Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XIV.

Rosa gab Valär Anlaß zu immer neuen Verwunderungen.

Sie wohnte mit ihrem Mann in der Stadt, im Hotel, aber schon in den ersten Tagen, nachdem man mit dem Sanatoriumsumbau begonnen hatte, wählte sie sich in dessen Erdgeschoß, nach der Nordseite hin, zwei sehr bescheidene Zimmer aus, die später als Aufbewahrungsräume von Wäsche der Hauswirtschaft zugeteilt werden sollten, und richtete sich diese als vorläufiges Privatkontor ein. Ein Lastauto kam angefahren. Es war mit Büromöbeln, Regalen, Koffern und eisenbeschlagenen Kisten beladen; auch ein Tresor war mit dabei, und alle diese Möbel und Kisten wurden in die beiden Zimmer geschafft und nach ihren Anordnungen dort aufgestellt.

Zusammen mit einer Bürokraft, die sie ebenfalls mitgebracht hatte, einem etwas verschimmelt aussehenden, älteren, höflichen Mann namens Egli, packte sie Kisten und Koffer persönlich aus und verteilte deren Inhalt in die Schränke, Regale, Fächer und Laden. Darüber vergingen Tage.

Rosa machte kein Hehl daraus, daß sie die Möbel auf einer Gant billig erstanden habe, und daß Herr Egli von ihr in der Schreibstube für Stellenlose entdeckt worden sei. Ihr asiatisches Gesicht sah fast geizig aus, als sie das sagte, und sie versicherte plötzlich und ohne dazu genötigt zu sein, sie sei eine sparsame Frau – ihr Vater habe sie dazu erzogen.

Als erstes ließ sie einen Telephonanschluß machen, und als die Einrichtung der Zimmer beendet war, konnte ein Mensch das Heulen bekommen ob der ausgesuchten Unwohnlichkeit, die auf ihn eindrang, wenn er die Räume betrat. Nur ein großer, wie lackiert glänzender Globus, der abseits auf einer Art Rauchtischchen stand, und ein kleiner, sehr kostbarer Perserteppich, unter ihrem Schreibtischstuhl hingebreitet, wagten aus der Reihe 137 zu tanzen, stießen dabei jedoch überall an. Aber die Ordnung war mustergültig.

In diesen beiden Räumen verbrachte Rosa, zusammen mit ihrem Gehilfen, Tag für Tag ein paar Stunden in geheimnisvoll geschäftiger Tätigkeit. Mit großer Regelmäßigkeit pflegte sie in ihrem kleinen Fiat zwischen acht und halb neun Uhr des Morgens vorzufahren und bis gegen elf Uhr zu bleiben. Nachmittags kam sie dann noch einmal für anderthalb oder zwei Stunden. Egli hatte die übliche achtstündige Bürozeit; er kam und ging mit dem Rad.

Während ihres Aufenthalts saß Rosa mit ihrem roten Haar und den grünen Augen, alle Sinne hell wach, auf ihrem harten hölzernen Bürostuhl, bearbeitete die reichliche Post, die sie täglich empfing, las Finanzrevuen, telephonierte mit Speditionsgeschäften, Reklamebüros, Auskunfteien, Stellenvermittlern, Maklern und Banken, empfing und versandte Depeschen, auch solche nach Uebersee, diktierte Briefe, rechnete, kaufte, verkaufte, und Egli, einem früheren Bankbeamten, wurde bald klar, daß seine Meisterin nicht nur im Begriff war, den Propagandaapparat für das Sanatorium aufzubauen und anzukurbeln, sondern daß sie auch in ganz großem Stil spekulierte. Sogar im Metall- und Produktenmarkt schien sie ihre Finger zu haben. Denn plötzlich kaufte sie Kupfer, Erdnüsse, Leinsaat oder Carnaúba, ein brasilianisches Pflanzenwachs, das in der elektrischen Industrie für gewisse wehrwirtschaftlich wichtige Spezialitäten benötigt wurde, und alle diese Waren schienen auf sonderbaren Wegen nach Italien zu reisen, das mit Abessinien noch immer im Kriege lag und unter den sogenannten Völkerbundssanktionen sehr seufzte. Oft hielt ihr stummer Gehilfe den Atem an, und es lief ihm bald heiß und bald kalt über den Rücken. Denn manche ihrer Geschäfte schienen ihm sehr gewagt.

