Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XXVII.

Als der Tag der Pfarrwahl gekommen war, herrschte ein solcher Andrang zur Urne, wie er in der Gemeinde schon lange nicht mehr erlebt worden war. Und nachdem sich die Stimmenzähler versammelt und ihres Amtes gewaltet hatten, stellte ihr Obmann fest, daß Leuthold abgesetzt war.

Dennoch stand es so, daß sich im letzten Augenblick das Blatt um ein Haar noch zu seinen Gunsten zu wenden drohte. Erstens hatte er drei Tage vorher im Bezirksanzeiger eine Erklärung erlassen, in der er sich als Urheber der mit J. L. gezeichneten Einsendung wegen der Spitalgebühren und der zugehörigen Schenkung bekannte. Es sage es nur, damit man wisse, an wen man sich wegen des Wortes »Freudenhaus« wenden müsse, falls es nicht genehm sei. Er sei bereit zum Wahrheitsbeweis. Diese Erklärung war nicht ohne Eindruck verrauscht. Zweitens war dem Pfarrer in der Nacht vor der Wahl eine so wilde Katzenmusik dargebracht worden, daß sich der ganze Innenbezirk der Gemeinde um seine Nachtruhe betrogen sah. Die Ortspolizei hatte keinen der Ruhestörer erwischt, vielleicht auch gar nicht erwischen wollen. Aber es hieß, daß es eine Rotte junger Leute gewesen sei, darunter sogar ein Mädchen.

Nun hatte man plötzlich wieder Mitleid mit dem Mann. Man wollte ihm zu verstehen geben, daß man dieses heulende Auftreten unmündiger Schlingel nicht billigen könne, und dieser oder jener, der schon zu einem Nein entschlossen gewesen war, legte im letzten Augenblick ein Ja in die Urne. Aber von der Katzenmusik hatten doch nicht alle Wähler persönlich etwas gehört oder so rechtzeitig vernommen, daß sie ihren Entschluß noch hätten ändern können. Außerdem begann ganz zuletzt das Gerücht umzulaufen, Leuthold habe sich diese Katzenmusik selbst bestellt, um eben jenen Mitleidseffekt zustande zu bringen; infolgedessen schlug unter den schon wankend Gewordenen die Stimmung abermals gegen ihn um.

 

Die Katzenmusikanten aber trafen sich am Abend des Wahlsonntags, wie es verabredet war, an dem nämlichen Ort, an dem 270 sie schon seit Wochen ihre Versammlungen hatten, sich bald gegen dies, bald gegen jenes verschwörend. Dieser Ort war die Kegelbahn von Dreitannen.

Als erster kam Kari Bösch, der Möbelschreiner, Brunos Freund. Dann kam Bruno selbst, und einzeln oder zu zweit kamen weitere Kameraden der beiden. Zwischendurch stellte sich auch, pfeifend und auf ihrem Rad, ein Mädchen ein, und das war Heidi, die Aufnahmeschwester des Sanatoriums. Sie war auch die Erfinderin des Gerüchtes, daß die Katzenmusik eine Bestellung Leutholds gewesen sei. Frühmorgens war sie im Dorf gewesen, um ihr Postfach zu leeren, und als sie spürte, daß die Stimmung wegen des nächtlichen Unfugs erbittert war, hatte sie jenes Gerücht schnell aus dem Aermel geschüttelt und für seine Verbreitung gesorgt. Wie stand sie nun da!

Ein zärtliches Gefühl stieg in Bruno auf, als er alle seine Getreuen um sich versammelt sah, ein Häuflein, das seit Monaten wuchs, und er war die Seele. Ganz langsam hatte er sie aus ihrer Gleichgültigkeit gegenüber den Zeitgeschehnissen aufgerüttelt oder aus ihrem richtungslosen kieselsteinhaften Herumgeschwemmtwerden herausgeholt. Er hatte sie zusammengebracht, so daß sie sich fühlten und mochten, und jeder dem andern etwas zu gelten begann. Seine dunkelseidigen Augenwimpern bogen sich auf und ab und schlugen wie sanfte Nachtschwalbenflügel gegen das spärlich über den Tisch hinfließende gelbliche Licht, bei dem die Freunde in dem halbdunklen Raum, gedeckt gegen fremde Sicht, beieinander saßen – und immer wieder lächelte er.

Dasselbe zärtliche Gefühl wie für die Kameraden der vergangenen Nacht erfüllte ihn auch für die Männer in der Gemeinde, die eine gute und gerechte Sache darin gesehen hatten, den Pfarrer vor die Türe zu setzen, so daß man ihn nun los war. Jetzt, da etwas gegangen war nach seinem Sinn, trotz vielfachem Gegendruck, und Leuthold seinen Denkzettel hatte, hatte Bruno zur Generation der Väter plötzlich ein stilles Vertrauen gefaßt. Sie waren doch nicht bloß Zunder und morsches Holz, sondern konnten auch Stacheln haben, und er stellte sich mit Vergnügen 271 vor, daß es noch viele von ihrer Art weiter im Land herum gäbe.

