Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XLII.

Durch jeden Anruf des Rechtsanwalts wurde Rosa seit einiger Zeit in einen Zustand gemütskalter und dennoch höchster Spannung versetzt. Denn zu allem andern hin lag sie neuerdings auch im Kampf mit ihrem Mann.

Mit großem Freimut hatte Rosa seinerzeit Valär erklärt, sie 417 bezahle Streiff gern sein Arztgehalt weiter, wenn er ihr nur vom Halse bleibe. Das war damals gewesen, als Dr. Streiff nach Italien abgereist war, um sich von den Schrecken »des Attentats« und der nachfolgenden Operation zu erholen.

Aber nicht jedes Wort Rosas hatte ewigen Wert. Seit sie erfahren hatte, daß Streiff nach Südfrankreich übergesiedelt war und dort teils mit den Musen, teils mit einer früheren Patientin des Sanatoriums zusammenlebte, hatte sie die Zahlungen an ihn gesperrt und sich entschlossen, das Geld lieber in Tonröhren zu verwandeln und in ihrem drainagebedürftigen Neuland zu verlochen, als es ihm noch länger zuzuhalten. Heß schickte ihm einen eingeschriebenen Brief mit Empfangsbestätigung, in dem dieser Schritt mit böswilliger Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft und der fortgesetzten Vernachlässigung vertraglich festgelegter Berufspflichten begründet wurde. Eine Aufforderung zur Rückkehr wurde unterlassen.

Die Empfangsbestätigung kam, aber der Inhalt des Briefes schien Streiff nicht sehr nahe gegangen zu sein. Denn er ließ nichts von sich hören.

Jetzt teilte der Rechtsanwalt Rosa am Telephon mit, Dr. Streiff sei soeben bei ihm gewesen, und bat um eine Unterredung mit ihr.

Rosa fuhr nachmittags in die Stadt und erfuhr von Heß, Streiff habe ihm einen Besuch gemacht und in liebenswürdigster Weise erklärt, daß es ihm Bedürfnis sei, den Interessenvertreter seiner Frau persönlich kennenzulernen. Was für gute Manieren! . . . Außerdem habe Streiff ihm gesagt, sein Werkvertrag mit Frau Dr. Streiff, durch den ihr die geschäftliche Ausbeutung des als »Dynamische Medizin« bezeichneten Heilverfahrens für die Dauer von zehn Jahren überlassen worden sei, laufe auf 1. Oktober ab. Er gedenke diesen Vertrag nicht zu erneuern. Noch mehr: er kündige ihn. Streiff habe ihm auch ein Schriftstück gleichlautenden Inhalts ausgehändigt und sich eine Empfangsbescheinigung ausstellen lassen. Das Schriftstück sei hier.

»Sehr unangenehm –!« entfuhr es Rosa . . . Geladen mit Tatkraft und Rastlosigkeit, den Kopf noch voller Fetzen ihres Gesprächs mit Egli, war sie in die Stadt gefahren, und nun war sie mit 418 einemmal ganz übel gelaunt. Sie rückte in ihrem Stuhl unruhig nach vorn – mindestens 22 Grad hatte dieser gefühlvolle Mann in seinem schönen Zimmer: dieser etwas bequeme, aber unbedingt zuverlässige Doctor utriusque iuris, den es offenbar immer noch mächtig freute, daß Streiff ihm einen Besuch gemacht hatte, obgleich er doch sein Gegner war. Rosa faßte plötzlich ihr Kleid beiderseits der Taille und zerrte es heftig nach unten. Aber sie zerrte zu stark und mußte es wieder heben. »Sehr unangenehm –!« wiederholte sie.

»Für Sie oder für ihn?« fragte eine leise ruhige Stimme, und ein weiches Gesicht mit weißen schweren Augenlidern blickte sie mit sanfter Neugier halb von unten her an.

Dieser Blick und diese Bemerkung brachten sie sofort zur Besinnung. Ihre fast schon abhanden gekommene Selbstbeherrschung war im Augenblick wieder da.

»Für ihn natürlich!« entgegenete sie mit glitzerndem Blick. »Denn es ist ja zu durchsichtig«, fuhr sie fort, »daß er mit der Kündigung nur einen neuen Vertrag mit größerer Lizenzgebühr herausschinden will. Er soll sich aber ja nicht einbilden, daß ihm das gelingt. Das Gegenteil wird geschehen.«

Heß hatte schon Dr. Streiff über den Inhalt dieses sogenannten Werkvertrags, den er nicht kannte, auszuforschen versucht, aber der immer noch nach einem Wunderwerk aussehende Herr mit dem silberschimmernden Haar und dem Brandmal im Nacken hatte mit einer höflichen Geste jede Auskunft verweigert. Jetzt wandte sich Heß mit verschiedenen Fragen an Rosa, und schließlich schüttelte er langsam den Kopf:

»Alles dürfte noch viel einfacher sein«, sagte er, »– es nimmt mich wunder, daß Sie das nicht wissen.«

»Ich ahne, was kommen wird –«, unterbrach ihn Rosa, sprach dann aber nicht weiter von dem, was sie hatte sagen wollen, sondern bat ihn, mit seiner Darlegung fortzufahren.

