Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XLIX.

Bis zum Wochenende ging Valär in großer Unruhe umher, und am meisten litt er darunter, daß er dieser Unruhe nicht Herr werden konnte.

Denn auf Grund der Andeutungen Rosas lag die Vermutung nahe, daß Charles Dormond mit zu den jungen Leuten gehörte, in deren Gesellschaft Nele da unten geraten war, und diese Vorstellung war ihm nicht sehr gemütlich. Er hatte das Gefühl vom Vorhandensein eines Nebenbuhlers, und war doch auch entschlossen, sich in keiner Weise hineinzerren zu lassen in irgend welchen Wettbewerb um das Mädchen.

Solche Erwägungen hatten ihm bisher ganz ferngelegen. Auch darin hatte das »Leben aus der Widerstandskraft«, bei dem er Zuflucht gesucht und gefunden hatte, sich diesmal wieder bewährt, daß es jeden eifersüchtigen Verdacht von ihm fernhielt. Wenn ihm Nele geschrieben hatte: »Ich weiß heute, daß Sie mich nicht nötig haben« –, so stellte sie in seinen Augen damit nur fest, daß sie gewisse Vorkommnisse momentan so und so ansah. Er könne, so meinte er, durchaus nichts versäumen, wenn er der Zeit ihren Lauf ließ und abwartete, was Nele aus dieser Feststellung machte.

Als Valär nach der Begegnung mit Rosa daheim angelangt war, holte er Neles Brieflein noch einmal hervor, und beim Wiederlesen wirkte der Satz mit dem Nichtnötighaben auf ihn ganz anders. Außer der Feststellung eines bestimmten Sachverhaltes schien ihm in ihren Worten auch eine Drohung zu stecken. Nicht eine absichtlich hineingemischte, sondern eine, die schon in der Substanz der ganzen Krisis enthalten war . . . Wie hatte Rosa gesagt? »Sie hat sich im Umgang mit dir eben doch nicht so stark fühlen können, wie es ihr Bedürfnis war. Du warst ihr zu überlegen« . . . In einer niederträchtig wollüstigen Weise hatte Rosa ihre Worte wie einen Gummibändel in die Länge gezogen und den Bändel dann jäh zurückschnellen lassen, ihm direkt ins Gesicht . . . Wahrscheinlich hatte sie es nur auf diese Gelegenheit abgesehen gehabt, als sie ihn ansprach.

In seinem Innern begann etwas grimmig an ihm zu zerren, 469 und von diesem Augenblick an war es mit dem Lebenkönnen aus der Widerstandskraft für ihn vorbei. Die Folge war, daß ihm eine Aussprache mit Nele fast wichtiger wurde als seine Mission bei Dormond. Trotzdem wollte er zuerst die Sache mit ihm ins Reine bringen.

 

Valär reiste am Samstag so zeitig ab, daß er Magliaso kurz nach sechs Uhr erreichte. Er fuhr mit dem Bähnchen hin, das Lugano mit Ponte Tresa verbindet. Sein kleines Gepäck hatte er nach Ponte Tresa vorausgeschickt und sich in einem dortigen Hotel ein Zimmer bestellt. Er wollte in dem nahgelegenen hübschen kleinen Grenzort übernachten.

In Magliaso konnte ihm zunächst niemand sagen, wo die Casa Taboni lag. Von einem Briefträger erfuhr er schließlich, daß er fast bis halbwegs Agno zurückgehen mußte. Er machte sich also der Hauptstraße entlang auf den Weg. In der Casa Taboni vernahm er, Herr Dormond sei bereits weggegangen. Er feiere heute abend mit Freunden ein Fest. Diese Auskunft war für ihn ärgerlich, aber es war gut zu begreifen, daß Signore Dormond das tat. Der Wettbewerbspreis, blanke 5000 Franken, war eingetroffen, dazu kam später das große Honorar für das Bild – also ein Hurra dem Leben! Aber mit seinem Vorhaben, sich durch eine sofortige Aussprache mit dem jungen Maler für den nächsten Tag freie Hand zu schaffen, war es nun nichts. Trotzdem fragte Valär, wo die Feier stattfinden werde. Im Grotto Roccolo sotto in Agno. Und man beschrieb ihm den Weg. – Wie weit? – Oh, zehn Minuten.

