit dem großmütig überlassenen Rest.«

»Krasseste Selbstsucht!«

»Wieso?«

»Weil nach Abzug meiner Ehrenloge die Dame den ganzen Festsaal für sich allein haben wird. Sie kann sich verstecken, wo's ihr beliebt.«

»Der Herr kann die Dame ja suchen.«

Als Antwort versuchte Valär nach ihr zu greifen, aber mit einer flinken Bewegung wich sie ihm aus. Dann hörte er nur noch ein knisterndes Lachen, und als er den Kopf ein wenig hob, sah er sie sich am Rand der Wiese entfernen, in der Richtung auf eine Bodenmulde, in der das Heimwesen von Selines Bruder lag. Aber es war unter dem Randsaum verborgen. Noch einmal blickte sie über die Schulter zu ihm zurück. Bald sah er nur noch Neles leuchtenden Oberkörper, bald nur noch den Kopf; dann verschwand auch dieser.

Es verging eine ziemliche Zeit, bis er Nele an einer andern Stelle aus der Mulde wieder auftauchen und auf sich zukommen sah. Erst in der Nähe bemerkte er, daß sie einen Arm voller Blumen trug. Zunächst sagte sie nichts, sondern setzte sich nur halbseits von ihm auf dem Heuhaufen nieder und bettete die Blumen in ihren Schoß. Als Valär sich auf die Seite drehte und ihr zuzusehen begann, sagte sie, mehr wie zu sich selbst als wie zu ihm: »Sie sollen auch mit dabei sein dürfen«, – und schüttelte sie durcheinander. Dabei kam langsam ein Mohn nach oben. Er wirkte fast schwarz. Sie griff ihn heraus, kürzte den Stiel und zog die Blüte umgekehrt durch die hohle Hand und zwischen den Fingerspitzen wieder heraus, um sie zu glätten. Einen Moment lang schien sie nicht weiter zu wissen und vor Denken ganz steif zu werden. Dann 444 neigte sie sich zu ihm hinüber, faßte mit beiden Händen nach seinem halboffenen Kragenhemd, denn er trug keinen Rock, und während sie den Stiel durch das erstbeste Knopfloch zog, das ihr vor die Finger kam, sagte sie leise und ohne ihn anzublicken:

»Diese da ist für dich – –!«

Es war das erste Du aus ihrem Mund, ihr Gesicht übergoß sich mit Blut dabei, aber es klang so, als hätte sie das Du innerlich schon oft vor sich hingesprochen.

»Du bist lieb!« sagte er ebenso leise. Und er umfaßte sie, küßte sie innig auf ihren glühenden Mund und er fühlte, wie ihr Mund saugte. Von ihrem Mund weg sank er rücklings ins Heu, und so blieb er regungslos liegen, die Hände unter dem Nacken verschränkt. Der Mond stand nicht in dem Himmelsstück, das er überblickte. Dafür glänzten zwischen den sich kaum verändernden Lämmerwölkchen blaß und fern einige wenige Sterne. Auch das heftige Rauschen und Rascheln aus Neles Richtung wurde allmählich stiller und still. Nur das Heu, von den Körpern erwärmt und niedergedrückt, duftete stärker und stärker.

Aber die selige Stille hielt nicht ewig an. Denn der Mund, den der Kuß für eine Weile geschlossen hatte, ging abermals auf und fragte in sonderbar flimmerndem, unternehmungslustigem Ton:

»Ist der Herr mit seiner Loge zufrieden?«

Die Stimme war hinter ihm und war seinem Kopfe viel näher, als er vermutet hatte.

»Das will ich glauben«, gab er zurück.

»Die Dame ist auch zufrieden.«

Der Dame schien es damit aber keineswegs ernst zu sein. Denn kurz danach fing ein neues großes Gerausche an, Heuwische flogen durch die Luft: – die Dame schien umzuziehen. Auch ein Blumenregen ging aus der Luft plötzlich auf Valär und seine Umgebung nieder. Dann war alles ebenso plötzlich wiederum still. Als Valär den Kopf zur Seite legte und schließlich sogar in die Höhe hob, schien Nele überhaupt nicht mehr da zu sein. Statt ihrer entdeckte er, ungefähr armlang von sich entfernt, unter dem lockeren Oberheu einen zusammenhängenden weißen Glanz; oben kam ein Stück Stirn mit einem Ansatz rotblonder Haare 445 hervor, mit zwei oder drei Blumen, die in die Haare hineingesteckt waren, und ganz unten ragten ein hellbrauner Knöchel und ein weißer Schuh aus dem Heu. Auch in dem Schuh steckten Blumen. Sie hatte sich also von oben bis unten geschmückt . . .