Einmal hielt es Egli aber doch für nötig, seine Herrin vor einem bestimmten Termingeschäft eindringlich zu warnen, und nachdem sich Rosa von ihrer Verblüffung erholt hatte, sagte sie:

»Aber, Mensch, Sie sind im Umgang mit Geld ja ein Genie. Wie konnten Sie nur so herunterkommen?«

Egli hüstelte und kramte ein wenig aus. Sie begriff, und aus 138 Artigkeit schwieg sie. Denn er hatte das Wort Gefängnis nicht unterschlagen. Er war damals schon nicht mehr bei einer Bank gewesen, sondern Aushilfskraft bei einem Notar. Der andere hatte fünf Jahre erwischt und saß immer noch. Er war mit zehn Wochen davongekommen und stand seitdem auf der Straße. Gleich nach dieser Abschweifung ins Private sagte Egli: »Sehr wohl – sehr wohl!« und lächelte wie ein Krokodil, weil Rosa seinem Rat folgte. Dann machte er sich wieder hinter die Registratur, ordnete ein, rechnete, schrieb. Denn seine Leidenschaft für Zahlen und Ordnung sowie seine steife Höflichkeit waren ihm geblieben, und er lebte in der Luft um Rosa, wo er seine Fähigkeiten unbeschwert anwenden konnte, geradezu wieder auf. Auch einen Vollbart ließ er sich wachsen und schnitt ihn spitz zu.

Rosa aber war mit ihren Gedanken längst woanders. Sie schillerte mit ihren Augen, und ihre Muttersprache schien die Handelssprache zu sein, solange sie die Zeit hinter diesen vier Wänden verbrachte. Der ununterbrochene Lärm von den Baustellen her, der das Haus von morgens bis abends durchdrang, störte sie nicht im geringsten. Auch die Sorgfalt ihrer Arbeit litt dabei nicht not. Daneben konferierte sie täglich mit Zünd, einem Angestellten Valärs, dem dieser die Bauführung übertragen hatte, oder sie tauchte plötzlich unter den Handwerkern auf, um sich persönlich vom Fortgang der Arbeit zu überzeugen.

Gewöhnlich tat sie das gegen vier Uhr mittags, wenn der Bürogehilfe Egli sein erschütterndes Magenaufstoßen bekam. Dann machte er ein tiefunglückliches Gesicht, sagte zu Rosa: »Lady, ich sollte –«, worauf sie »Yes, Sir« zur Antwort gab und schleunigst das Zimmer verließ. Sobald sie draußen war, schnitt Egli eine sehenswerte Grimasse, die seine krumme linke Schulter noch tiefer herunterzog, und holte eine flache Metallbüchse aus seiner Hosensacktiefe. Die Büchse hatte in ihrem früheren Leben als Behälter für Hühneraugenpflaster gedient, wie die abgeschliffenen Inschriften »Corn-Farewell« – »Va-t'en« – »Hühneraugen-Lebewohl« und »Adios Callos«, silbern auf blauem Grunde, verrieten, und sie war vom Aufenthalt in der Hose immer ganz warm. Jetzt enthielt sie gewöhnliches Natron. Er nahm davon eine Prise mit Wasser und 139 spannte seine Leibbinde um ein Loch weiter. Das erleichterte ihn.

Inzwischen stieg Rosa auf dem Bauplatz herum, und sie schien sich dabei ebenso großartig zu unterhalten wie bei all der Arbeit in ihrem Büro. Denn immer wieder hörte man sie von einem schwankenden Laufsteg herunter mit jemand lachen. Samstags teilte sie Zigaretten und Stumpen unter den Arbeitern aus.

Selbstverständlich hatte sich längst herumgesprochen, daß sie die Verlusthypotheken freiwillig zurückbezahlt habe, und da Valär alle Arbeiten, die nicht durch eine Spezialfirma ausgeführt werden mußten, nach Möglichkeit an die nicht auf Rosen gebetteten Kleinmeister der beiden Nachbargemeinden vergeben hatte – es waren zum Teil dieselben, die den Bau hatten aufstellen helfen –, breitete sich mit dem Goldstrom, der aus Rosas Hand unerwartet in viele Häuser floß, ihr Name wie der eines Märchens durch das ganze Flußtal hin aus.

