Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XL.

Nicht lange nach diesem Fest, als Nele, zusammen mit einem Gärtnerburschen, in einem der großen Warmhäuser Rosas, mit dem Setzen junger Tomatenpflanzen beschäftigt war, von denen sie gegen 15000 Stück in Töpfen gezogen hatte, kam Rosa auf einem ihrer üblichen Besichtigungsgänge herein, um sich ein wenig zu wärmen. Denn über dem Land lag ein trüber frostiger Hochnebeltag.

Sie schaute Nele, die auf einem Brett am Boden kniete und einer Spannschnur entlang Pflanze um Pflanze mit flinken Griffen in der fetten Erde versenkte, eine Weile zu und sagte dann, in dem eigenen Ton, in dem sie immer mit Nele sprach, einem unnachahmlichen Gemisch von Frauenvertraulichkeit, gesundem Menschenverstand und gönnerhaftem Beschützertum, aus dem eine leise Begleitung von prinzipalhafter Würde sich nicht wegdenken ließ:

»Ja, das machst du sehr gut, wie ich sehe. Wenn es so weitergeht, werden wir schon Mitte März den Markt mit vielen Zentnern von Tomaten täglich beliefern können. Unglaublich tüchtig bist du!« – Mit einemmal änderte sich ihr Ton. »Aber, sag mal, Kind, – fürchtest du nicht ein wenig für deinen Ruf?« 401

An Nele stand alles still ob dieser Frage. Nur ihr Kopf flog nach der Seite Rosas empor, und mit offenem Mund und entfärbtem Gesicht starrte sie diese an, völlig fassungslos und unfähig, etwas zu sagen.

»Nein, laß dich in deiner Arbeit nicht stören«, sagte Rosa sanft und begann ihre Pelzjacke zuzuknöpfen, »ich sehe dir an, daß du nicht begreifst, was ich meinen könnte. Aber heute mittag bist du ja mit bei der Baumvisitation, und hintennach können wir dann bei mir in aller Ruhe darüber sprechen.«

Die Baumvisitation wurde planmäßig angetreten und durchgeführt. Sie erstreckte sich auf das durch den Erwerb des Loohofs zu Rosas Besitztum neu hinzugekommene Land, und außer Rosa und Nele nahm nur der Verwalter Ingold, der mit seiner Familie nun schon im Loohof wohnte, an der Besichtigung teil.

Nele hatte einen Plan mitgebracht, auf dem jeder Baum mit seinem Standort und seiner Sorte verzeichnet war, und Ingold trug ein kleines Handbeil bei sich, und mit diesem Beil erhielt jeder Baum, dem auf diesem Gerichtsgang das Todesurteil gesprochen wurde, aus der Rinde zwei von oben nach unten führende Streifen herausgeschlagen, so daß das hell und feucht hervortretende Holz schon von weitem das ihm zugedachte Schicksal anzeigte.

Denn zu Rosas »Konstruktiver Agrarpolitik«, deren Verwirklichung sie sich vorgesetzt hatte, gehörte die Ueberzeugung, daß der Bodenbewirtschafter mit seiner Arbeit nur dann auf materiellen Erfolg rechnen könne, wenn er den gleichen Richtlinien folge wie Handel und Industrie. Er müsse, hieß das in ihren Augen, sein Angebot in Uebereinstimmung mit der Nachfrage bringen, diese selbst, soweit er die Macht dazu hatte, nach seinen Bedürfnissen gleichzeitig regelnd.

Was für Obst aber wuchs auf den Bäumen, die sie bei all ihren Landkäufen vorfand, falls überhaupt etwas auf ihnen wuchs? – Es war fast immer Ware von so geringer Haltbarkeit, daß sie entweder in irgendeiner Weise sofort verbraucht oder zum gleichen Zweck exportiert werden mußte. In beiden Fällen waren die Preise schlecht; denn der Verkauf mußte zur Zeit des größten Angebots 402 »getätigt« werden, wie man in der Sprache der Kaufleute sagte. Dem Markt blieb infolgedessen nichts übrig, als von Weihnachten ab seinen Bedarf durch die Einfuhr zumeist überseeischer Früchte zu decken, die durchschnittlich viermal so teuer waren.