Valär hinterließ eine Karte mit der Adresse seines Hotels in Ponte Tresa und der Bitte, ihn morgen früh zwischen acht und neun anzurufen oder, noch lieber, ihn um diese Zeit zu besuchen. Nein, das Fest wollte er nicht mit seinem prosaischen Anliegen stören, aber wenn er sehr langsam ging, war es beinahe Nacht, bis er das Grotto erreichte. Dann konnte er sich, ohne bemerkt zu werden, wenigstens den Schauplatz des Festes besehen.

Aus den zehn Minuten wurden zwanzig – bei Entfernungsangaben der Einheimischen ist das im Tessin immer so –, und 470 für ihn wurden daraus noch mehr. Denn unterwegs, an einer Stelle, wo der See ganz nahe an die Straße tritt, ohne sie jedoch zu berühren, hörte er durch die überhängenden Bäume fröhliche Stimmen, Ruderknarren, Wassergeplätscher, Rufe in Französisch, Italienisch und Schweizerdeutsch: also eine gemischte Gesellschaft; offenbar wurde unten gebadet. Sehen konnte er nichts, auch verstehen konnte er nichts, und das Stimmengewirr blieb immer gleich fern. Trotzdem blieb er eine Weile und lauschte.

Als er bald nachher das Grotto gefunden hatte, brannten schon die Straßenlaternen, und damit war es am Boden praktisch auch Nacht geworden. Zunächst sah er vom Grotto nichts als unten eine kunstlose Maueranschrift, die nach oben wies. Aber oben zwischen den Bäumen schien alles dunkel zu sein; immerhin hörte er Zoccoli über Steinplatten klappern und eine befehlende halbheisere Männerstimme. Schließlich entdeckte er hinter einem Felsen ein dunkles Stück Dach. Das Grotto lag also an der Flanke des Hangs in einem Kastanienwald. Rechts anschließend kamen Reben.

Valär stieg auf einem eingemauerten, engen und krummen, teilweise gestuften und sehr steinigen Weg langsam empor. Oben war er dann sofort im Bild. Denn was er vor sich sah, war eine der landesüblichen Weinschenken, die nur während der guten Zeit des Jahres geöffnet sind: rosenrot getüncht, zweistöckig, zu ebener Erde eine Schankstube, die aber jetzt fast allen Mobiliars entblößt und nur von einer nackten elektrischen Birne notdürftig erhellt war. Durch eine offenstehende Türe im Hintergrund drang Holzrauch in den vorderen Raum, und Valär blickte auf einen Herd mit einem prasselnden Feuer. Offenbar diente das Grotto seinem Besitzer aber nicht nur als Stätte für einen kleinen Erwerb, sondern auch als Sommerresidenz. Denn aus einem Fenster im Oberstock hing noch Bettzeug herunter. Vor dem Gebäude, von einem Steinmäuerchen eingefaßt, war ein breiter, aber nicht sehr langer ebener Platz, und auf diesem Platz waren hölzerne Tische mit lehnenfreien Bretterbänken in den Boden geschlagen. An der einen Längsseite war eine Bocciabahn. Anscheinend rechnete der 471 Besitzer aber auch mit dem gelegentlichen Besuch seiner Trattoria durch Städter und Sommergäste. Denn längs der Hauswand, unter einer Weinpergola, standen ein paar bewegliche eiserne Tische mit dem nötigen Zubehör von Gestühl. An einem dieser Tische saßen zwei Einheimische in leiser lebhafter Unterhaltung bei ihrem Glas Wein; es waren Arbeiter oder Bauern. Von Vorbereitungen zu einem Fest konnte Valär nichts entdecken.