 

Valär bekam Rosa in dieser ganzen Zeit nur während der kurzen Besuche zu sehen, die er ein- oder zweimal wöchentlich auf der Baustelle machte, um den Stand der Dinge zu überprüfen. Aber auch bei diesen Gelegenheiten legte sie sich Zurückhaltung auf. Sie versuchte nicht, ihn mehr als nötig für sich in Anspruch zu nehmen, und das dankte er ihr. Denn Zeit zum Vergeuden hatte er keine. Einen freundschaftlichen Fünfminutenschwatz schlug er trotzdem nicht aus.

Einmal, Ende Mai, sagte Rosa, als wäre das Leben, trotz Fliederduft und Vogelgeschmetter, ohne solche Gespräche nicht auszuhalten:

»Weißt du, daß man unseren Franken abwerten wird?«

»Hä –?« entfuhr es Valär. Er hätte ebensogut antworten können, es sei möglich, daß die Abwertung kommen werde. Er war jetzt Mitglied des Verwaltungsrates der Bubikofer AG. und wußte, daß die Großindustrie eine Abwertung dringend wünschte, um ihre Exportmöglichkeiten zu verbessern. Auch Herr Bubikofer arbeitete darauf hin, während Valär persönlich dagegen war. Aber 140 er war mit seinen Gedanken woanders gewesen und von Rosas Frage daher überrascht.

»Ganz richtig!« erwiderte sie. »Hä! Das ist die wahre Antwort darauf. Alle werden so sagen, wenn sie davon hören. Aber nützen wird ihnen dieses Hä nichts. Die Abwertung kommt deswegen doch. Sie wird kommen, obgleich nicht einmal die daran glauben, die ihr Kommen behaupten. Spätestens im Herbst ist sie da. Wir bekommen den Meyer-Franken.«

Das Wort belustigte ihn, denn es war auf einen damaligen Bundesrat dieses Namens, den Vorsteher des Finanzdepartementes, gemünzt. Ebenso belustigte ihn die geschäftsmäßig-trockene und doch besessene Art, mit der Rosa orakelte und prophezeite.

»Meyer-Franken ist gut«, schmunzelte er.

»– für alle, die es begrüßen, daß die Zeit zu Ende geht, in der man sich den Namen eines Menschenfreundes schon dadurch verdienen konnte, daß man sich über den Kapitalismus entrüstet hat«, ergänzte sie flink. »Ihnen allen ist mit dem Meyer-Franken gedient. Denn sie werden über Nacht dreißig bis vierzig Prozent ihrer Kaufkraft und ihres Kredits eingebüßt haben, ohne daß sie sich dafür im geringsten haben anstrengen müssen.« – Rosa lehnte sich weit in ihrem Sessel zurück, streckte die Beine, so lang es ging, und ließ die Arme, gleichfalls so lang es ging, über die Seitenlehnen ihres Stuhles herunterhängen. »Aber die andern, denen mit dem bloßen Zerschlagen der Werte nicht gedient ist?« fuhr sie mit einer Frage fort. »Alle jene, meine ich, die ein wenig weiterdenken und daher wissen, daß man an die Stelle dessen, was klein gemacht wird, wieder etwas Neues, Besseres hinsetzen muß? Was machen die?«

Sie nahm eine Papierschere vom Tisch, ein langes glänzendes Instrument, stülpte sie mit einem der Griffringe über den Daumen und spielte damit Karussell.

»Ja – was machen die?« wiederholte Valär ihre Frage und sah ihr amüsiert zu.

Rosa richtete sich plötzlich aus ihrer Strecklage auf, legte die Schere weg und krauste die Stirn in Falten.

»Sie alle haben kein Recht« erklärte sie, »sich so 141 gemeinschädlichen Freuden zu überlassen, wie es der Verlust von vierzig Prozent des Substanzwerts unserer Valuta ist. Alle diese Weiterdenkenden kaufen deswegen jetzt Gold für ihre Papierfranken-Obligationen oder setzen sich auf Sachwerten fest, die gegen Erschütterungen gefeit sind. – Auch dir, mein Freund, würde ich diesen Schritt dringend empfehlen. Ich würde dir sogar empfehlen, daß du schon morgen kaufst. Denn vielleicht kommt der Meyer-Franken schon übermorgen.«

Mit einem Ruck stand sie auf, von Geschäftseifer glühend.

