Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XVIII.

Es war ein bewegter, an Ueberraschungen und Annehmlichkeiten reicher Tag, als das Sanatorium, genau auf den vorgesetzten Termin, mit einem Empfang geladener Gäste eröffnet wurde. Zur wirklichen Zeitlage stand er in krassem Kontrast.

Zwar war der abessinische Krieg mit einem mühsamen Sieg der italienischen Waffen beendet worden. Aber der Kriegsgott hatte sich nach diesem Waffengang nicht ins Privatleben zurückgezogen. Er hatte seine freigewordene Faust auf Spanien gelegt und dieses in blutige Bruderkämpfe um eine neue Gesellschaftsordnung verwickelt. Auch in den übrigen europäischen Staaten, in denen sich unter der Verwesungsdecke des Weltkriegs ein bösartiger Haufen von Bitterkeit, Elend, politischer Rachsucht und schwelenden Haßgefühlen aufgestaut hatte, trat die zunehmende Schwäche der gesellschaftlichen, moralischen und politischen Einrichtungen, die das Bürgerzeitalter, in Verkennung der wahren Natur des Durchschnittsmenschen, geschaffen hatte, immer greller hervor. Denn man hatte es versäumt, gleichzeitig mit der Verleihung des Rechtes zur Selbstgestaltung des eigenen Daseins jeden unter das Schwert zu stellen, der zum Schaden anderer mit seinen Freiheiten Mißbrauch trieb. 186

Von Männern, die in ihrer Macht erst seit kurzem bestätigt waren, wurde in einigen Nachbarländern der Schweiz dieses Versäumnis in schonungslosester Form nachgeholt, indem sie die überkommenen Rechtsordnungen wie ausgediente Karnevalslarven zerbrachen. Es genügte in ihren Augen zur Rechtfertigung ihres Verfahrens, daß auch das schmutzigste Menschengesicht hinter diesen Larven eine wirksame Deckung gefunden habe und finsterstes Kulturschmarotzertum unter ihrem Schutz und Schirm fast unangefochten gediehen sei. Trotz der nationalen Begrenztheit dieser Vorgänge wurden die internationalen Spannungen durch sie erhöht. Denn niemand, kein Privatmann, keine Rasse, kein Stand und kein Volk, schien voraussehen zu können, was diesen revolutionären Machthabern im nächsten Augenblick zum Aergernis würde und zur Vereinfachung und Klärung der Lage von ihnen das Todesurteil empfing.

In bisher nicht erlebtem Umfang begannen infolgedessen Flüchtlinge aller Art das Land zu überschwemmen, und wenn auch die meisten von ihnen ganz spontan weiterdrängten, zumeist nach jenseits des Ozeans, so konnte doch auch von diesen keiner aus seiner Haut, und es gab Unzuträglichkeiten genug, weil es auch unter den Durchzüglern unruhige Elemente gab, die nur an ihre Rache dachten und sich vor einem Mißbrauch des Gastrechts zur Austragung ihrer Kämpfe nicht scheuten. Auch kleine gierige Raubvögel flogen mit, die die kurze Zeit ihres Aufenthalts zu einem schnellen Fischfang benutzten.

Die Folge war, daß im Land die Stimmung gegen die Ausländer immer gereizter wurde – und Pfarrer Leuthold nutzte die Gelegenheit aus. Jeder öffentlich bekannt werdende peinliche Fall war Wasser auf seine Fremdenhaßmühle. Er griff nun schon, in Vorträgen, die er da und dort hielt, und in Briefen, die er den Zeitungen schrieb, die Fremdenpolizei an, weil sie die Grenzen nicht schärfer bewache, und auch die Hausfrauen, die sich lieber ausländische Dienstmädchen und Köchinnen hielten als Arbeitskräfte heimischer Herkunft, nahm er schrecklich aufs Korn. 187