Erst als er das Gesicht nach oben wandte, bemerkte er, daß zwischen den Bäumen farbige Lampions aufgehängt waren, und weiter im Hintergrund, da war auch ein großer gedeckter Tisch. Das Fest hatte also nur noch nicht begonnen. Aber einen Platz, an den er sich unbemerkt hätte hinsetzen können, fand er nicht, und er wollte sich eben wieder entfernen, als er auf etwas anderes aufmerksam wurde. Es war eine steinerne Treppe, die an der westlichen Schmalseite des Hauses, zwischen diesem und einer hohen Terrainstützmauer, in die Höhe führte. Hinter der Stützmauer mochte der in den Berg eingelassene Weinkeller liegen. Wozu sonst eine schwere eiserne Türe? Er sah auch, daß oben ein Lichtschein ins Freie fiel, und daß die Stützmauer von einem eisernen Geländer umfriedet war. Am Geländer standen zwei große Pflanzenkübel, offenbar mit Oleandern. Die Treppe erklimmend, kam er in der Tat auf einen zweiten Platz, an dem anscheinend gleichfalls gewirtet wurde. Allerdings war der Platz nur klein, und die ganze Wirtschaftsausstattung bestand aus zwei runden eisernen Tischen mit vier oder fünf Stühlen. Eine offene Türe führte ins Haus. Durch sie fiel der Lichtschein nach außen.

Vermutlich hatte man drin seine Schritte gehört. Denn durch das erleuchtete Zimmer kam, die Hemdärmel aufgekrempelt, ein kleiner geschäftiger Mann mit einem Gurt um die Hosen und einer halb umgeschlagenen weißen Schürze davor, offenbar der Wirt; er begann beim Anblick des fremden Gastes wie eine Melone zu strahlen.

Ob er hier sitzen könne, fragte Valär. – Aber natürlich! – Ob er etwas zu essen bekomme.

Der Herr treffe es extragut heute. Er könne dasselbe haben wie die Gäste, die nachher zum Essen kämen. 472

Was das sei.

Der Mann zählte auf: Horsd'oeuvre. Dann Tagliatelli al sugo. Dann Pollo arrosto, insalata mista. Dann Formaggio e frutti. Dazu Nostrano, sehr schwarz und mild.

Einverstanden!

Man werde decken. Der Herr sei hier oben ganz ungestört.

Die Ungestörtheit währte nicht lange. Auf dem gleichen Weg wie der Wirt erschien ein gutgekleideter junger Mann mit einem kurzen schwarzen Balbobärtchen um Wangen und Kinn, der in der einen Hand ein halbgefülltes hohes Glas mit einer eosinroten Flüssigkeit trug, in der andern eine Sodawasser-Spritzflasche. Beides stellte er auf den leeren Tisch seitwärts von Valär. Pfeifend verschwand er von neuem im Haus und kam gleich danach mit einem brennenden Windlicht und einem dunklen großen Wachstuchheft wieder. Er nahm Platz mit dem Rücken gegen Valär, mischte seinen Trunk, blickte mit einem Seufzer auf den unteren Platz, begann dann in seinem Heft zu blättern und schließlich zu lesen. Valär sah, daß Seite um Seite mit technischen Zeichnungen, Formeln und kurzen Texten bedeckt war. Wahrscheinlich handelte es sich bei dem ausgesprochen schönen jungen Mann um einen Studenten.

Schon kurz danach bekam Valär von einem noch kindhaften Mädchen, offenbar einer Tochter des Hauses, das ein farbiges Tischtuch und ein zweites Windlicht brachte, gedeckt, und kaum, daß es mit seiner Arbeit fertig war, trug ein zweites, älteres Mädchen, dem Aussehen nach dessen Schwester, den ersten Gang seines Essens auf: Brot, Wein und ein sehr leckeres Horsd'oeuvre.

Und jetzt, während Valär aß, begann unten der Aufmarsch zum Fest. Er hörte Stimmen, Lachen, ein Durcheinander von Schritten, jemand rief »Licht«, und in der kurz danach unten aufflammenden mäßigen Glühbirnenherrlichkeit gingen eine Reihe heller Gestalten über den Platz und schwärmten nach allen Richtungen aus; Röcke und andere Kleidungsstücke wurden auf dem Mäuerchen abgeladen, jemand sprang singend weg gegen das Haus, und sofort wurde, anscheinend unter Beteiligung aller, mit dem Lampionanzünden begonnen. Einige stiegen auf die 473 Mauerrampe unter den Bäumen zu diesem Zweck, andere schleiften einen Stuhl hinter sich her durch den sandigen Kies und hielten bald da, bald dort unter einer Papierlaterne, um sie in Brand zu stecken. Unter den Männern war auch einer mit grauen Haaren und ebenso grauen Hosen über dem hellen farbigen Hemd. Er hatte eine Zigarette im Mundwinkel hängen, die Hände in den Hosensäcken vergraben, stand da und tat als einziger nichts. Weibliche Wesen hatte Valär zwischen den Oleanderkübeln hindurch bisher nur zwei gesehen; auch von Dormond hatte er zunächst nichts bemerkt.