Valär lachte sie aus.

Dieses Lachen schnitt ihr ins Herz. Ihr Gesichtsausdruck wurde leidend und schön. Und während ihr Kopf, wie es Valär schien, jenem von Hodler stammenden Frauenkopf immer ähnlicher wurde, der auf unseren Fünfzig-Frankennoten zu sehen ist, erwiderte sie sanft und doch gebieterisch:

»Verlaß dich auf mich und kaufe Gold! Reib dir die Augen und spute dich! Kauf Gold, sage ich dir! Meinst du, daß ich noch ruhig schlafen könnte, wenn ich mir vorwerfen müßte, ich hätte dich nicht rechtzeitig gewarnt? – Natürlich könnte man auch an andere Anlagen denken, falls du nicht ins Gold gehen willst«, setzte sie mit der Ruhe eines gerissenen alten Börsenjobbers hinzu. »Du könntest zum Beispiel für deine Obligationen Aktien unserer Großbanken kaufen, wenn dir aus patriotischen Gründen eine derartige Anlage sympathischer ist. Die Kurse von heute früh lauten . . . .« Und sie las von einem kleinen Zettel eine Reihe von Zahlen vor. »Das ist so gut wie geschenkt für solche Papiere«, sagte sie. »Da die Banken aber mit Sachwerten schwer eingedeckt sind, werden die Kurse nach der Abwertung wohl ziemlich genau um ebensoviel Prozent in die Höhe klettern, als man den Franken herabsetzen wird . . . Also Möglichkeiten genug für dich, ohne daß du dich auf riskierte Währungsmanipulationen einlassen mußt.– Oder willst du um jeden Preis nachsitzen müssen?«

Valär versuchte sie festzunageln:

»Aber du hast doch am Tag unseres Wiedersehens gesagt, daß dein Geld sterben solle? Warum weichst du dann dem Meyer-Franken so schamhaft aus?« 142

Ganz konnte Rosa das Glatte und Unberechenbare der Schlange, das bei solchen Gesprächen an ihr war, nicht von sich streifen. Aber es kam doch auch, wie tief von innen heraus, eine geheimnisvolle, echte und schöne Glut über sie, als sie langsam erwiderte:

»Mein Geld soll einen schönen Tod sterben! Es soll nicht das sinnlose Opfer eines Meuchelmords werden, sondern soll für einen wirklich edlen Zweck eingesetzt werden. Deswegen, und nur deswegen, brauche ich Geld, mein Freund, – Geld und noch viel mehr Geld, als ich schon habe.«

Mit diesen Worten griff sie nach einem leeren Briefumschlag, rupfte eine Briefmarke ab und sagte:

»Eine neue Afghanistan, Luftpost, grün. Sie ist für Egli. Er sammelt sie.«

 

Das nächste Mal sagte Rosa:

»Andrea, was für ein Mensch ist eigentlich dieser Zünd?

Valär blickte sie an, abwägend, um womöglich herauszubekommen, was dahintersteckte, daß sie das fragte. Denn sie war nun schon die zweite, die damit kam. Neulich hatte ihn Luise beinahe dasselbe gefragt. Und hatte nicht auch er selber sich schon über diesen Menschen seine Gedanken gemacht, ohne damit ganz ins reine zu kommen? – Zurückhaltend erwiderte er:

»Zünd? Wenn ich das nur selber wüßte!«

»Er hat mir erzählt, daß er noch nicht lange bei dir sei.«

»Ja, das stimmt. Als der große Bauauftrag sicher war, brauchte ich mehr Personal. Damals engagierte ich ihn.«

»Es scheint ihm vorher ja ziemlich übel ergangen zu sein?« forschte Rosa vorsichtig weiter.

