Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XIX.

Bruno kam, und niemand hörte seinen Vater mehr sagen, über dem Knaben sei mit einem gefährlichen Stabe gezaubert worden, als er entstand. Er war stolz auf seinen Sohn, und dieser Stolz war nicht unbegründet. 198

Denn Bruno hatte sein Wiedergutmachungsjahr wie ein Held durchgestanden. In dem Lebensprogramm, das Vater und Mutter für ihn aufgestellt hatten, war nicht vorgesehen gewesen, daß er seine bevorzugte Abkunft vergäße und landwirtschaftlicher Arbeiter würde. Die Nummer war von selber erschienen, und Bruno war angetreten zu ihrer Erledigung, wie es der ihm zugegangene innere Auftrag gebot. Nie hatte er die Ohren gesenkt, wie ein mißlauniges Pferd, und auszubrechen versucht. Er war in der Bahn geblieben und hatte Hindernis um Hindernis niedergerungen, unnachsichtig gegen sich selbst, bis er am Ziel war.

Das schien dem Vater mehr zu sein, als man von Bruno je hatte erwarten können, und so war es wohl auch. Bei der Rückkehr legte er sogar Geld auf den Tisch, blanke Silberstücke, schöne selbstverdiente Fünfliber. Woher kamen sie? – Sie kamen von Lüscher. Bruno hatte sich ohne Lohn an ihn verdingt. Aber seit einem halben Jahr hatte Lüscher gefunden, daß es eine Schande wäre, wenn er sich zu sehr schonte, wo man doch täglich sah, wie Bruno zugriff, bei allem und jedem, und er hatte ihm einen Sold ausgerichtet wie das Vaterland seinen Soldaten. Bruno hatte das seinerzeit auch nach Hause berichtet. Nun hatte er nicht nur verdient, sondern auch noch gespart . . .

Auch Valär wunderte sich, wie scheinbar fest Bruno mit einemmal in seinen Schuhen stand. Gewachsen war er nicht mehr sehr viel, und das war auch nicht nötig gewesen. Aber er war auf eine zähe Art in die Breite gegangen; in den Knochen hatte er Eisen, und es war klar, daß er es bereits mit jedem aufnehmen konnte, der sich mit eigener Arbeit durchs Leben schlug, mochte aus der Welt werden, was wollte. Trotzdem war er während seines Landjahres durchaus nicht verbauert. Er wirkte städtisch in seiner Erscheinung und hatte noch immer sein altes gewinnendes Lächeln unter den langen seidigen Wimpern. Auch für Aeußerlichkeiten war er sehr empfänglich geblieben und ebensosehr auf einen guten Haarschnitt wie auf gepflegte Kleidung bedacht.

Noch weit mehr an Brunos Wesen blieb jedoch vollkommen undurchsichtig, wenigstens für Valär, und sobald man auf die Verhältnisse zu sprechen kam, welche die Menschen geschaffen 199 hatten, um ihre Beziehungen zueinander in eine leidlich erträgliche und leidlich haltbare Ordnung zu bringen, spürte man gut, wie er sich als Fremdling fühlte inmitten so mancher Gepflogenheiten und Wertmaßstäbe, die ihn umgaben. Er sprach zwar nicht mehr so unbesonnen drauflos, wie es früher nicht selten geschehen war. Etwas sehr Bewußtes schien sich in der Zwischenzeit mit seinem schnell aufflammenden Wesen verbündet zu haben. Aber sein Temperament ging immer noch leicht mit ihm durch, und wenn das geschah, so kritisierte er mit schneidender Schärfe, was ihm mißfiel, und nicht einmal sein Lehrmeister Lüscher, an dem er mit wirklicher Zuneigung hing, blieb von seinen Aussetzungen verschont. Lüscher sei ein Ehrenmann, sauber, tüchtig und gut. Aber für das, was außerhalb der Landesgrenzen geschehe, fehle ihm jedes Interesse und auch jedes Verständnis. Da stünden Männer auf, schleuderten ihre Ideen hinaus in die Welt, stürzten Bestehendes um, bauten Neues. Aber Lüscher lasse das alles kalt. Was die Deutschen jetzt machten, sage er, oder was die Italiener und die Russen und die Spanier machten, das möge für sie ganz das Richtige sein. Wenn sie die Meinungsfreiheit verstaatlichten, die Widerspenstigen in Konzentrationslager steckten und den Juden das Fell über die Ohren zögen, oder wenn sie sich, wie die Spanier, gegenseitig die Köpfe einschlügen, so wüßten sie wahrscheinlich ja, was sie täten und vor ihrem Gewissen zu verantworten hätten. Aber uns gehe das alles nichts an. Unsere Eidgenossenschaft habe so viel gekostet, bis sie in leidlicher Ordnung beisammen war, so viele Opfer an Geld, Mut, Blut und Verzicht, daß wir im eigenen Interesse nichts Besseres tun könnten, als uns von den Sorgen und Händeln der andern fernzuhalten, falls uns daran läge, unseren eigenen Bestand nicht zu gefährden. Lüscher verstehe eben nicht, daß man jung sein und auf ganz andere Weise an die Zukunft denken und an die Zukunft glauben könne, als er es gewohnt sei.