Auch an andern Stellen krächelte es da und dort im Dachstuhlgebälk. Man entdeckte, daß die Geburtenziffer von Jahr zu Jahr sank, und daß man infolgedessen schon bald zu jenen schwindenden Völkern gehören werde, die mehr in die Gräber zu legen hatten als in die Wiegen. Das erschreckte viele nicht wenig. Ebensowenig ließ sich übersehen, daß der von Rosa prophezeite Meyer-Franken nun wirklich gekommen war. Aber während die einen im Hinblick auf die Valutaentwertung sprachen von einem Genesungsprozeß und sich in üppigen Träumen von steigender Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt ergingen, ballten andere die Faust, weil alles, was man zum Leben am nötigsten hatte, nun bald teurer und teurer würde. Denn vieles kam ja vorwiegend von Uebersee und begann in den Preisen schon anzuziehen.

Auch die Landesverteidigung blieb ein Sorgenkind. Die von vielen Seiten für notwendig gehaltene neue Wehrordnung war zwar in der Bundesversammlung durchgesetzt worden; aber noch wußten die Regierenden nicht, ob das Volk die vielen hundert Millionen für ihre Durchführung auch wirklich bewilligen würde. Denn neben den Patrioten, die den Leuten begreiflich zu machen versuchten, daß es vor dem Tritt der Weltgeschichte nur starke und schwache Völker, nicht gute und schlimme gäbe, fehlte es durchaus nicht an Stimmen, die weiterhin von einer gewaltlosen Verteidigung schwärmten und jeden Schritt in der Gegenrichtung, einerlei wer ihn tat, als ein Verbrechen anprangern wollten.

 

Die Sonne des Eröffnungstages schien alle diese Schatten unter einem mildtätigen herbstlichen Lächeln begraben zu wollen. Seit einer Woche war es ununterbrochen schön gewesen, indem jeder Tag bei frischer Luft mit einem duftigen Nebelmorgen begann. Gegen neun Uhr hatte die Sonne den Nebeldampf weggefressen, und aus dem heiter zerrinnenden Dunst trat die Welt unter einem ungeheuren warmblauen Himmel in der ganzen Pracht frühherbstlicher Farbenfülle, reif und strahlend, hervor. Was konnte unter solchen Umständen für Stadtmenschen verlockender sein als ein Ausflug aufs Land? 188

Mit der Medizin hatten nicht viele der erschienenen Herren und Damen etwas zu schaffen, wenigstens nicht beruflich; soviel stellte Valär schon beim ersten Ueberblick fest. Aber einen gewichtigen Namen trug jeder oder war durch eine einflußreiche Stellung in der Wirtschaft, Regierung, Finanz, Kunst oder Wissenschaft als beachtliche Persönlichkeit ausgewiesen; jeder schien sich auch seines Vorzugs bewußt zu sein. Mit besonderer Aufmerksamkeit hatte man außerdem die Presse bedacht. Mindestens ein Dutzend Zeitungen und illustrierte Wochenblätter hatten Berichterstatter gesandt, darunter auch Bildreporter. Neben dem übrigen gesellschaftlichen Glanz fielen sie etwas ab. Dafür hatten die Presseleute sicher nicht so viele geschwollene Lebern und weniger Hämorrhoiden. Valär mußte lächeln, als ihm das einfiel. Denn der Rechtsanwalt Heß, der von Rosa mittlerweile zu ihrem Berater erkoren und gleichfalls erschienen war, griff gerade nach seinem Magen.

 

Die Veranstaltung begann mit einem Vortrag von Dr. Streiff über sein Heilverfahren, und nicht nur die Zeitungsberichterstatter erzählten am Tag danach ihren Lesern, daß sie von einem ärztlichen Redner noch selten so fasziniert worden seien. Auch das übrige Publikum geriet fast widerstandslos in seinen Bann.