Valär zuckte die Achseln:

»Ich weiß von ihm nur, daß er einer jener Landsleute ist, die jung und mit viel Wagemut in die Fremde gezogen sind und dort ihr Brot gesucht haben, weil sie meinten, daß das fremde Brot besser sei. Aber es war nur eine Zeitlang gut, das fremde Brot. Zuerst fiel die Butter weg, nachher das Salz, und zuletzt war anscheinend nicht einmal mehr trockenes Brot in seinem Beruf für ihn zu finden. – Was in den Kämpfen, die im Anschluß 143 daran entstanden sind, von dem Mann schließlich noch übrig blieb, das ist dann nach Jahr und Tag als Strandgut wieder bei uns gelandet. So sehe ich ihn. Aber hab nur keine Angst! Mit der Zeit kriegen wir ihn hoffentlich wieder zusammen.«

»Mir hat er gesagt«, erwiderte Rosa, »daß er schon den Weltkrieg auf französischer Seite mitgemacht habe, in dem Gefühl, daß er dem Land, das ihn ernährte, zur Seite stehen müsse, weil man dort kämpfe für die Zivilisation und die Gerechtigkeit, gegen die Barbarei. Als aber dann das ungeheuerliche Leben in den Schützengräben zu Ende war, habe er einsehen müssen, daß er sich für etwas eingesetzt habe, was es gar nicht gab, und was auch niemand ernst nahm da drüben, außer ein paar gutgläubigen Seelen wie er. Von da an sei es ihm unmöglich gewesen, seinen Lebensfaden dort wieder anzuknüpfen, wo er gerissen war.«

»Möglich, daß es so war. Aber laß es nur gut sein, Rosa! Wir bringen den Mann schon wieder ins Blei.«

»Das heißt, daß du mit ihm zufrieden bist?« fragte sie interessiert.

»Ich bedaure sogar, daß ich ihn zurzeit auf einem Posten beschäftigen muß, der seinen wirklichen Fähigkeiten nicht entfernt entspricht. Aber das ist bei mir nun einmal so, daß ich ihm nichts schenken kann. Bevor ich ihn verwenden kann an dem Platz, wo er hingehört, muß er zunächst in untergeordneten Dingen sein Können erwiesen haben.«

»Mir fiel auf«, sagte Rosa, »daß er während der Mittagspause nicht einmal essen geht. Er sitzt mit seinem dunklen Petruskopf bei den Maurern und Erdarbeitern in einem Schuppen, oder in der Sonne auf einem Bretterhaufen, und ißt sein Stück Speck und sein Brot aus einem Papier, nicht besser als sie. Er ist auch kaum besser gekleidet als sie. Dabei ist er doch ein Studierter wie du.«

»Dann weißt du anscheinend nicht, daß er irgendwo in der Provence eine Frau und zwei Kinder hat, und daß diese beinahe alles von ihm erhalten, was er verdient?«

Rosa trat ans Fenster und blickte hinaus. Als sie zurückkam, sagte sie, und ein wunderlicher Glanz schwebte dabei durch ihre Stimme hin: 144

»Es freut mich jedenfalls, daß du mit ihm zufrieden bist. Er ist nämlich kein Mensch, dessen Geist in einem Schneckenhaus lebt und dort verdorrt. Und an eine bessere Welt, die kommen wird, glaubt er auch. Die jetzige, sagt er, in welcher der eine den Staub aufwirbelt und der andere nur da ist, damit der Staub ihm ins Auge fliegt, und die Menschen ausgehen müssen auf Arbeit anstatt auf Tätigkeit und sogar die Anstrengungen der Philosophen sich in der Hauptsache nur um die Ermittlung der Bedingungen drehen, unter denen etwas am vorteilhaftesten hergestellt und am vorteilhaftesten verkauft werden kann – diese Welt der Agenten, Vertreter und Händler, sagt er, die sei nur Schwemme und Sumpf, zusammengespült aus allen Zeiten und abgelagert von erstorbener Flut. Aber aus dem Sumpf werde ein Gebirge aufsteigen, schön, rein und wild wie am ersten Tag, und die Menschen, die auf ihm lebten, brauchten ihre Sonne und ihre Sterne nicht mehr durch diesen dreckigen Nebel zu sehen. Es würden auch keine Kanonen mehr brüllen, und die Mädchen brauchten nicht mehr auf die Straße zu gehen. – Solche Sachen denkt er sich aus! Er spricht nicht viel. Aber wenn er den Mund aufmacht, dann regnet es Schwefelsäure, und in seinen Augen ist so eine stumme mitfühlende Wut, daß man sich ordentlich schuldig fühlt vor seinem Glauben an die kommende große Revolution. Man könnte sich ihn ganz gut an der Spitze von andern denken, die ihm begeistert folgen.«

Valär betrachtete sie und staunte über ihre träumenden Augen.