Diese sehr erhebliche Differenz konnte Rosas Meinung nach auch der einheimische Obsterzeuger durch die Anpflanzung lagerfähiger Edelsorten verdienen. Das hatte man den Bauern hier schon öfter gesagt, aber vorgemacht hatte es ihnen noch niemand, obgleich die Bedingungen des Bodens und Klimas, richtige Pflege der Bäume und Früchte vorausgesetzt, einen günstigen Ausfall des Unternehmens versprachen. Man hatte vielmehr den ohnedies zur Bequemlichkeit neigenden Bauer, der in seinen Obstgärten nur eine Quelle für mühelos erreichbare Nebeneinnahmen sah, zum Festhalten an seiner neuerungsfeindlichen Einstellung noch dadurch ermuntert, daß man ihm staatliche Minimalpreise für sein minderwertiges Most- und Brennobst garantierte.

Jetzt ließ Rosa bei jedem Baum den Verwalter und Nele entscheiden, wieweit er sich zum Umgepfropftwerden auf dauerfähige Edelsorten noch eigne, und welche Sorte für ihn die passendste sei. Alles übrige verfiel ohne Erbarmen der Axt. Der vorhandene Bestand wurde dadurch grausam gelichtet, aber es wurde auch Platz geschaffen für die Aufstellung eines neuen Bebauungsplans, der jedem Baumindividuum einen besseren Licht- und Nahrungsraum bot als bisher.

Nele war mit einer leichten Verstimmung zu der Besichtigung angetreten. Rosas Ueberfall war ihr wie ein kalter Windstoß in die Seele gefahren und hatte sie wortkarg gemacht. Aber dann wurde sie von der Aufgabe, vor der sie und der Verwalter standen, schnell so in Anspruch genommen, daß sie ihren Kummer vergaß. Der am Berchtoldstag gefallene Schnee hatte sich wieder davongemacht, aber der Boden war leicht gefroren, so daß es ein angenehmes und sauberes Gehen querfeldein durch die leichtverschleierten dunklen Baumstücke war. Da sich Nele mit dem Verwalter sehr gut verstand, brauchten sie sich um eine einmütige Lösung im allgemeinen auch nie zu streiten und kamen gut in ihrer Arbeit voran. 403

Rosa, die eine schwere dunkle Pelzjacke und auf ihren Gängen ins Feld seit neuestem auch schwergenagelte Stiefel trug, fiel es noch immer nicht leicht, einen unbelaubten Apfelbaum von einem Birnbaum mit Sicherheit zu unterscheiden. Dafür hatte sie von jeder Sorte, die aufgezweigt oder neu angepflanzt werden sollte, die augenblicklichen Produzentenpreise im Kopf; keines von den andern konnte sich in dieser Hinsicht mit ihrer Ueberlegenheit messen. Auch als der Verwalter gegen den Schluß hin erklärte, daß diese Baumschlächterei, zusammen mit der Umzweigung und den Neuanpflanzungen, eine teure Suppe werde, stand Rosa den beiden andern gegenüber mit ihrer Antwort auf einsamer Höhe. Denn sie entgegnete in ihrer oft sonderbar spröden Art, daß sie, als Angehörige bevorrechteter Kreise, sich mit einer tiefen Schuld gegenüber den nicht begünstigten Klassen belastet fühle, und daß auch dieses an sich recht kostspielige Unternehmen nichts weiter sei als ein schwacher Versuch, durch Vorbildlichkeit einen Teil dieser Schuld zu tilgen. Glücklicherweise fuhr in diesem Augenblick ein ebenso einsamer Hase aus einer Furche empor, und das fesselnde Schauspiel seiner überstürzten, von jähen Wendungen unterbrochenen Flucht beendete von selbst dieses Gespräch, dessen Logik sehr viel weniger durchsichtig schien als die Absicht, die seinen Gedankengang lenkte.

Am längsten blickte Nele dem Hasen nach. Und sie dachte dabei an Valär, den Jäger.

 

Später saß Nele mit Rosa in deren Arbeitszimmer. Rosa hatte nach Abschluß der Feldbesichtigung Nele vor dem Gartentor verabschieden wollen, aber Nele war sehr hartnäckig stehengeblieben, die Stirn in Falten gekraust, und hatte ihre Brotherrin mit solcher Entschiedenheit an etwas ihren Ruf Betreffendes erinnert, über das sie noch mit ihr sprechen wollte, daß Rosa nicht gut ausweichen konnte. Gleich beim Eintritt ins Haus bestellte sie daher einen »Kleinen Tee« und verschwand, um sich umzukleiden.