Zunächst sprach Dr. Streiff davon, daß der Mensch ein Wunderwerk sei, und wer ihn auf dem leicht erhöhten Podium hin- und hergehen sah, blendend in der Erscheinung, seine Gedanken mit Leichtigkeit formulierend, phantasievoll, schimmernd, bewußt, ein Mensch der Nuance, beweglich, tadellos angezogen, mit dem silbernen Bürstenspiegel im Haar und dennoch ein Bild kummerlos blühenden Lebens, der war versucht, ihm ohne weiteres Glauben zu schenken. Denn jeder schien das Wunderwerk ganz unmittelbar vor Augen zu haben und an der Arbeit zu sehen.

Normalerweise halte dieses Wunderwerk sich selber in Ordnung, versicherte er, und hole dabei, selbst in schwierigen Lebenslagen, die unwahrscheinlichsten Leistungen aus sich hervor. Zuweilen gehe eine Anforderung aber doch über die Kraft. Denn der 189 ekelhaften Zutaten zum Leben gebe es viele, besonders in diesen Tagen der Unsicherheit und Gerüchte. Dann könne das Wunderwerk Erschütterungen ausgesetzt werden, die sich in schmerzhaften, oft auch häßlichen Formen entladen und uns unerwünscht sind, weil sie unserem Lebensverlangen schnurstracks zuwiderlaufen.

Sei das ein Grund, um unglücklich zu sein oder gar zu verzweifeln? Im Gegenteil! Eine solche Lage müsse vielmehr zum Anlaß werden, um mit dem Gedanken an das Wunderwerk nicht nur zu kokettieren, sondern um in aller Form mit ihm ernst zu machen und sich dem großen Magier im eigenen Innern vertrauensvoll zu unterwerfen.

Denn die Störungen der Verdauung und das Erschlaffen der Sinnes- und Drüsenfunktionen, der Hautausschlag und die Schlaflosigkeit, die Herzangst und der Furunkel, die Gedächtnisschwäche und Atemnot, das Rheuma, die Migräne und mangelnde Widerstandsfähigkeit gegen alle möglichen Attacken körperlicher und seelischer Art seien ja nichts Selbstzweckhaftes, so wenig wie ein Erdbeben oder ein Nordlicht um seiner selbst willen da sei. Sie seien auch keine Geistergeräusche aus dem Wartezimmer des Todes. »Sondern das Leben ist inne geworden, daß in Zusammenhang mit der Erschütterung gewisse Bedingungen seiner Existenz sich geändert haben. Nun trifft es Vorkehrungen, um sich auf die neuen Verhältnisse einzurichten und die in ihnen liegende Drohung, hier durch Entgegenkommen, dort durch Abwehr, zu überwinden. Diesen Prozeß nennen wir Krankheit, vergessen aber zumeist, daß er nichts Widernatürliches ist, vor dem man sich fürchten muß, sondern der ebenso wohlgemeinte wie geniale Versuch des Lebens, sich unter erschwerten Bedingungen wieder gerade zu richten und sich dabei in eine Verfassung zu bringen, in der ihm der Dämon, der ihm bisher zugesetzt hat, nichts mehr anhaben kann. Die Krankheit ist also bereits der Genesungsprozeß, der stürmische Anlauf zu ihm, seine erste Etappe. Aufgabe des Arztes kann es dementsprechend nur sein, die Natur in diesem Anlauf zu unterstützen. Natura sanat, medicus curat.«