»Dann kaufst du also – kein Gold?« fragte er mit spöttischem Lächeln.

Sofort war sie aus ihrer Abwesenheit wieder da. Sie machte wieder ihr Fünfzigernoten-Gesicht, und mit einer gewissen trotzigen Nachsicht entgegnete sie:

»Ich habe sogar schon gekauft! Selbst Herr Zünd würde mir dazu geraten haben, hätte ich ihn gefragt.«

»Aber wenn er doch die Welt der Händler zum Teufel wünscht?«

Kühl entgegnete sie:

»Wer die Zukunft aufbauen will, wird Werkstoffe nötig haben. Da Gold unter allen Elementen das einzige ist, das man leicht in 145 jeden beliebigen dieser Stoffe verwandeln kann, würde man sogar bei einer Revolution gegen das Gold ohne Gold nicht auskommen können. Außerdem müßte ich mir schön dumm vorkommen«, fügte sie geschäftsmäßig hinzu, »wenn ich mich an dem Abwertungsgeschäft nicht mit dem gleichen Gewinn beteiligen würde wie der Staat, der bei 40 Prozent Ablaß mindestens 600 Millionen nominell an seinem Goldschatz verdient.«

Rasch senkte Rosa den Blick und biß sich auf die Unterlippe. Ihr Gehirn schien trotz ihrer kühlen Haltung zu sieden.

 

Acht Tage später, als sie sich wieder sahen, holte Rosa ihre Handtasche her, zog ein Briefkärtlein hervor und reichte es ihm.

»Da – lies das, bitte – weil du ja mein Freund bist!« sagte sie mit einer heftigen Armbewegung. Ebenso heftig griff sie nach der Zigarettenschachtel. Sie war sehr blaß und nervös.

Das Schreiben, aus Bad Ragaz datiert, war sehr kurz. Es lautete:

Liebes Kind! Ich höre, daß du wieder im Lande bist. Besuche mich. Gott hat mir die Arbeit jäh aus der Hand genommen. Ich bin am Erblinden.

Dein Vater.

P. S. Bis Ende des Monats bleibe ich hier.

»Am Erblinden! – O! Das tut mir aber leid!« entfuhr es Valär. Er war wirklich betroffen. Er dachte an den robusten Mann, der wie ein großer Eroberer durchs Leben gegangen war, unbeugsam, willensmächtig, bald edelmütig, bald roh, Kind seiner Zeit, ein Triebmensch, einäugig, einsam, ein Falke, der Tauben schlägt und doch die kleinen Vögel verschont, die das Revier mit ihm teilen. Und nun drohte der Falke hilflos zu werden, und in der Angst davor rief er nach seinem Kind!

»Wenn es so wäre, wäre es arg«, bestätigte Rosa, sich mühsam zusammenhaltend, und stieß die Zigarette schon nach dem ersten Zug wieder aus. »Aber sieh dir das Kärtchen noch einmal an. Ist das die Schrift eines Mannes, vor dessen Auge es dunkel wird?«

Es war lange her, seit Valär etwas Schriftliches von Saxer gesehen hatte. 146

Aber als er das Kärtchen jetzt noch einmal auf das Schriftbild hin zu betrachten begann, von dem Wort »Bad Ragaz« bis zur Unterschrift, fand er keinen sehr großen Unterschied zwischen seiner Erinnerung und dem, was er vor sich sah. Es war dieselbe runde, schulmäßig saubere, beinahe leere Schrift, die er von früher zu kennen glaubte.

Trotzdem hätte Valär Rosas Zweifeln nicht zuzustimmen gewagt. Er entgegnete nur, daß er sich für derlei Entscheidungen nicht zuständig fühle.

Rosa packte das Kärtchen umständlich ein.