Beim Tee schoß sie dann los. 404

»Du weißt«, sagte sie, »daß das Glück etwas ist, was niemand in den Schoß fällt.«

»Vermutlich nicht«, sagte Nele unsicher. Ueberlegungen dieser Art waren nicht ihre Stärke, und sie wußte auch, sie würden es niemals sein.

»Verlaß dich auf mich, daß es so ist«, fuhr Rosa fort. »Es ist auch nichts zum Suchen und Finden, zum Jagen und Fangen, zum Erwünschen, Erbitten, Ertrotzen oder Erkämpfen. Ebensowenig ist es ein Gnadengeschenk, das dem einen verliehen wird und dem andern nicht, bald mit Verdienst und bald ohne. Aber was ist es dann?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Nele.

»Ich will es dir sagen: es ist etwas wie Spiegeleier. Es ist etwas, was man anfertigen muß.«

»Möglich. Darüber nachgedacht hab' ich noch nicht«, erwiderte Nele. Aber der Ausdruck »anfertigen« hatte für sie etwas Störendes in der Verbindung mit Glück, in der er von Rosa gebraucht worden war. Etwas war an dieser Vorstellung abstoßend für sie, zum mindesten peinlich.

»Aber du hast schon Spiegeleier gemacht?« fragte Rosa.

»Erst heute zum Mittagessen.«

»Wir wollen einmal überlegen, was man dazu braucht.«

Nele zählte auf: Eier, Butter, Salz, ein wenig Pfeffer, ein paar Prisen Schnittlauch oder anderes aromatisches Grün, eine Pfanne und Feuer.

»Ist das alles?« fragte Rosa.

»Ich glaube, daß es alles ist.«

»Du glaubst! Dabei hast du das Wichtigste von allem vergessen.«

Nele kam wieder einmal nicht mit. Sie fand, daß sie nichts vergessen habe.

»Du hast dich selber vergessen«, klärte Rosa sie auf, »– den Menschen, der Eier, Butter, Pfanne, Feuer, Salz und so weiter nicht einfach zusammenträgt und dann sich selbst überläßt, sondern sie in bestimmter Weise aufeinander einwirken läßt. Genau so ist es mit dem Glück. Es ist nötig, gewisse Stoffe und Elemente in 405 bestimmter Weise miteinander zur Wirkung zu bringen. Einer dieser Rohstoffe ist bei einem jungen Mädchen sein Ruf.«

Es war einer der berühmten und beliebten Um- und Schleichwege Rosas.

»Finden Sie an meinem Ruf etwas auszusetzen?«

Nele war plötzlich gar nicht mehr bestürzt. Irgend etwas lächerte sie. Sie wußte nicht, was es war, aber in ihrem Innern spürte sie's gluckern. Noch nie hatte sie ihre große Freundin und Gönnerin mit kritischen Augen angeblickt. Aber jetzt verspürte sie eine unbändige Lust dazu, und sie tat es.

»Ich komme gar nicht in Frage«, entgegnete Rosa. »Aber du gehst so viel zu Herrn Valär. Du machst auch gar kein Geheimnis daraus. Das finde ich tapfer und schön von dir. Aber über das alles hat sich ein Gerede erhoben, von dem nur du nichts zu wissen scheinst, und dieses Gerede geht nicht sehr nachsichtig mit euch um, weder mit dir noch mit ihm. Das durfte ich dir nicht länger verschweigen.«

Jetzt war Nele doch recht erschrocken.

»Oh, Herr Valär –!« sagte sie mit einem leisen kehligen Klagelaut. »Aber, Frau Doktor, was stellen Sie sich denn vor, was wir treiben?«

»Ich stelle mir gar nichts vor. In solchen Sachen bin ich so phantasielos wie dieser Kerzenhalter, mein liebes Kind! Aber andere haben eine bedeutende Einbildungskraft, von der ich nicht weiß, woran sie geschult ist – und darauf würde ich an deiner Stelle doch Rücksicht nehmen. Herr Valär ist immerhin ein alleinstehender Mann.«

In Nele begann es zu grollen.