»Die Zukunft, die Zukunft! Die Zukunft wessen?« fragte Valär.

»Die Zukunft unseres Landes, unserer Einrichtungen, unserer Gesinnung«, antwortete Bruno erregt, »alles das, was los sein soll mit der Schweiz, wenn wir Männer sein werden. Meinst du, wir 200 hätten bei unseren Jungschützen-Zusammenkünften nur Hosenlupfis gemacht und Bundespatronen gratis verknallt? . . . Nicht einmal Lüscher bestreitet, daß es in unserem Lande noch manchen Saustall zum Ausmisten gibt. Nur hat er eben seinen engen, eingebildeten Bauernschädel. Bloß sein Besen, meint er, sei zum Ausmisten zu gebrauchen.«

Valär staunte und staunte. Noch vor einem Jahr hatte Bruno mit seinem Freunde Europa so schnell wie möglich den Rücken kehren und nach der Südsee auf und davongehen wollen, weil er sich nichts von Europas Zukunft versprechen konnte, und hatte einen sehr kräftigen Ausdruck zur Bekundung seiner unergründlichen Verachtung gebraucht. Und die Schweiz hatte er in einem Brief an Dinah hohnvoll eine traurige Murmeltierhöhle genannt, von der er nicht begriff, wie sein Vater sie sich zur Heimat habe erwählen können, weil »wüste Räuel wie unser Schneckenpfarrer« in ihr die große Posaune blasen und »prächtige Männer wie Lüscher unbekannte Statisten sind«. Jetzt hatte Lüscher einen engen, eingebildeten Bauernschädel – und Bruno war Jungschütze und glühender Patriot, der Sauställe sah, die man ausräumen mußte, und anscheinend auch schon bestimmte Vorstellungen über ein wirksames Ausräumungsverfahren besaß . . .

Valär machte ein Gesicht, als ob er gezwungen wäre, zu lächeln. Aber das Lächeln kam nicht. Er widerstand auch der Verlockung, dem durch Lüschers Verhalten vor den Kopf gestoßenen Jüngling begreiflich machen zu wollen, daß Lüscher sich nur auf seine Art wohl und wehe tat, wenn er das Fremde so weit von sich distanzierte. Dagegen fragte er ernst und interessiert:

»Bruno, du sprichst von einer andern Weise, an die Zukunft zu denken und an die Zukunft zu glauben, als dies Lüscher gewohnt ist. – Willst du mir sagen, was du damit meinst?«

Sprungbereit erwiderte Bruno:

»Ich meine, und andere meinen es auch, daß es niederträchtig wäre, beiseite zu stehen, und einfach feig, wenn die Einheit Europas geschmiedet werden soll von Männern und Völkern, die etwas wagen. Bisher hat die Welt nur die Zerrissenheit Europas gesehen und die gegenseitige Teilnahmslosigkeit oder den gegenseitigen 201 Neid aufeinander. Jetzt soll der Welt seine Größe zu Gemüt geführt werden, auf eine unmißverständliche Art, und seine Zusammengehörigkeit und seine Stärke. Es wäre eine Schande, wollten wir dabei fehlen.«

Ja, das hatte Valär in ähnlicher Weise schon von andern jungen Leuten gehört, sogar von dem bestandenen petrusbärtigen Zünd, und er hatte dazu geschwiegen, weil er ihre edle Traumfähigkeit nicht beleidigen wollte, und weil schon Novalis, der herrliche Jüngling, mit solch frommen Wünschen im Herzen den Mächtigen seiner Zeit zum Mahner geworden war. Auch eine Kränkung Brunos wollte Valär vermeiden. Aber ganz schwieg er diesmal nicht, sondern entgegnete mit leicht gerunzelter Stirn:

»Bruno, es kommt nicht nur darauf an, daß man Ideen hat, die dem Herkommen und der Etikette, wenn du so willst, widersprechen, und daß man diesen Ideen anhängt, weil sie den eigenen Willen beflügeln. Eines Tages muß man auch die Verantwortung für sie übernehmen: ob sie nun etwas taugen oder ob sie so sind, daß sie die Menschen untereinander nur noch weiter entzweien.«

Ein wenig stutzig erwiderte Bruno:

»Götti, ich habe bei Lüscher, besonders in der trüben Jahreszeit, viel gelesen und nachgedacht. Die Europa-Idee taugt. Sie ist etwas ganz Großes.«

»Sie hat etwas sehr Bestechendes, wollen wir sagen. Aber es kommt nicht nur an auf die Idee, sondern es kommt auch auf die Mittel an, mit denen sie ins Werk gesetzt werden soll, und darüber wissen wir einstweilen gar nichts.«

»Das ist einfach«, antwortete Bruno. »Jedes Volk schafft soziale Gerechtigkeit im eigenen Land, nötigenfalls mit Gewalt. Dann reichen alle Völker einander freiwillig die Hände, zum großen Bund, und die europäische Familie ist fertig. Alle sind frei und gleichberechtigt im Rahmen des Ganzen.« – Dazu hob er den Kopf, als fühle er sich nur in einer scharfen Luftströmung wohl und liebe den Umkreis der Gefahr mehr als je.

»Schön, ich will es mir hinter die Ohren schreiben, das, was du eben gesagt hast«, entgegnete Valär. »Wenn es dann soweit ist, 202 daß ihr die soziale Gerechtigkeit in unserem Lande hergestellt habt, wollen wir wieder darüber reden.«

»Also bist du immer noch nicht überzeugt?« fragte Bruno enttäuscht.

»Ich habe es allmählich verlernt, an das zu glauben, was in der Welt geschwatzt und geschrieben wird. Ich glaube lieber an das, was geschieht«, sagte Valär.

Trotzdem stand es so, daß ihm Brunos zackige Schwarmgeisterei und sein auflüpfisches Wesen besser gefielen als die beinahe sportliche Teilnahmslosigkeit, mit der ein anderer Teil der gegenwärtigen Jugend sich in die herrschenden Verhältnisse fügte. Brunos Blut war während des Landjahres nicht dumpf und träge geworden, und das war viel. Er schien auch nicht mehr zu glauben, daß das Leben ihm alles schuldig sei und er ihm nichts, und daß es nur darauf ankomme, sich zwischen diesen Positionen mit heiler Haut durchzuschlagen. Das freute Valär. Denn an allem diesem war etwas Gesundes.

 

Aber was sollte aus Bruno nun werden?

Man merkte gut, wie unangenehm es Bruno war, im Zusammenhang mit dieser Frage von der fast überstürzten und seither verschwiegenen Abreise seines vergötterten Freundes Thornton Braestrup sprechen zu müssen, besonders, nachdem sich herausgestellt hatte, daß Valär mit Thorntons Mutter und Schwester persönlich bekannt und über die Verhältnisse in der Familie gut unterrichtet war. Bruno wollte zwar von einer Verstimmung gegen Thornton nichts merken lassen. Mit allen Mitteln nahm er den Freund in Schutz, und es entschlüpfte ihm nie eine Aeußerung des Mißfallens darüber, daß jener ohne ihn in der Richtung der Südsee abgedampft war, als der australische Vater sein Machtwort sprach und ihn zurückberief. Bruno bekräftigte des Freundes fortdauernde Anhänglichkeit auch durch Vorlegung mehrerer Briefe, die er Valär zur Einsicht überließ. Während jedoch in den ersten Briefen mit fast überschwenglichen Worten von beinahe nichts anderem die Rede war, als daß er Bruno nach Abschluß des 203 Landjahres erwarte, meldete der jüngste, aus Brisbane datierte Brief trocken, der Vater habe seine Plantagen verkauft. Er selbst stecke als Lehrling auf einem Handelskontor und müsse vorläufig Schafwolle von Schafwolle unterscheiden lernen – oh, es sei gemein. Aufbrüllen möchte er manchmal vor Heimweh nach der Welt der Gelöbnisse, in der sie sich miteinander so glücklich getummelt hätten. Aber das Leben in der Wildnis habe doch auch seine Schattenseiten, wie sich auf einem Ausflug nach Bougainville herausgestellt habe, und er sei froh, daß er sich nicht mit ihnen befassen müsse. Außerdem habe er auf dem Kontor eine entzückende Freundin gefunden, die ihn mit ihren Zärtlichkeiten vieles vergessen mache, was er ohne eigenes Verschulden verloren habe.