Mit dem Wort »Curare«, sagte Dr. Streiff, sei er bei der ärztlichen Urtätigkeit angelangt, »dem Akt des interessierten und dennoch 190 neidlosen Helfens« – das heiße bei jenem Aufgaben- und Pflichtenkreis, durch den er nicht nur seine eigene Existenz gerechtfertigt fühle, sondern auch die dieses Hauses. Damit sei er allerdings auch genötigt, noch einmal zurückzukommen auf seine Feststellung, daß der Mensch ein Wunderwerk sei. Denn die meisten Aerzte, die einen Kranken behandeln, hätten das nie gewußt oder es wieder vergessen und gingen bei ihren Eingriffen wie die Grobschlosser vor. Er wolle damit keinem der lieben Kollegen unrecht tun, ihn kränken oder heruntersetzen. Denn der gute Wille der Aerzte werde von ihm so wenig in Frage gestellt wie ihre Bereitschaft, in jedem einzelnen Fall das beste Heilmittel anzuwenden, das ihnen bekannt sei. Aber ihr guter Wille hindere sie nicht, mit dem lebendigen menschlichen Wunderwerk umzugehen wie mit einem alten eisernen Ofen, der nicht mehr recht zieht: sie stellten eine Diagnose und gäben ein Medikament oder auch zwei und drei Medikamente. Nun seien Medikamente schon recht. Aber ihre Zufuhr sei kein isolierbarer Akt; denn ihr Erscheinen im Körper löse stets eine lange Kette von Reaktionen aus, von denen wir in der Regel keine einzige vollständig übersehen.

Es gelte deswegen zunächst und in erster Linie, den Körper für die richtige Verarbeitung des Medikamentes bereit zu machen. Zu diesem Zweck sei von amerikanischen Aerzten, die er mit Stolz als seine Lehrmeister bezeichne, ein Verfahren entwickelt worden, das im Grunde sehr einfach sei, aber jeden, der sich seiner bediene, auch entsprechend belohne. Dieses Verfahren bestehe in einer Allgemeinbehandlung, der sich alle Insassen dieses Hauses gleichmäßig zu unterziehen hätten, und aus einer Spezialbehandlung, die sein unersetzlicher Mitarbeiter Dr. Theophil de Kälbermatten inzwischen weitgehend vervollkommnet habe. Diese Spezialbehandlung richte sich nach der Natur jedes Einzelnen – wohlgemerkt nicht nach seiner Krankheit, sondern nach seiner Natur. Denn damit werde ganz von selbst auch die Krankheit getroffen.

Schon die Allgemeinbehandlung, von der Dr. Streiff nun sprach, war aufsehenerregend genug. Denn sie bestand in dem grundsätzlichen Verbot, Nahrungsmittel tierischer Herkunft mit solchen pflanzlicher Herkunft zusammen zu essen. Ebenso wurden unter 191 den pflanzlichen Stoffen die Mehl- und Süßspeisen (im weitesten Sinn des Wortes) radikal von den sogenannten mineralsalzhaltigen Speisen getrennt; auch von diesen beiden Gruppen durfte jede nur für sich allein in einer eigenen Mahlzeit genossen werden. Dagegen hatten die Milch, die tierischen und pflanzlichen Fette keinen eigenen Ort. Sie seien neutral, sagte er, und gingen daher in beliebiger Kombination mit jeder der drei Gruppen zusammen.

»Sie sehen daraus, meine Damen und Herren, daß wir in diesem Hause den Menschen durchaus anerkennen als den Allesfresser, als welcher er Ihnen vertraut ist. Dagegen lehnen wir ihn mit der gleichen Entschiedenheit ab als den Mischmaschfresser, zu dem er von der Zivilisation gemacht worden ist, oder als den Weidekumpan der Gras-, Körner-, Wurzel- und Früchtefresser, als welcher er in den Gefilden des Vegetarismus erscheint.

»Denn für das Wunderwerk des menschlichen Leibes ist ein Mischmaschmahl eine Folter, von deren Schrecken Sie sich schwerlich auch nur eine annähernd richtige Vorstellung machen. Das hat seinen Grund darin, daß die Verdauungsarbeit schon mit dem bloßen Anblick und Geruch einer Speise beginnt. Der Bissen ist noch nicht auf die Zunge gelangt – und schon schickt der in jedem von uns hausende große Magier sich an, die Speichel- und Magensäfte für die Begrüßung des Bissens bereitzustellen und sie, der Menge und Zusammensetzung nach, so zu dosieren, daß der Ankömmling auf die zu ihm passende Weise empfangen wird – der Fleischbrocken also auf seine Art, das Brot auf die seine und so jedes andere Produkt, von der Spargelspitze bis zur Himbeere oder Melone.

