Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XIII.

Valär erinnerte sich später, daß das Mädchen ein ziemlich verwachsenes, rüschenbeladenes Kleid angehabt hatte, aus dessen Aermeln man die Handgelenke lang und eckig hervortreten sah. 130 Es lächelte kummervoll, als es seine dargebotene Rechte nahm, senkte die Stirn, beinahe sklavisch, als wäre es gewohnt, überall, wo es erschien, als etwas Ungebetenes empfunden zu werden, und blickte ihn, kaum wahrnehmbar schnell, aus gelblichen fragenden Augen an. Dazu machte es einen kurzen höflichen Knicks, der sich bei seiner formlosen Länge wunderlich genug ausnahm. Aber als es spürte, daß man freundlich und nett mit ihm war, wurde es freier, und bei Rosas Anweisungen für Ankäufe in einem Delikateßgeschäft und dem Auftrag, dort zu warten, bis sie es mit dem Auto abholen würde, kam sogar Farbe in sein Gesicht. Sofort nach Entgegennahme des Auftrags und eines Geldscheins machte es sich auf seinen langen Beinen wieder davon.

 

Eines Samstags im nächsten Monat, als das Wochenendhäuschen wieder Valärs Reiseziel war, befand sich sein Auto in Reparatur. Er mußte daher das Bähnchen benutzen, das dem Fluß entlang nach Escholzwil fuhr.

Da es Mittagszeit war und mit dem um diese Stunde fälligen Zug regelmäßig viele Angestellte und Schüler zum Essen in die verschiedenen Gemeinden des Tales nach Hause fuhren, hatte er Dinah auf dem Bahnhof zu treffen gehofft. Aber Samstags blieb sie oft in der Stadt, bei den Pfadfinderinnen, und sie war deswegen nicht da.

Dagegen sah er zum erstenmal seit jener Begegnung auf seinem Büro die Tochter der Frau Ellegast wieder, und sofort fiel ihm auf, daß sich das Mädchen inmitten des lebhaften Jungvolkschwarms genau so verloren ausnahm wie damals in seinem Arbeitszimmer. Alle diese Schüler und Schülerinnen wechselnder Altersstufen gingen oder standen in kleinen und größeren Kameradschaftsgruppen auf dem Bahnsteig umher, während das Züglein weiter draußen rangierte, und vertrieben sich mit angeregten Gesprächen, lachend oder sich gegenseitig anlärmend, die Wartezeit. Während der ganzen Woche waren sie hinter ihren Klappdeckelpulten gesessen, jedes auf der Suche nach seinem Gesetz und nach einem Platz, an dem es später in das große brausende 131 Leben sich würde einordnen können – es hatte sechs Tage lang entsetzlich viel zu lernen gegeben, und mehr als einmal hatte diese und jene Stirn sich sorgenvoll und düster umwölkt. Jetzt wehte eine andere Luft. Der Sonntag stand vor der Türe, und allen schien leicht zu sein, während die Sonne heiß auf ihre Köpfe herunterbrannte.

Dieses alles erinnerte ihn stark an seine eigene Jugend, und er blickte in das Treiben jedesmal mit dem gleichen Vergnügen hinein wie in einen glitzernden Teich, in dem die Fischlein sich jagen.

An dieser Losgelassenheit schien das große Mädchen mit den langen goldroten Zöpfen nicht den geringsten Anteil zu haben. Als Valär es erblickte, saß es wie etwas von den andern Ausgeschlossenes auf einer Schattenbank an der Wand des kahlen Bahnhofgebäudes, hatte die Schulmappe über den Knien und beugte sich über ein Buch, in dem es las. In seinem hellen, schon ganz sommerlichen Kleid sah es fast noch dünner und durchsichtiger aus, und jedenfalls wirkte es nicht wie ein Glücksfall unter den Kindern der Erde.

In Valär erwachte eine schmerzliche Neugier und begann ihn zu plagen. Er trat zu dem Mädchen hin und begrüßte es.

Es schien nicht sofort zu begreifen, daß da jemand war, der sich seiner annehmen wollte. Fast erschrocken hob es den Kopf, und ein hastiges, traurig-verlegenes Lächeln überflog sein Gesicht. Im nächsten Augenblick wurde das Lächeln abgelöst von einem freundlichen Staunen. Dann reichte es ihm die Hand. Sie war trocken und rauh.

Kurz danach gingen sie auf dem herrlich heißen Platz unter den andern auf und nieder. Das rötliche Steinpflastermuster flimmerte vor den Augen unruhig hin und her, und aus dem Hintergrund nahte langsam das Bähnchen. Man hätte glauben können, es sei schon Sommer, und dabei war es erst Mai.