Valär rutschte ein wenig tiefer und auch ein wenig näher. Als er sachte unter die Decke griff, kam oben ein halbes Auge heraus, das ihn verfolgte, aber er sah es nicht, und beim Weitersuchen wurde die Materie widerstandsfähig. Zuerst kam er an Haut: es war ein Stück Arm. Als er ihn losließ, hob sich der Arm an ihm vorbei in die Höhe und legte sich mit sanftem Druck um seinen Nacken. Dann faßte er ein Stück Stoff, und darunter war etwas Festes. Es lag ihm straff, kräftig und rund in der Hand, senkte sich und hob sich dann wieder. Es war ihre Brust. Dann kamen Blumen und wieder Stoff, und unter dem Stoff herauf drängte sich ein zweiter Brusthügel in seine Hand. Gleichzeitig spürte er in der Tiefe ein mächtiges rhythmisches Pochen. Es war ihr Herz. Ein lautes Herz! Ein braves, junges, mutiges Herz! . . . Er ließ seine Hand darauf liegen. Gleichzeitig bettete er sein Gesicht in die Grube zwischen dem um seinen Nacken geschlungenen Arm und ihrem Körper. Durch kleine Bewegungen half sie ihm dabei. Später kam auch ihre zweite Hand zu ihm herangeschlichen. Sie näherte sich durch das leise raschelnde Heu, und als sie seine Hand auf ihrem Herzen gefunden hatte, begann sie diese zu streicheln: neugierig, prüfend und ungeschickt, aber aufmerksam und voll guten zärtlichen Willens. Dann lag die Hand Neles mit einemmal still, ebenso still wie die seine; nur manchmal erbebte ein einzelner Finger ganz leicht, genau wie bei ihm, und der ihren Körper umhüllende leichte und schwermütig-leise Duft von Unsterblichkeit, den alle Jugend an sich trägt, vermischte sich süß mit dem des Heus.

»Gut so?« flüsterte er.

»Ja, es ist gut.«

Valär entsann sich später nicht mehr zusammenhängend an das, was nachher geschah. Nur bestimmte auseinanderliegende Einzelheiten hatten sich seinem Gedächtnis wie unauslöschliche Brandmale eingegraben. Er wußte, daß sie sich küßten, und daß sie dabei sehr glücklich waren. Er wußte auch, daß seine Hand mit 446 einemmal nicht mehr auf Neles Brust lag, sondern auf etwas Knochigem ruhte, und daß dieses Knochige, wie sich alsbald ergab, ihr heraufgezogenes und zugleich über das Heu hinausragendes Knie war. Denn nach vorn und hinten davon ging es bergab. Er hielt seine Hand im Zaum. Aber einmal glitt sie doch weiter ab, als er ihr hatte erlauben wollen, und im nächsten Augenblick fühlte er, wie sein Atem stillstand und auch sonst alles stockte: Nele war unter dem Kleid vollkommen nackt . . . Die Fluchtdistanz! . . . Nele hatte sie schon aufgegeben, bevor sie überhaupt dazu genötigt war, damit er ja keine Mühe habe, sie zu überschreiten . . . war sein schrecklicher erster Gedanke . . . Und er hatte in ihr das höchste Wesen gesehen, seine künftige Frau – – –!

Nach einer Schrecksekunde, in der seine Gedanken sich fassungslos jagten rund um die schmerzhafte Scham, die er plötzlich empfand – für sich und noch mehr für sie –, war seine Lähmung vorbei, und im nächsten Augenblick stand er auf den Beinen. Er klopfte sich das Heu von den Kleidern, sammelte sich und fühlte sich mit einemmal so nüchtern und klar, daß er ruhig und freundlich zuredend sagen konnte:

»Steh auf! . . . Es ist Zeit . . . Wir wollen nach Hause.«

Aber Nele blieb liegen. Sie schien seine Worte für Spaß zu halten. Langsam streckte sie sich auf ihrem Lager, und aus ihrem Mund kam ein unbestimmbarer, leiser und weicher, fiebernder Ton.

Abermals trat er auf sie zu: »Komm!« sagte er bittend und hielt ihr beide Arme entgegen, »– komm – wir wollen verständig sein – warum liegst du hier und willst mich nicht hören? . . . In wenigen Stunden mußt du allen möglichen Menschen wieder frei ins Gesicht sehen können – frei wie bisher – verstehst du mich? – und ich muß es ebenfalls können. Bitte – steh auf – gib mir deine Hände, ich helfe dir!«

Bevor er zu Ende war, saß sie schon, vornüberhängend wie eine welkende Pflanze, die Arme seitwärts ins Heu gestemmt, die Hände unruhig in die lockere raschelnde Masse grabend, gleich jemand, der nach einem Halt sucht, damit er nicht fällt. »Ja – Herr!« sagte sie tonlos. Seinen Beistand schien sie verschmähen zu wollen. Allein ihr Versuch, ohne Hilfe auf die Beine zu kommen, mißlang. 447

Kraftlos sank sie zurück und stöhnte. Erst nachdem auch ein zweiter Versuch nicht zum Erfolg geführt hatte, ließ sie sich helfen, und er zog sie empor. Ihr Gesicht schien ganz leblos zu sein. Dann begann auch sie sich die Heufäden aus dem Kleid zu schlagen, und während sein Herz zu bluten anhub, weil er ihr trotz des vernichteten Anblicks, den sie darbot, die Gründe seines Verhaltens doch unmöglich preisgeben konnte, sagte sie müde und mit einem fast grausamen Zug um den Mund:

»Der Mensch muß sich anscheinend mit etwas plagen – ja ja, Herr Valär! Und die andern muß er ebenfalls plagen. Sonst ist ihm nicht wohl.«

In ihrem Innern aber saß eine wimmernde Stimme, die sich auch durch diese lächerlich banale Einsicht nicht beschwichtigen ließ, und die Stimme jammerte hoffnungslos, aufs tiefste verletzt und völlig verzweifelt:

»Verschmäht – verschmäht – verschmäht! . . . Von ihm – von ihm – o Gott, von ihm!«

War alles, was sie bisher miteinander gehabt, dadurch nicht völlig sinnlos geworden?

 


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