Aber nun kam er.

Er kam am Stock von hinten her über den Platz, ganz in Weiß, in seinem hinkenden, leicht hüpfenden Gang, der die eine Schulter immer wieder absinken ließ und sie beim nächsten Schritt ebenso rhythmisch von neuem hob, begleitet von einem kleineren, auffallend hellblonden Mann mit einer Brille, der lebhaft auf ihn einsprach. Der gedeckte Tisch war ihr Ziel.

In diesem Augenblick bemerkte Valär ein drittes weibliches Wesen, das soeben die eine Längsbank dieses Tisches erstieg und sich anschickte, den ersten der vielen weißen Lampions über diesem Tisch zu entzünden . . . Unverkennbar: es war Nele, und an ihrer Stimme, die den beiden Männern etwas unter Lachen entgegenrief, erkannte er sie noch leichter als an ihrer Gestalt, ihrem Haar und an dem, was er sonst noch von ihr sah.

Valär fühlte sofort, daß eine große Spannung in ihm sich löste: Vermutetes war nun Wirklichkeit . . . Aber er tat nicht sofort den großen Schritt vom einen zum andern, sondern blieb in dem Niemandsland zwischen beiden stehen und ergab sich der einfachen Freude darüber, daß Nele da war, am gleichen Ort wie er selbst, und daß er sie, nach so langer Abwesenheit, wieder vor Augen hatte, in ihrer ganzen hellen Lebendigkeit. Er war vollkommen ruhig, legte Gabel und Messer weg, und schaute ihr zu, wie sie mit einer kleinen Kerze eine der weißen Lampionkugeln nach der andern entzündete. Nachher stieg sie auf die gegenüberliegende Bank. Er sah sie jetzt noch besser und folgte ihr mit den Augen, bis auch auf jener Seite alle Lampions brannten. Dann sprang sie 474 herunter. »Fertig«! rief sie. – »Kann abgedreht werden?« kam es auf Französisch vom Haus zurück. – »Ja«, erwiderte sie. Kurz danach erlosch mit einem Schlag wieder das elektrische Licht, das beim Kommen der Gäste aufgeflammt war, jemand rief »Ah!«, andere klatschten, und Valär konnte in der plötzlich hereingebrochenen Dunkelheit außer den zerstreuten farbigen Klexen der Papierlaternen zunächst überhaupt nichts mehr erkennen. Als seine Augen sich dem neuen Zustand endlich angepaßt hatten, war Nele wieder verschwunden, und an dem gedeckten Tisch stieg eben der Mann mit dem grauen Haar mit einem hohen Schritt über die Sitzbank und ließ sich nieder. Dormond saß schon auf der Gegenseite, noch immer im Gespräch mit dem Blonden.

Da fing es in Valär von neuem zu ziehen an, und die wachsende Spannung, die sich in ihm zu bilden begann, zog ihn von der Freude, die er eine Weile über seine Lage empfunden hatte, und aus dem Niemandsland weg. Allein er vermochte die Wirklichkeit, in der er stand, noch nicht zu durchschauen. Es war ihm auch einerlei in diesem Augenblick, wie sie in den Einzelheiten beschaffen sein mochte; er konstatierte das selbst, und als man ihm die Tagliatelli al sugo servierte, fühlte er sich durchaus imstand, sie mit größtem Appetit zu verspeisen.

Er blickte jetzt nicht mehr auf den unteren Platz und es war ihm einerlei, was unten geschah, als auf der Treppe, die diesen Platz mit seinem erhöhten Versteck verband, schnelle Frauenschritte sich näherten. Er blickte hinter seinem Windlicht auch nicht auf, als die Schritte oben angelangt waren. Erst als sein stummer Nachbar sich rührte, und die Frauenschritte an dem Tisch neben ihm zum Stillstand kamen, hob er den Kopf. Es war ein weibliches Wesen, so gegen dreißig, braunes Haar, klein, nervös, für das der junge Mann gerade einen Stuhl heranzog.