»Das alles geht ausgezeichnet und verursacht nicht die geringsten Schwierigkeiten, solange nur Fleischiges oder nur Stärkehaltiges oder nur mineralstoffhaltige Materie geboten wird. Stellen Sie sich nun aber die Belastung, Hetze und Verwirrung vor, die in den Drüsenlaboratorien unseres Körpers entstehen müssen, wenn die Nachrichten über Menge und Art der Speisen in wildem Durcheinander sich jagen, weil das Material ganz regellos ankommt! Das ist kein Essen mehr, sondern eine verheerende Schlacht mit Bombenregen und Trommelfeuer, in der unser Körper die Rolle des armen 192 Soldaten spielt, der ununterbrochen Fehlgriffe macht, weil ihm die Ziele vor den Augen verschwimmen. Aber diesem Trommelfeuer und Bombenregen setzen beinahe alle Menschen sich mehrmals am Tag jahrzehntelang ahnungslos aus! Ist es nicht selbstverständlich, daß bei solchem Mißbrauch, den der Mensch mit seinem freien Willen treibt, die Widerstandsfähigkeit des Wunderwerks schließlich erlahmt und der eingebürgerte Unfug des Essens zur Ursache zahlloser Leiden wird, die besonders den älter gewordenen Menschen von außen und innen befallen? – Auch uns sind diese Einsichten nicht einfach vom Himmel her in den Schoß gefallen. Wir haben sie erarbeitet, erlitten, erkämpft, und wir sind entschlossen, in diesem Hause rücksichtslos von ihnen Gebrauch zu machen . . . Nein, wir decken die Mistgrube hier nicht zu, sondern wir räumen sie aus – darauf können Sie sich verlassen.«

An dieser Stelle ließ Dr. Streiff seinen Blick ausgiebig über die Gesichter der Versammelten schweifen. Als er entdeckte, daß er bereits im Uebergewicht gegenüber dem Publikum stand, legte sich ein kurzes Lächeln, fein wie gekräuselter Rauch, um seinen Mund, und in beinahe übermütigem Ton fuhr er fort:

»Die drei täglichen Hauptmahlzeiten werden aus all diesen Gründen so eingeteilt, daß eine rein stärkehaltig, eine rein mineralisch und eine rein tierisch ist. Es wird auch dafür gesorgt, daß ihre Reihenfolge zwischen Morgen- und Abendessen von Tag zu Tag ändert. – Nun möchten Sie wahrscheinlich wissen, was ich unter stärkehaltig, tierisch und mineralisch verstehe. – Hier bitte ich Sie, die gedruckte Karte zur Hand zu nehmen, die jeder von Ihnen auf seinem Platze gefunden hat. Sie sehen dann auf der ersten Seite die etwa vierzig Speisen verzeichnet, zwischen denen jeder unserer Hausgenossen bei einer sogenannten Tierischen Mahlzeit die Wahl hat. Denn bei uns wird nach der Karte gegessen, genau wie in einem Grand Hôtel. Sie erhalten kein lieblos zusammengestelltes und lieblos zubereitetes festes Menü wie in einem Spital. Sondern jeder wählt nach freiem Ermessen, wonach ihn gelüstet. Er bestellt eine Folge von zwei, drei oder noch mehr Gerichten, je nach Bedarf. Er entscheidet auch, je nach seiner 193 persönlichen Liebhaberei, über gesotten, gedämpft, geschmort, gebacken, gebraten oder grilliert. Vor phantasieloser Zubereitung braucht sich niemand zu fürchten. Unser Küchenchef ist in Paris und Bologna geschult. Er war Chef des Suvrettahauses in St. Moritz, und er wird mit seiner Brigade auch einen verwöhnten Anspruch noch zu übertreffen versuchen. Als Getränk nimmt man zu Tierischem einen leichten Wein. Auch Bier ist nicht verboten.