Als Bruno seinen Goetti in diesen Brief sich vertiefen und dann wortlos zu ihm aufblicken sah, ließ es sich nun aber doch nicht vermeiden, daß Brunos Gesichtsausdruck etwas Bitteres bekam. Es zeigte sich auch, daß des Freundes Autorität nicht mehr wie eine gebietende Naturmacht über ihm stand; sie war wohl schon länger gebrochen. Denn Bruno erklärte offen:

»Es war eine schöne Zeit mit ihm zusammen, vergessen werd' ich das nie. Aber es ist mir doch lieb, daß er so schreibt, und daß er anscheinend selbst bereits damit rechnet, er brauche nun nicht länger mehr auf mich zu warten. Denn was das Urbarmachen von Land betrifft, das uns einmal als schönste Aufgabe vorgeschwebt hat«, fügte er mit einem fast boshaften Lächeln hinzu, »so gibt es ja auch bei uns noch genug nicht unterworfenen Boden, wo man Bäume ausreißen und Unkraut abbrennen muß, bevor er das leistet, was man von ihm erwartet.«

Trotzdem schien Bruno auch weiterhin am Plan eines Aufenthalts im Auslande festzuhalten, oder es kam ihm wenigstens das Spiel mit einem solchen Plan zur Verschleierung anderer Positionen gelegen. Bruno wies sogar, zur Erleichterung aller, mit bestimmten Vorschlägen, die er machte, einer Lösung der Frage, was zunächst mit ihm geschehen solle, aus eigenem Antrieb den Weg.

Das Ueberraschendste an diesen Vorschlägen war, daß sie zu seiner bildungsfeindlichen Einstellung aus der letzten Periode 204 seiner Schulzeit in recht schroffem Gegensatz standen. Denn er verlangte wieder nach Unterricht. Der Vater hörte das gern und schlug ihm vor, die Maturität nachzuholen. Bruno, der jetzt in dem Alter war, in dem junge Leute seiner Begabungsstufe die Hochschule beziehen, wollte davon aber nichts wissen. Ihm komme es auf die Pflege des für ihn selber Notwendigen an, nicht auf die des Beliebigen. Und mit seiner früheren Hartnäckigkeit lehnte er auch weiterhin vieles ab, was man auf einem Gymnasium den Menschen als Lebensspeise darbot oder empfahl. Anderes aber hatte er in der Lüscherschen Welt entbehren gelernt; jetzt wünschte er, dieser Not einen Riegel zu schieben und durch Vermehrung des geistigen Rüstzeugs, in dessen Besitz er sich brachte, auch seinen Bewegungsraum zu erweitern.

Bruno schlug deswegen vor, zunächst im Elternhaus bleiben und in den freien Bildungsanstalten der Stadt gewisse Kurse und Vorlesungen besuchen zu dürfen, die ihn interessierten. Er wollte Englisch lernen, wollte sich mit Wirtschaftsgeographie, Weltgeschichte und Gesellschaftslehre befassen, wenn es ging auch mit Völker- und Rassenkunde. Was danach kommen sollte, wollte er einstweilen offen lassen – etwas würde schon kommen.

Restlos begeistert von diesem Plan war Brunos Mutter. Ganz benommen von der unverhofften Aussicht, den Liebling und Stolz ihres Herzens von nun an wieder beständig um sich haben und ihn auf ihre Weise verhätscheln zu dürfen, schwärmte sie laut von Familienglück, und daß sie nun sicher nicht mehr magerer würde. Außerdem sei in den Bergen der erste Schnee gefallen, und da die neuen Kurse doch erst nach Neujahr begännen, könne er zunächst ein paar Wochen Skiferien machen und sich in jeder Richtung von den Strapazen des vergangenen Jahres erholen.

Aber Bruno erklärte zu Nanys Schmerz, daß für ihn ein derartiges Großkapitalistenleben gar nicht in Frage komme. Er habe Lüscher versprochen, nach Erledigung seiner hiesigen Angelegenheiten vorerst zurückzukehren und ihm bei den verschiedenen Winterarbeiten zur Hand zu gehen; denn es gäbe noch mancherlei zu erledigen. Dieses Versprechen werde er halten. An Weihnachten kehre er dann endgültig heim. 205

Schon um dieser festen Antwort willen stimmte der Vater seinem Plan zu und fand sich damit ab, daß Bruno unbekannten Gestaden entgegenreiste.

 


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