»Nele?« fragte Valär, als ihm das Mädchen bestätigte, daß dies ihr Vorname sei, »was ist das für eine Sprache?« – Jetzt erst fiel ihm ein, daß dies ja der Name von Eulenspiegels Geliebter war. Aber nun hatte er schon gefragt. 132

»Ach beinahe gar nichts ist das«, antwortete sie. »Regelrecht sollte es ja wohl Daniela heißen. Aber in Australien machen sie mit den Namen ja grad, was sie wollen.«

»Kein Wunder in einem Land, wo man überall auf Schafe und Känguruhs tritt und so verrückte Gebilde wie die Schnabeltiere daheim sein sollen!« erwiderte er.

Das schien ihr zu gefallen. Trotzdem wagte sie kaum, es zu zeigen, sondern verbiß ihr Lächeln schnell auf der Unterlippe und blickte angestrengt gradaus auf die gegenüberliegende Mauer.

»Im Ernst: sind Sie in Australien geboren?«

»Ja, in Brisbane.«

»Aber Sie sind schon früh weggekommen?«

»Ungefähr mit acht Jahren. Meine Eltern wurden damals geschieden. Mutter kehrte mit uns Kindern nach Europa zurück.

»Seitdem leben Sie in der Schweiz?«

»Das doch nicht! Mutter hat ihren Wohnsitz ja beständig gewechselt.«

»Da haben Sie sicher schon ein großes Stück Welt gesehen, auf all diesen Reisen?«

»Oh, nicht soviel«, meinte Nele. »Mein Bruder und ich, wir sind ja immer nur vorübergehend mit der Mutter zusammengewesen. Meistens waren wir irgendwo untergestellt – einmal in Holland, einmal in Deutschland, einmal in England. Seit fast vier Jahren sind wir Kinder allerdings in der Schweiz. Lange wird die Herrlichkeit aber wohl nicht mehr dauern.«

Untergestellt – was für ein bitteres Wort! Valär schloß die Augen.

»Und weshalb meinen Sie das?«

Sie seufzte und sagte betrübt:

»Mein Bruder wird wohl demnächst nach Australien reisen. Und dann – –«

Sie brach ab.

Valär ließ auch diesmal nicht merken, daß er den Bruder kannte. Er wischte nur die Asche seiner Zigarre ab und sagte:

»Hat er Europa satt?«

»O nein! Aber Vater schreibt, Mutter habe ihn ruiniert, und 133 fordert meinen Bruder zurück, weil er nicht mehr für ihn bezahlen könne. Das tut mir sehr leid.« – Sie hing den Kopf. »Bald wird Vater wohl auch für mich nichts mehr tun.«

»Dann werden Sie Ihrem Bruder folgen?«

Nele erwiderte gefaßt:

»Nein, das kommt gar nicht in Frage. Schon weil Vater wieder geheiratet hat, kommt das nicht in Betracht. Außerdem hat Vater mir ja nie etwas nachgefragt. Er will mich gar nicht haben.«

Wie bitter in Valärs Ohren alles das klang! Gleichzeitig stieg eine stille Wut in ihm auf, eine ehrliche herzliche Wut auf ihre Mutter. Trotzdem hatte Valär von eigentlichem Groll nichts aus den Aeußerungen des Mädchens herausgehört. Nele schien ihre Lage hinzunehmen als etwas, was ebenso unveräußerlich zu ihr gehörte wie ihre lange Gestalt oder das leichte Sommersprossengeriesel zwischen Nasenrücken und Wangen. Wie ihn dünkte, war an der Unterhaltung, trotz ihres düsteren Inhalts, etwas sogar geradezu festlich gewesen. Das war Neles helle, ein wenig atemlose, sehr freimütige und zugleich hingegebene Stimme. Es kam Valär vor, als hätte Nele mit dieser Stimme ihm vom ersten Augenblick an alles geschenkt, was sie an Vertrauen zu ihm aufbringen konnte.

Im Zug sprachen sie weiter von allerhand Dingen, die nahelagen. Nele erzählte ihm, daß sie in der Stadt auf das Mädchengymnasium gehe, seit etwas mehr als einem Jahr. Zuerst habe sie bei einer Familie gewohnt. Jetzt wohne sie bei ihrer Mutter. Dann sprachen sie von allem Möglichen, was ihnen gerade in den Sinn kommen wollte. Er entdeckte dabei, daß ihre Zopfenden mit grauen Gummiringen zusammengehalten waren, wie man sie zum Verschnüren kleiner Pakete verwendet, und daß jede ihrer dunkelrotblonden Augenbrauen auf der Nasenseite durch einen Wirbel gebrochen war. Wunderschön war ihr dichtes seidiges Haar und ihr von allem Kummer unberührt gebliebener kräftiger Mund. An ihren Händen dagegen gefiel ihm etwas nicht. Das waren die Nägel. Sie waren so kurz geschnitten wie bei einem Chirurgen, der jeden Tag operiert. Auf ihn wirkten Hände dieser Art grausam.