»Eh –?« fragte er leise, während er sich ebenfalls fast lautlos wieder setzte, und beugte sich vor gegen die Frau.

»Den ganzen Abend haben wir uns gestritten. Er ist völlig verrückt. Dabei guckt sie ihn ja nicht einmal an. Mich macht das ganz krank«, sagte die Frau in französischer Sprache, hastig und 475 heftig, fast flüsternd. »Es erbittert mich, daß er jeden Streit als etwas ganz Selbstverständliches und ganz Unwichtiges hinnimmt. Immer neue schreckliche Geschichten aus seiner Vergangenheit tischt er auf, nur damit mir der Ekel kommt, und ich glauben soll, er sei das widerlichste Vieh, das auf der Erde herumläuft. Hat er mich dann so weit, daß es mich schüttelt vor Uebelkeit, so wirft er sich ins Gras und gähnt in die Luft. Dabei hat er graue Haare! . . . Carlo, ich glaube, daß er sie alle erfindet, diese Geschichten, alle! Er ist ja gar kein so schlechter Mensch, wie er tut! Oder bin nur ich so ein dummes Tier, daß mich selbst das widerlichste Zeug nicht abstoßen kann? – Wie sagen Sie? – Nein, Carlo . . . adjö – nicht länger, nein, ich muß jetzt hinunter, ehe man mich vermißt. Morgen sprechen wir dann weiter darüber. Er fährt nach Lugano, so daß wir uns bequem treffen können. – Gut. – Ja, um halb elf Uhr bei Ihrem Boot.«

»Und sagen Sie, bitte, Giovanni da drunten, ich sei hier. Er soll für einen Augenblick zu mir kommen. Sagen Sie aber, es müsse bald sein. Lange warten könne ich nicht«, flüsterte der junge Mann ihr beim Abschied noch nach. Dann verschwand sie.

Der junge Mann blieb einen Augenblick unschlüssig stehen. Dann blies er sein Windlicht aus und rückte seinen Stuhl ans Geländer. Er setzte sich nieder, legte die Arme auf das Geländer, das Kinn auf die Arme und starrte unbeweglich hinunter.

Wie fix man servierte! Schon stand auch das Pollo da. Es ging zu wie in einem Grandhotel, ei wahrhaftig. Offenbar wollte man so schnell wie möglich alle Hände für die unten Tafelnden freibekommen. Und wie gut es roch, dieses braune gebratene Mistkratzerli, als Valär daran schnupperte! . . . Nein, er durfte eine Mißstimmung einfach nicht aufkommen lassen, weil Nele da unten saß, am gleichen Tisch mit dieser etwas verstörten Frau und mit andern Leuten, die zum Teil offenbar eine ganz respektable Unbedenklichkeit hatten. Ob es ihr wohl Vergnügen machte, von solchen Gestalten umgeben zu sein? . . . Oder war alles, alles, was er sich früher einmal ausgemalt hatte, nun schon ein Ding der Unmöglichkeit? . . . Jedenfalls hörte er manchmal Neles kurzes, 476 helles, fast strahlendes Lachen, das er so gut kannte. Und es hatte gar keine Sprünge darin.

Jetzt schien jemand unten eine Rede zu halten. Denn alles war still, bis auf eine einzelne Stimme, die sprach, und gewisse halberstickte geschäftige Geräusche im Innern des Hauses. Valär reckte ein wenig den Kopf. – Nein, keine Rede. Dormond las aus einem Buch etwas vor, nur eben für die Leute am Tisch. Erst zum Schluß, nach einer Weile, hörte er ihn deutlich sagen:

»Bedenkt: es ist fünfhundert Jahre nach Christus! Aber die griechische Welt lebt in einem Dichter immer noch weiter. Sie soll auch jetzt nicht vergessen sein. Jedenfalls werde ich davon als nächstes einiges malen.«

»Auf gutes Gelingen!« rief eine Stimme. Dann klangen die Gläser.