»Es ist eine Finte«, sagte sie. »Er will mich wieder in einen Hinterhalt locken. Niemals, niemals werd ich ihn los!«

»Hast du . . . Anhaltspunkte dafür?«

Sie ging über seine Frage hinweg. Erregt behauptete sie:

»Er ist so wenig am Erblinden wie du oder ich. Aber er erträgt es nicht, daß ich mich seinem Einfluß entzogen habe. Noch immer will er nicht glauben, daß ich längst begonnen habe, mein eigenes Leben zu leben, und daß ich es nicht mehr dulde, daß er meine Lebensfäden nach seinem Belieben bald verwirrt und bald wieder ordnet. Solange ich außer Landes war, jenseits des Ozeans, da wußte er, daß er mir nichts anhaben konnte. Jetzt, wo er mich in seiner Nähe weiß, versucht er von neuem das alte Spiel, und kommt mit Erblinden. Aber es ist nur eine Finte von ihm. Oder es ist eine Finte von seiner Frau. Oder von beiden.«

»Seiner Frau –?« Valär glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Sagtest du, seiner Frau?«

Rosa ließ ein unfreies leises Lachen vernehmen:

»Weißt du nicht, daß er wieder geheiratet hat?«

»Ich habe von deinem Vater nichts mehr gehört und nichts mehr gesehen, seit er mich mit abgesägten Hosen heimgeschickt hat.«

»Ja«, sagte Rosa und ihr Gesicht wurde sehr heiß, »er hoffte einmal, ich hätte nur Zeit und Neigung zum Kinderkriegen. Er selbst war in jungen Jahren offenbar zu sehr von anderm in Anspruch genommen. Ich blieb deswegen, nach meines Bruders Tod, die einzige Knospe an seinem Stamm. Er träumte trotzdem von einem ganzen Heer von Enkeln und Enkelinnen, und daß ich die 147 häusliche fette Termitenkönigin würde, die ununterbrochen Eier legt und sein berühmtes Geschlecht unabsehbar vermehrt. Wie hat er vorgesorgt für diese Nachkommenschaft, indem er Schätze auf Schätze häufte! Als dann aber nicht mehr länger zu verheimlichen war, daß ich keine Kinder bekommen konnte, – Du weißt nun auch, weshalb ich einmal sagte, du hättest keine große Eroberung an mir gemacht – als dieses nicht länger mehr zweifelhaft war, da meinte er wohl, er selber müsse versuchen zu retten, was vielleicht noch zu retten war. Vor drei Jahren, als er die Sechzig eben hinter sich hatte, nahm er deswegen noch einmal eine Frau.«

Valär schwieg.

»Mir ist, als ob du diese Frau einmal gesehen hättest«, fuhr Rosa fort. »Sie heißt Lily und ist eine entfernte Verwandte aus Mutters Linie. Als sechs- oder siebenjähriges Kind ist sie bei uns zu Besuch gewesen. Du warst gerade daran, das Volkshaus zu bauen, und wir kamen öfters zu dir auf den Bau. Sie war einundzwanzig, als sie sich mit ihm vermählte. Aber bis jetzt ist kein Nachwuchs da. Und wenn das gute Ding nicht eines Tages einen Seitensprung macht, wird wohl auch keiner mehr kommen.«

Um Rosas Mundwinkel zuckte es. Sie hatte nun wohl das Bitterste über sich selber verraten.

Zu all diesen Eröffnungen, die Valär so vieles verständlich machten, was ihm bisher unbegreiflich gewesen war, sagte er kein Wort. Er blieb stumm, genau so wie sie. Erst nach einer langen Weile fragte er leise:

»Du wirst seinen Wunsch also nicht erfüllen?«

»Ihn zu besuchen?« – Er nickte.

»Selbstverständlich fahre ich hin«, entgegnete sie und wischte sich die feuchten Mundwinkel mit einem Tüchlein umständlich aus. »Wahrscheinlich werde ich morgen schon fahren. Ich lasse ihn doch nicht im Stich, wenn er wirklich so übel daran sein sollte? Du wirst mir das doch nicht zutrauen wollen? Ein wunderbarer Mann ist er ja dennoch!«

Plötzlich starrte sie ihn an und warf den Kopf in den Nacken:

»Andrea – kommst du mit?« 148

Er blickte an Rosa vorbei, zog die Unterlippe zwischen die Zähne und ließ sie wieder los.

»Morgen ist Donnerstag?«

Sie bestätigte es.

»Und du wirst morgen fahren?«

»Ja!«

Dann sagte er mit einem Ruck:

»Gut! Ich komme mit.«

 


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