Der in seine Zeitung vertiefte Bürolist, der bei ihnen gesessen war, stieg auf der zweiten Haltstation aus. Sie hatten das Abteil 134 nun für sich, und Valär, der das Mädchen zu etwas unpersönlicheren Mitteilungen veranlassen wollte, fragte es nach dem Schulbetrieb. Für Dinah war das immer ein unerschöpfliches Thema. Zuletzt hatte ihm Dinah erzählt, daß sie in der Lateinstunde »Käsar« und »Kikero«, nicht mehr »Cäsar« und »Cicero sagten, und sie hatte daraus ein regelrechtes Theater gemacht, indem sie ihre Arme wie Flügel schwenkte und dazu wie ein Gockel krähte. Valär setzte voraus, daß bei Nele eine ähnlich heitere Stimmung durchbräche, wenn sie an die Schule erinnert wurde.

Die Wirkung seiner Worte war indessen ganz gegenteilig. Die frühere Verzagtheit ergriff wieder von ihr Besitz, und im nächsten Augenblick sah sie aus wie ein Mensch, der auch in dieser Richtung viele Wege, die er sich als hoffnungsvoll und aussichtsreich hingeträumt hatte, mit Barrikaden verrammelt fand, der aber auch dieses Mißgeschick wie etwas unerbittlich zu seinem Los Gehöriges trug. Nach einer kleinen Schrecksekunde fing sie sogar an, davon mitteilsam und eifrig zu sprechen.

Sie sei von Anfang an um zwei ganze Klassen hinter den gleichaltrigen Mädchen zurückgewesen. Die vielen Ortswechsel, immer wieder eine andere Unterrichtssprache und so – sie habe einfach nicht so viel Wissen mitgebracht, daß sie sofort in eine höhere Klasse hätte eintreten können. Trotzdem habe sie sich nicht vereinsamt gefühlt. Denn sie habe in der Klasse eine sehr liebe Freundin gefunden. Aber nun sei dieses Mädchen vor acht Tagen entlassen worden. Man habe es an Ostern nur mit einer Probezeit von vier Wochen in die neue Klasse versetzt, und diese Probezeit habe es nicht bestanden.

Das sei allerdings traurig für sie, meinte Valär.

Es sei mehr als traurig, erwiderte Nele, es sei das reine Verhängnis. Während der letzten acht Tage sei sie ganz verwirrt gewesen davon, und im Latein habe sie deswegen einen niederträchtig schlechten Klassenaufsatz gemacht. Auch in Französisch und in Mathematik sei es nicht so gegangen, wie es hätte gehen sollen. Dabei habe sie an Weihnachten in allen diesen Fächern ein so gutes Zeugnis gehabt. Und jetzt käme zu allen Aufgaben noch 135 eine besonders knifflige und ihr recht fern liegende Arbeit hinzu: sie solle in der Literaturstunde einen Vortrag über das Leben Conrad Ferdinand Meyers halten. Den Vortrag müsse sie niederschreiben, aber frei sprechen. Für die Vorbereitung habe sie nur zwei Wochen Frist.

Valär ärgerte sich über diese Bildungsschusterei. Nun gingen die Kinder in eine Mittelschule und bekamen Aufgaben wie Studenten im Seminar!

Trotzdem unterstützte er Nele nicht in ihrer Mutlosigkeit. Er versicherte ihr vielmehr, er wäre stolz gewesen, wenn man ihm und seinen Schulkameraden in ihrem Alter eine solche Leistung zugetraut hätte. Nur keine Aengstlichkeit, es werde schon gehen! Er bat Nele auch, ihn den Vortrag seinerzeit lesen zu lassen. Nicht weil er ihr in die Karten sehen wolle, sondern um seine Kenntnisse über diesen großen Mann aufzufrischen – ein Repetitionskurs, ja, der ihm gut tun werde, nichts weiter.

Sie verstand nicht sofort, was er meinte, schien seine Worte alle noch einmal zu repetieren, um hinter den Sinn zu kommen, begriff mit einem Schlag, wollte nicht glauben, daß es so war, glaubte es dann aber doch. Mit offenen Augen blickte sie ihn an, überrascht, dankbar und stolz, und sie konnte seinem Antrag nicht widerstehen.

Als sie kurz danach aussteigen mußte und er weiterfuhr, schien auch der Schmerz über den schlechten Lateinaufsatz für einmal vergessen zu sein.

Ganz leise sagte sie:

»Herr Valär, ich danke Ihnen vielmal, und es hat mich sehr gefreut, daß Sie mit mir gesprochen haben.« Ein behutsames, beinahe glückliches Lächeln erschien um ihren Mund, und ihre bei der Begrüßung ganz drucklos gewesene Hand hatte nun schon so viel Kraft, daß er es spürte.

Valär blickte ihr nach. Nele war vielleicht nicht ganz aufrichtig gewesen, als sie ihr Schulmißgeschick so bewußt nur ihrer Gemütsverwirrung über den Verlust der Freundin zuschreiben wollte. Denn es war möglich, daß ihr Schulverstand nicht einem jungen Adler glich, der alles mühelos faßte. Ihre Stirn war zwar schön 136 und hell, jedoch nicht so hoch wie die Rosas. Aber Schulverstand ist nicht Lebensverstand, und was diesen betraf – na, man würde ja sehen!

 


 << zurück weiter >>