»Herr Valär ist nicht von der Art, daß er sich zu unziemlichen Vertraulichkeiten hinreißen ließe. Vor jedem derartigen Verdacht muß ich ihn bewahren.«

»Ich sage kein Wort gegen Herrn Valär. Er stammt aus Kreisen des Kleinbürgertums. Ein Bruder von ihm ist Metzger und Wirt, eine seiner Schwestern hat einen Coiffeurladen: eine derartige Abkunft ist immer vertrauenerweckend, wenn es sich um Fragen des Anstandes handelt . . . Leute aus diesen kleinbürgerlichen 406 Bezirken, die sich emporgearbeitet haben, pflegen sehr viel taktvoller und schamhafter gegen uns Frauen zu sein als Angehörige unserer eigenen Schicht. Sie pflegen so taktvoll zu sein, daß erotische Vorstellungen bei ihnen kaum anders als in heiliger Allianz mit Heiratsabsichten gefunden werden. Ich habe Erfahrung darin. Aber es tut mir leid, daß Herr Valär es nicht für nötig hält, dich vor jeder Mißdeutung eurer Freundschaft zu schützen – dadurch zu schützen, daß er dir empfiehlt, einen weniger ausgiebigen Gebrauch von der Freiheit zu machen, die deine sorglose Mutter dir läßt.«

Nele war plötzlich verwirrt. Was bewog Rosa, ihr Klassenbewußtsein wie eine Trumpfkarte auf den Tisch zu schlagen und Valärs kleinbürgerliche Abkunft in dieser Weise hervorzuziehen? Wollte ihn Rosa in ihren Augen heruntersetzen? Valär hatte sich einmal über Rosa lustig gemacht. Er hatte zu Nele gesagt: »Diese, aus den höheren Ständen, tun gern so, als ob sie vergessen hätten, daß andere aus niederen sind. In Wahrheit sind sie ihrer selbst so wenig sicher, daß ihr Nichtvergessen der Unterschiede von ihnen gehütet wird wie von einem Soldaten sein Gewehr. Immer liegen sie gegen die andern im Anschlag damit und versuchen damit etwas umzubringen. Das ist dann ihre Rache dafür, daß sie sonst nichts gegen sie ausrichten können.« – Nele hatte gar kein Klassenbewußtsein, und daher hatte Valärs Aeußerung an etwas gerührt, was sie nicht verstand. Jetzt aber glaubte sie, in Valärs Worten einen Sinn zu finden, der an Allergegenwärtigstes rührte, und ihre Verwirrung verwandelte sich in Aerger.

»Im Sommer, als ich so viel mit Herrn Freddy zusammen war, haben Sie nicht so gesprochen, Frau Doktor«, sagte sie trotzig. »Ein alleinstehendes männliches Wesen ist doch auch er. Und Emil Dormond und seine Freunde sind ebenfalls männliche Wesen. Nie haben Sie es für nötig gehalten, mich vor dem Geschwätz zu warnen, das aus meinem Zusammensein mit ihnen entstehen könnte. Nicht einmal, als der Gärtnerbursche Karl mich auf seinem Motorrad mitnahm zu seinen Eltern ins Emmental, haben Sie daran etwas anstößig gefunden und auch nicht am Uebernachten bei ihm. Ich habe Sie vorher gefragt deswegen. Sie haben 407 gesagt: ›Aber natürlich, Kind! Geh nur, geh!‹ – genau wie meine Mutter.«

Es wurde Nele immer schwieriger, sich gegen Rosa im Zaum zu halten. Auch Rosa wurde durch Neles offenen Widerspruch merklich gereizt.

»Nimm dort noch von den Biberfladen. Sie sind wirklich gut«, sagte Rosa.

»Ich danke, Frau Doktor! Nein, ich möchte wirklich nichts mehr.«

Es entstand zwischen ihnen ein hilfloses Schweigen. Rosa zog die Brauen hoch und griff in die Zigarettenschale. Etwas Lauerndes kam in ihren Blick. Dann verschwand das Lauernde wieder.