»In der Tabelle zwei Ihrer Karte finden Sie ein Verzeichnis der Einzelgerichte, die bei einer Stärkemahlzeit zur Verfügung stehen. Hier ist die Auswahl noch reicher. Ungefähr ebenso stark – hier bitte ich einen Blick auf Tabelle drei zu werfen – sind die Mineralmahlzeiten dotiert. Sie sehen auch, daß Sie bei einer Mineralmahlzeit keine gebratenen Kieselsteine vorgesetzt bekommen, wie einige von Ihnen vielleicht vermutet haben, oder einen Pudding aus Ziegelmehl, sondern daß hier wieder Gemüse und Früchte die Hauptrolle spielen, jedoch solche anderer Art als in Tabelle zwei, und daß dementsprechend als Getränke nur ungesüßte Fruchtsäfte, weiße Weine und saure Milch in verschiedenen Formen erlaubt sind. Uebrigens werden Sie nachher ja zu einem Probefrühstück unsere Gäste sein. Jeder hat dann die Möglichkeit, die Leistungsfähigkeit unserer Küche so hart und scharf auf die Probe zu stellen, als er es vermag.«

Auf die Sonderbehandlung der Patienten ließ sich Dr. Streiff nicht sehr ausführlich ein. Immerhin deutete er an, daß der Mensch aufgefaßt werden könne als eine Kleinwelt lebendiger Kräfte, die ihre bestimmten ererbten Eigenschwingungen habe, und daß Krankheit sich nur dort festsetzen könne, wo infolge verkehrter Ernährungsweise bereits eine empfindliche Störung dieses persönlichen Schwingungskreises bestehe. Für den Vertreter der »Dynamischen Medizin«, wie er seine Methode kurz nennen wolle, handle es sich darum, mit einem besonderen experimentellen Verfahren die Art dieser Eigenschwingungen genau zu ermitteln. Man werde dabei immer eine bestimmte meßbare Größe finden, die – sonderbar genug – mit den Eigenschwingungen einer bestimmten Pflanzenart korrespondiere. Durch Zufuhr der betreffenden Pflanze werde die Schwingungsanomalie wieder abgebaut und das 194 Individuum in eine Reaktionslage gebracht, die eine erfolgreiche Anwendung von Medikamenten gestatte. Kurzum: man zaubere hier auch ein wenig – er gestehe das offen. – Dieses Bekenntnis ließ den ausschweifendsten Vermutungen Raum und tat dadurch ebenfalls seine Wirkung.

 

Dieser Vortrag war im sogenannten Frühstückssaal des Sanatoriums vor sich gegangen. Jetzt begab man sich in die Halle, zur Vorstellung des versammelten Personals. Man sah Dr. de Kälbermatten, einen, wie eine Dame sagte, »antik« aussehenden Mann mit Widderkopf und dünner, kaum bemerkbarer goldener Brille. Er sprach kein Wort, aber wenn er schaute, so schaute er. Die ganze Schwingungskreistheorie mochte wohl seinem mystischen Kopf entstammen. Man sah den Apothekerlaboranten, die sehr hübsche Aufnahmeschwester, das weibliche Pflegepersonal und die Zimmermädchen, alle in hellen blumigen Kleidern, appetitlich wie bei einer Revue, sah den Masseur und Bademeister, den Küchenchef mit seiner Brigade und die Küchenleiterin, die als Verbindungsoffizier zwischen Arzt und Küchenchef diente. Auch die Hausburschen in ihren khakifarbigen Arbeitsoveralls waren zur Stelle. – Nein, dieses Haus war kein Spital, in dem vornehmlich gestorben wurde. In diesem Haus wurde gelebt, alle konnten das sehen.