Nicht lange danach erscholl unten Musik. Es war eine Ziehharmonika, irgendwo unter den Bäumen, und nach wenigen vollen Akkorden fiel eine zweite in die führende Stimme der ersten ein: es war ein Tango. Sofort wurde geklatscht, und gleich danach bewegten sich schleifende Schritte unten über den Boden. Dazwischen wurde Geschirr abgetragen und frisches aufgestellt: offenbar füllte man die Pause zwischen zwei Gängen mit einem Tänzchen. Aber Nele machte nicht mit. Bei einer Drehung des Kopfes wurde Valär dessen gewahr. Sie saß an ihrem bisherigen Platz zwischen Dormond und dem blonden Mann mit der Brille, der den beiden etwas erzählte. Als er fertig war, lachte sie mit zurückgebogenem Hals, und Valär sah, wie tief ihre Augen beim Lachen sich schlossen. Was für eine Kleinigkeit! Aber sie bewegte ihn doch. – Alle andern waren von der Tafel verschwunden.

Da wurde es wieder auf der Verbindungstreppe lebendig, und herauf stürmte ein junger Mann, der sofort auf Valärs stummen Nachbar zuging. Er hatte den erstbesten Stuhl an der Lehne ergriffen und schleifte ihn hinter sich her.

»Carlo – ah – Madame Bourquin hat mir gesagt – –«. Damit ließ er sich auf dem mitgebrachten Stuhl niederfallen, dicht neben dem andern.

»Schon recht!« erwiderte dieser und drehte sich nachlässig 477 um. »Gib mir zwei Franken, und wenn du es eilig hast, kannst du sofort wieder gehen.« – Sie sprachen italienisch zusammen. »Gib schnell!« fügte er hinzu, etwas dringlicher werdend, »muß zahlen – bin vollkommen blank!«

»Dieses Geld!« rief der Angepumpte, während er lachte, und griff bereitwillig in den Hosensack. »Immer diese zwei Franken!«

»So ist's!« sagte der, den sie Carlo nannten, »immer die gleichen schmutzigen Silberlinge. Josef wurde um dieses schmutzige Geld nach Aegypten verkauft, und später wurde mit den gleichen Silberlingen Judas bezahlt für seinen Verrat an dem Herrn. Es sind elende schmutzige Judasgroschen. Seitdem wandern sie ruhelos durch die Welt. Nur zu mir kommen sie nicht. Durch irgend etwas bin ich ihnen verdächtig.«

»Sie kommen«, flötete der Kamerad. »Da! Nimm!«

»Nicht fünf! Zwei – hab ich gesagt. Gib zwei und nicht mehr! Zwei kann ich zurückbezahlen, und mein Gewissen ist rein. Fünf – –«.

»Dann gib eben zwei zurück! Wozu habe ich einen Vater, der schön verdient? Christomadonna! Sollen sich zwei Generationen des edlen Geschlechtes der Banfi halb zu Tod geschafft haben, damit ich nicht einmal fünf für zwei geben kann?«

»Lästerlich, wie du von deinen Vorfahren sprichst! Ich höre dir einfach nicht mehr länger zu. Hast du Moral? – Moral hast du keine. Aber recht hast du trotzdem.« – Lachend steckte er das Geld in den Hosensack. »Und die zwei bekommst du auch nicht zurück in diesem Fall.« – Stürmisch fielen sie sich um den Hals.

Dann machten sie Front gegen den unteren Platz, wo man immer noch tanzte, und schauten zusammen über das Geländer hinunter, wie es der eine von ihnen schon vorher getan.

»Der Hinkende ist also der Löwe«, fing der mit dem Bart von neuem an.

»Der Löwe!«

»Und der Blonde mit der Brille, der bei ihm sitzt?«

»Ist der neue Assistenzarzt von Agra drüben.«

»Der, der dichtet?«

»Ja, der.« 478

»Außer den Bourquins kenne ich niemand. Aber wenn ich mein Examen hinter mir habe, in sechs Wochen ab heute, dann dichte ich auch. Schon lange wollte ich das. – Was hat der Löwe vorhin denn vorgelesen?«

»Ja, glaubst du, daß ich aufgepaßt habe?«

Sie zündeten Zigaretten an.

»So! Ja, was hast du denn gemacht?«

»Gemacht! Was wir alle tun, hab ich gemacht. Seine Freundin habe ich angesehen.«

»Die Tizianblonde, die bei ihm sitzt? Ist sie so nett?«

»Nett! Du bist ja blind. Herrlich ist sie.«

»Du, nimm dich zusammen!« sagte der mit dem Bart. »Wenn du herrlich sagst – –«.