Nach einer Weile hub Rosa von neuem an:

»Kind, wie könnte ich dir begreiflich machen, daß ich von allem, was dich jetzt so aufgebracht hat, niemals gesprochen hätte, wäre es mir nicht um dein Bestes zu tun?«

War der Ton falsch gewesen? Jedenfalls wurde Nele mit einemmal auf etwas ganz anderes aufmerksam. Rosa sprach, so schien es ihr, nur scheinbar noch von der gleichen Sache wie bisher. In Wirklichkeit sprach sie von etwas anderem. Aber Nele vermochte dieses andere nicht zu benennen.

»Daran zweifle ich ja doch gar nicht, daß Sie mein Bestes wollen, Frau Doktor«, gab Nele hilflos zurück und hörte sich selber etwas ganz anderes sagen, als ihr in Wahrheit im Sinne lag . . . So, wie sie es sagte, war es bis heute gewesen. Nun aber war ein bestimmter Argwohn in ihr erwacht, und die Wahrnehmung, daß es so war, war etwas, was Nele augenblicklich sehr unglücklich machte. Aber sie behielt die eingeschlagene Richtung in einer Art verzweifelten Ringens um ihre eigene Sicherheit bei und fuhr fort: »Ich verstehe nur nicht, wie das Geschwätz der Leute Sie so beunruhigen kann, daß wir uns darüber fast in die Haare geraten.«

»Dich beunruhigt es nicht?«

»Ich glaube nicht. Es ist mir unangenehm, davon zu hören. Aber wenn es nicht anders geht, sollen die Leute eben reden, was ihnen beliebt, bis sie genug davon haben. Mein Gewissen ist rein. 408

»Ich warne dich trotzdem vor dem Geschwätz. Und ich warne dich auch davor, ihm durch dein Verhalten weiterhin Nahrung zu geben. Das Geschwätz könnte sich zwischen dich und Herrn Valär einzudrängen versuchen und könnte eure Freundschaft gefährden.«

Jetzt war Nele abermals recht erschrocken.

Rosa entging das nicht, und ihr Nachdruck verstärkte sich.

»Einstweilen versucht das Gerede nur, euch so weit auseinanderzutreiben, daß es wenigstens die Fußspitze zwischen euch einzwängen kann. Hat aber erst die Fußspitze Platz gefunden, so folgen Knie und Schultern bald nach, und zuletzt steht ein ganzes Ungetüm da, hinter dem ihr füreinander verschwindet. Das mußt du verhindern.«

Abermals war Nele auf etwas aufmerksam geworden, wofür ihr ein Name noch fehlte. Sie schloß die Augen und saß angestrengt lauschend da, als würde sie jenes Fremden und Neuen auf diese Weise vielleicht eher und besser gewahr. Aber alle Anstrengung war vergebens. Da schlug sie die Augen abermals auf, und sie fühlte, wie ihr eigener Blick, der in Rosas Blick hineindringen wollte, dazu nicht imstande war, weil Rosas grüne Augen als etwas sehr Geschliffenes, Hartes und Haßerfüllt-Kaltes vor ihr standen, an dem sie abglitt wie ein Fingernagel an Glas.

Da wußte sie alles.

Sie wußte, daß Rosa ihr Herrn Valär mißgönnte . . . Rosa war eifersüchtig auf ihre Freundschaft mit ihm, und das Geschwätz, von dem sie gesagt hatte, daß es sich zwischen sie und ihn eindrängen wolle, um sie auseinanderzutreiben, das war sie selbst, und in anderer Form war ein solches Gerede vermutlich überhaupt nicht vorhanden . . .

Ein kurzes schwaches Lächeln flog über Neles Gesicht, beinahe genugtuungsvoll, und sie entgegnete ruhig:

»Allerdings, das muß verhindert werden. Das sehe ich ein.«

Aber noch stärker als das schwache Triumphgefühl, das Nele in diesem Augenblick empfand, war im nächsten ihre Trauer darüber, daß es zwischen Rosa und ihr nun so weit gekommen war, daß sie sich im Wege standen. Nele kam sich mit einemmal wie zerschlagen vor, und die große Lähmung des Denkens, die sie plötzlich 409 befallen hatte, wollte während des ganzen restlichen Tages nicht von ihr weichen.

Während der Nacht beschloß sie dann aber, Valär kein Wort von allem zu sagen. Es konnte ihn höchstens beunruhigen, nach allen möglichen Richtungen hin, und besser werden würde ja doch nichts davon. Liebe war ja nicht reden, Liebe war tun. Daran wollte Nele sich halten.

 


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