Nach der Vorstellung des Personals fühlte sich Dr. Streiff anscheinend ein wenig erschöpft. Er wirkte plötzlich nicht mehr so unbändig jung, so wunderwerkhaft, so selbstsicher und überlegen, während er unter den Gästen stand und Gratulationen empfing. Valär sah ihn unruhig werden, seine leicht vorgetriebenen Augen bekamen einen beinahe gequälten Blick, und zu einer Bemerkung Valärs über die komischen Sprünge eines der Bildreporter murmelte er nur ein zerstreutes »Hm – hm!« Dazu fuhr er unter dem Cut hastig in den Hosensack, aus dem im nächsten Augenblick ein gelbes Päckchen mit den von früher bekannten billigen französischen Zigaretten hervorkam. Sofort schien ihm jedoch klar zu sein, daß er hier nicht rauchen dürfe, vor allem nicht 195 dieses Kraut. Er blickte sich um, wie jemand, der in einem Gedränge nach einem Ausweg sucht, und begann sich plötzlich hinter den Rücken der andern hindurchzuarbeiten. Als Valär ihn wieder auftauchen sah, stand er bei der Küchenleiterin und flüsterte erregt auf sie ein. Plötzlich war er wie weggeweht. Valär sah ihn im Hintergrund der Halle gerade noch durch die Eingangstür ins Freie verschwinden, während die Küchenleiterin die Versammelten mit erhobener Stimme bat, ihr zur Besichtigung des Küchenanbaus und des Schwimmbads zu folgen.

Wahrscheinlich stand Dr. Streiff jetzt im Park irgendwo hinter einem Busch, wo er glaubte, daß es keine Schlangen gab und niemand ihn sehen konnte, rauchte in seiner ruckweisen, jungenhaft heftigen Art eine Parisienne und war sehr vergnügt, weil es ihm geglückt war, sich für eine Weile von seinen Bärenführerpflichten zu drücken und sich an einem Ort zu verstecken, wo nicht einmal Rosa ihn fand.

 

Der Zustrom der Patienten ließ nicht auf sich warten, und nach drei Wochen war das Haus bereits in vollem Betrieb. Wie ein Kamin die Winde, so schien das Wort »Dynamische Medizin«, von Zeitungsreportern und Flugschriften ausgestreut und vom Gesellschaftsklatsch weitergetragen, alle die anzuziehen, die – nach einem erbarmungslosen Wort Rosas – auf dem Wege zum Dreckkübel waren, sich jedoch nicht dabei beruhigen konnten, daß es so mit ihnen stand, und nur noch besessen waren von dem verzweifelten Wunsch, ihrem Schicksal zu entrinnen. Valärs Bedenken, daß der in diesen Voralpengegenden recht reizlose Winter, dem man entgegenging, manchen Erholungsbedürftigen von einem Versuch vielleicht abschrecken könnte, war damit widerlegt.

In der fünften Woche erntete Dr. Streiff mit seiner Methode schon den ersten Erfolg.

Der Mann, an dem das Wunder der Heilung geschah, war Marius Ruckstuhl, der Maler, Valärs alter Freund, derselbe, den die Polizei einst, betrunken und schlafend, in einer Kanalisationsröhre gefunden hatte. 196