»Carlo, ich will gar nichts von ihr. Es würde mir auch verdammt wenig nützen. Sie ist ein hochanständiges, braves, sauberes Mädchen und nicht eine von denen, die nehmen, was kommt . . . Ich will nicht sagen, daß ich allein deswegen schon auf sie setzen würde. Aber sie hat ihn aus dem Bummeln und Saufen und sonstigen Schlendrian wieder herausgerissen, und dafür verehre ich sie, als hätte sie mich selbst aus dem Sumpf gefischt.«

»Bummeln – Saufen – Schlendrian –. Ich denke, er hat einen Preis gemacht?« fragte der andere verwundert.

»Allerdings! Aber sozusagen post mortem. Denn das Preisbild ist entstanden vor nahezu einem Jahr, und seitdem war er regelrecht auf den Hund gekommen. Nur noch Entwürfe, Carlo – ein paar Striche – ein paar Farben – aber keine Spannkraft mehr, etwas weiterzuführen und fertig zu machen. Denk dir, welche Qual! Denn er selber steht ja zitternd und zerrissen dabei und sieht zu, wie er immer kraftloser wird und nicht mehr weiß, was er soll. Schließlich sogar nicht einmal Entwürfe mehr, nur noch Alkohol und der dazugehörige Dunst . . . Christomadonna, und bei seiner Begabung! Unsereiner ist ja nur ein Idiot neben ihm . . . Und warum dieser Zusammenbruch? – Alles nur, weil niemand an ihn glauben wollte. Auch sein Preisbild erregte ja bei seinen Pariser Kollegen nur Spott . . . Nun, da wollte auch er nicht mehr. Aber sie – sie hat ihn wieder flott gemacht. Sie hat ihn wieder in 479 die Schuhe gestellt. Sie hat ihm geholfen. Dafür verehre ich sie . . . Für die andern kann ich nicht sprechen. Aber was sie an ihm getan hat, das ist für mich so viel, daß es mir verdammten Spaß macht, sie immer nur anzuschauen, wo ich sie sehe, und den ganzen übrigen Rest dabei zu vergessen. Ist ein solcher Spaß nicht erlaubt?«

Von jetzt an sah und hörte Valär nichts mehr. Er wußte, daß er ein Fallengelassener war – er mußte daher auch den Weg der Fallengelassenen gehen – etwas anderes blieb ihm nicht übrig.

Aber gab es überhaupt noch einen Weg, dort, wo er sich befand? Er war zu müde, um jetzt noch darüber nachzudenken. Er sagte sich nur, wenn es keinen gäbe, so müßte er sich eben durchs Unterholz oder die Wüste oder, was es war, weiterschlagen, bis er einen fand, oder er mußte sich einen bahnen. Sich damit weiter abzugeben, dazu fehlte ihm jetzt aber die Kraft. Als daher der Padrone erschien, um sich devot zu erkundigen, ob der Herr zufrieden gewesen sei, nahm Valär die Gelegenheit wahr und fragte, ob es im Ort jemand mit einem Auto gäbe, der bereit wäre, ihn nach Ponte Tresa zu fahren.

Oh gewiß, »il fratello mio«, sagte der Wirt – il fratello habe einen Gemüsehandel und einen sehr brauchbaren Ford – es träfe sich gut – der Bruder säße im Garten – und er wolle sofort mit ihm sprechen – in wenigen Minuten sei der Wagen dann da.

Wie inbrünstig sang unten einer zu seiner Ziehharmonika eines jener im Volk verbreiteten Tessiner Lieder, die voll himmlischen Jubels sind und dabei die Erde doch nicht abgestreift haben! Auch vom Tisch her fiel eine Stimme ein, dann eine zweite, kurz danach folgten auch Stimmen im Haus . . . Wie stachlig und grün hingen die Früchte der Kastanien im Laub und reiften langsam dem Herbst entgegen! Wie lautlos drehten sich die Sternbilder auf ihrer Bahn!

Valär merkte, daß er wieder hörte und sah, und ging durchs Haus unerkannt auf die Straße. 480

 


 << zurück weiter >>