In einer kleinen Ansprache breitete Bruno diese Gefühle vor den andern aus, und alle waren erstaunt über die ungewohnte Wärme und Herzlichkeit, mit der er von den Aelteren sprach, weil sie sich Leutholds sturen Haß gegen fremdländische Art nicht hatten einreden lassen als eine Art von Patriotismus, die fleißiger als bisher gepflegt werden müsse. Sein Götti, der Oberstleutnant Valär, habe erklärt, das sei keine Sache, der man einen achtunggebietenden Namen beilegen könne, sondern eine giftige Art von Vaterländelei, die nur jene freut, die sich mit ihr befassen. Aber nun habe der Giftpilz ja die Quittung dafür.

Sogar über Leuthold selbst begann sich Bruno mit einer gewissen Nachsicht zu äußern, beinahe ritterlich und generös. Er sei nur ein Teil der allgemeinen Katastrophenlage unserer Zeit, so ein winziger kleiner Erdbebenherd, der auf eine Stelle hinweise, wo etwas hohl ist und faul, aber eben doch ein Herd von solcher Winzigkeit, daß schon in einer Entfernung von wenigen zehn Kilometern die Nadel nichts mehr spürt von den Erschütterungen, die er verursacht.

»Ein Teil dieser Katastrophenlage«, fuhr Bruno fort, »sind auch wir selbst – ich habe darüber ebenfalls mit meinem Götti gesprochen. Aber wir sind nicht das Hohle darin und sind nicht der Staub, der von den Wänden rieselt, sondern sind der Wind, der darüber schwebt und den Staub in Bewegung bringt. Er weht und versucht, den Staub zusammenzutragen zu Wolken und diese Wolken fortzuwirbeln über das Meer, wo sie nichts mehr finden, was sie unter ihrer Decke ersticken könnten. Genau gesagt sind wir auch das noch nicht. Genau gesagt sind wir heut noch ein Nichts, meine Freunde, vergesset das nicht! Wir sind nur ein Lüftlein, kein Sturm – nicht einmal eine Katzenmusik können wir starten, ohne uns, wie die Buben, vor der hohen Obrigkeit verstecken zu müssen. Und auch wenn wir einmal ein öffentliches Mitbestimmungsrecht haben, werden wir noch lange nur eine Minderheit sein, und wir werden das auch zu spüren bekommen. Denn es ist ja das Prinzip der Parteien hier, und das nicht erst seit heute, keine Bewegung so mächtig werden zu lassen, daß 272 nicht die Gesamtheit der übrigen den Gegner jederzeit überwältigen könnte. Mögen sie sich gegenseitig sonst noch so hassen – in diesem Punkt sind sie einig. Aber wir werden wachsen und müssen wachsen! Es muß dahin kommen, daß unser Land als etwas Gesundes, durch und durch Sauberes und Lebenskräftiges dasteht, wenn es so weit ist, daß die Völker Europas sich durchgekämpft haben zu einer freiwilligen Schicksalsgemeinschaft solidarischer Partner in Leid und Freud, schön wie ein Wald mit seinen verschiedenen Pflanzen – und es darf nicht geschehen, daß man an uns zuallererst herumsäbeln und herumhobeln muß, bevor wir zu ihnen passen. Immer wieder kann ich euch nur dieses eine zeigen als unser Ziel und euch sagen: daß ihr an die Schweiz nicht denken dürft, ohne gleichzeitig an Europa zu denken, und daß ihr an Europa nicht denken dürft, ohne die Schweiz darin an einem schönen Platze zu sehen, wie er ihr zukommt, wenn sie sich bis dahin von allem Räudigen trennt.«

Sie sprachen noch eine Weile von dem, was ihnen Bruno vorgesetzt hatte, und entflammten sich heiß. Auch Zünd, der sich gern bei ihnen sehen ließ, streckte den Kopf herein, gab jedem die Hand und mischte sich in ihr Gespräch. Wie etwas Wundersames, das sie hoffnungsvoll und heftig ersehnten, kam ihnen die Zukunft vor, wenn sie an die Rolle dachten, die ihnen in Brunos Sehnsuchtsträumen zugedacht war, und es war besonders der in einer Banklehre seufzende Sohn des Posthalters davon begeistert, daß er noch an Schönerem sollte mitwirken dürfen als nur an der Bedienung der Rechenmaschine.

»So, ihr übersinnlichen Männer«, rief schließlich Heidi aus einer Ecke des Raumes, wo sie gebückt vor einer aufgeschlagenen Kiste stand, und ließ einen wahren Regen von ledernen Boxhandschuhen auf ihre Köpfe und die Tischplatte niederprasseln, »jetzt seid ihr aber genug in den Wolken geschwebt. Zieht jetzt mal eure Hemden herunter – jetzt wird Schinkenklopfis gemacht – fix – los! Ich will auch mein Pläsir.«

Sie bekam ihr Pläsir. Hin und wieder hörte man Brunos kräftiges sorgloses Lachen, wenn Bösch wieder einen Treffer bei ihm gelandet hatte; hin und wieder griff Heidi mit schriller Stimme als 273 Ringrichter ein in den Kampf. Danach hatten sie Durst, bestellten zu trinken und neckten sich. Plötzlich fanden sie, es sei Zeit, nach Hause zu gehen, und brachen auf.

 


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