Dieser Mann, ein anfangs der Fünfziger stehender Graubart mit kleinem rundem Hütchen und schiebendem Gang, dessen Unterkörper sich noch eine ganze Weile in der andern Straße befand, wenn der Oberkörper schon längst um die Ecke war, hatte mit etwa vierzig Jahren eine niederschmetternde Entdeckung gemacht, an der später sogar seine Ehe zerbrochen war: er war dahinter gekommen, daß seine Mutter zu ihrer Niederkunft eine Gebäranstalt aufgesucht hatte, in der man die kleinen Kinder getrennt von den Müttern verwahrte. Seitdem wurde er von der fixen Idee verfolgt, er sei in der Anstalt verwechselt worden, rein aus Achtlosigkeit, vielleicht auch aus Bosheit; alte Mädchen konnten ja die teuflischsten Einfälle haben – großer Gott, aber mit wem? Er reiste an den Ort, an dem sich die Katastrophe ereignet hatte, aber es zeigte sich schnell, daß er niemals erfahren würde, mit wem er vertauscht worden war. Denn während eines Umbaus war die Anstalt niedergebrannt; ein Postgebäude stand jetzt an dem Platz, und niemand konnte ihm sagen, was aus den Büchern und Eintragungen aus der Zeit vor dem Brande geschehen war – auch der Direktor der neuen Gebäranstalt wußte es nicht – vermutlich waren sie mit dem übrigen Inventar in den Flammen verkohlt.

Ruckstuhl schüttelte zu dem allem den Kopf, seine Freunde desgleichen. Denn es tat ihnen weh, als sie sahen, wie die Erde unter seinen Füßen zu wanken begann, weil das Gefühl, daß er fälschlicherweise am Platz eines andern stehe, seine Lebenssicherheit untergrub und in seinem Kopf die tollsten Wahngebilde erzeugte, deren weder er noch andere Herr werden konnten. Dann trank er sich vor lauter Elend ein Loch in den Magen, konnte seine Arbeit nicht mehr versehen und wurde von allen möglichen tückischen Krankheiten heimgesucht. Ausgerechnet er habe Kunstmaler werden müssen, hatte Valär ihn einmal klagen hören, wo doch sein richtiger Platz, der Platz, an dem jetzt der andere stand, vielleicht in einem friedlichen Laden gewesen wäre, wo man an Weihnachten Lebkuchen verkaufte und an Ostern süße Biskuitlämmer mit einem gelben Glöckchen am Hals und dicke Hasen aus Schokolade! Dabei war er ein sehr guter und auch leidenschaftlicher Maler. 197

Bei seinem letzten Kummer- und Saufanfall hatte Ruckstuhl am ganzen Körper Furunkel bekommen, und kein Arzt hatte ihn bislang von den Schwären zu befreien vermocht. Aber was keinem hatte gelingen wollen, war Dr. Streiff in knappen fünf Wochen geglückt. Streiff hatte ihn einfach an Dr. de Kälbermatten verwiesen, und dieser hatte ihm schon nach der ersten Untersuchung erklärt, er habe zu wenig Sonne im Blut. Bei seiner Konstitution sei das natürlich verhängnisvoll, denn er sei ein Enzianmensch und brauche als solcher viel Licht. Zunächst habe er zwei Wochen lang dreimal täglich ein Pulver schlucken müssen, das aus zerriebener Enzianmasse hergestellt war, berichtete er Valär. Nachher habe man ihm ein halbes Trinkglas voll Blut abgezapft, habe es in eine verschlossene Schale gegossen und im genauen Abstand seiner Unterarmlänge eine Zeitlang mit Höhensonne bestrahlt. Dann habe man ihm das Blut wieder eingespritzt. Das hätten die Furunkel nicht überlebt. Wie überreife Feigen seien sie zusammengefallen, seien verrunzelt, verdorrt. Nun war er wieder gesund und normal und bestieg in der Wellenbadhalle des Sanatoriums ein Schwebegerüst, um durch Anfertigung eines Wandbildes seine Schuld abzutragen und darüber hinaus noch etwas zu verdienen. Aber für wie lange er wieder gesund und normal war, das wußte niemand.

Elmenreich hörte nur mit halbem Ohr zu, als Valär ihm von dieser sonderbaren Heilung erzählte, und erwiderte, daß er eine noch viel größere Neuigkeit habe.

Als Valär ihn danach fragte, sagte er:

»Brunos Wiedervergeltungsjahr ist vorige Woche zu Ende gegangen. Er kommt morgen heim.«

 


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