»Sie brauchen überhaupt keinen Werkvertrag, wenn Sie das fragliche Verfahren ausbeuten wollen, weder mit Ihrem Mann, noch mit sonst jemand«, sagte Heß. »Medizinische Heilverfahren können nicht Gegenstand rechtsschutzfähiger Geschäfte sein, 419 wenigstens nicht nach unserem Gesetz. Sie sind Gemeingut der Menschheit. Jeder kann sie an sich erproben, falls er Lust dazu hat. Jeder Arzt, der nicht in seinen Funktionen eingestellt ist, kann sie auch an andern erproben. Schuldig ist er dem Urheber des Verfahrens nichts dafür, daß er es benutzt. Selbstverständlich können auch Verträge geschlossen werden. Einen Wert haben sie jedoch nicht. – Sie verstehen doch, was ich meine?«

»Sie meinen, ich hätte mich zehn Jahre lang von Dr. Streiff übertölpeln lassen«, antwortete Rosa beinahe gerührt, daß ihr Derartiges zugetraut wurde. Aber so sei es nun nicht. Denn die Dynamische Medizin bestehe aus zwei verschiedenen Verfahren: erstens aus einer Allgemeinbehandlung, zweitens aus einer Sonderbehandlung. Die Allgemeinbehandlung – er kenne sie ja – sei Gemeingut im juristischen Sinn. Die Sonderbehandlung dagegen sei überhaupt kein Verfahren im Sinn dieses Wortes, sondern sei identisch mit einem Menschen, und das andere alles.

»Identisch mit Herrn Dr. Streiff?« fragte der Rechtsanwalt, und seine Mienen drückten die seligsten Zweifel aus, während er ganz leise wie ein Teekessel zu summen begann.

»Mit Dr. Alphonse de Kälbermatten«, entgegnete Rosa. Nur er besitze vermöge seiner intuitiven Veranlagung die Fähigkeit, die einem Menschen eigene kosmische Schwingungszahl zu ermitteln und ihn so zu katalysieren, daß man mit einer erfolgversprechenden Kur einsetzen könne. Außer seiner Intuition gehörten zur Bestimmung der entscheidenden persönlichen Schwingungszahl des Patienten auch bestimmte Apparate, die Kälbermatten erfunden habe, und die alle nur in einem einzigen Exemplar existierten. Kurzum – –.

Der Rechtsanwalt nickte bedeutungsvoll, schüttelte seine Armbanduhr, weil er feststellen mußte, daß sie schon wieder nicht ging, und versetzte gemütlich:

»Sie wollen sagen, daß die Dynamische Medizin ohne Dr. de Kälbermatten nicht praktiziert werden kann, und daß Sie für ihn an Dr. Streiff sozusagen eine bestimmte Jahresmiete bezahlen: mit dem Recht auf Verwendung des mystischen Mannes. Dr. Streiff sei entbehrlich. Mit Kälbermatten aber stehe und falle die Sache. 420

»Sie haben es ganz richtig erfaßt.«

Heß wiegte den Kopf und begann von neuem leise zu summen. Dann schaute er Rosa aus seinen verträumten Augen mit einem sanften Blick an und fragte mit entzückender Harmlosigkeit:

»Aber warum versuchen Sie dann nicht, den unersetzlichen mystischen Mann auf Ihre Seite zu bringen? . . . Dann arbeiten Sie mit ihm allein weiter.«

Der Rechtsanwalt sah sofort, daß seine Klientin in Nöte geriet. Sie wehrte sich zwar, suchte nach Zeitgewinn, und als sie ausweichend sagte: »Es freut mich, daß Dr. Kälbermatten in so hohem Grad Ihre persönlichen Sympathien genießt« – da hob er abwehrend die Hand. Aber der Ausweichversuch half nichts oder nicht viel, und schließlich gestand sie, es schon versucht zu haben.

Mit welchem Erfolg, brauchte Heß gar nicht zu fragen. Rosas verdrossenes Gesicht sagte alles. Aus Höflichkeit fragte er aber doch, und wiederum stieg seine breite weiche Hand über dem Tisch ein Stück weit in die Luft und ließ sich langsam abermals auf der Schreibunterlage nieder.

»Nein, er will nicht«, antwortete Rosa verstockt. »Es ist auch ganz unmöglich, ihm beizubringen, daß er sich damit die größte Chance seines Lebens verdirbt. Er sagt, wenn Dr. Streiff gehe, gehe er gleichfalls.«

»Danach hatten Sie also ebenfalls vor, jenen sogenannten Werkvertrag nicht mehr zu erneuern. Ah! . . Aha!«

»Ich hatte die Absicht«, gab Rosa zu. »Schließlich hat Streiff es ja gar nicht besser verdient. Aber ohne Kälbermatten nützt mir eine Kündigung gar nichts. Ich habe sie daher unterlassen.«

Rosa tat dem Rechtsanwalt in diesem Augenblick wirklich leid. Denn was sie hatte vermeiden wollen, war nun doch geschehen.

»Sind die Motive Kälbermattens wenigstens so, daß er entschuldigt ist?« fragte Heß. Um Rosa zu trösten, hatte er von einer Schale auf seinem Schreibtisch, einem sicher wertvollen, alten und edel wirkenden Porzellangebilde, den Deckel heruntergenommen und hatte die Schale Rosa angeboten. Es waren Schnapspralinen und andere Bonbons darin. Aber Rosa hatte 421 seine Hand wortlos zurückgeschoben. Dafür steckte er sich selbst eine Praline in den Mund, während er fragte.

Es habe eine Zeit gegeben, in der Kälbermatten wirklich der ärmste Teufel war, antwortete Rosa. Nicht materiell, aber seelisch. Er hatte seine Schwingungskreistheorie aufgestellt, aber sämtliche Physiologen und Mediziner, die davon hörten, hätten ihn einfach ausgelacht. Da habe auch Streiff von der Sache gehört und es verstanden, Kälbermatten die Vorstellung beizubringen, daß er an ihn glaube. »Er hat ihm auch versprochen, ihm ein Sanatorium zu verschaffen, in dem er seine Lehre in größtem Stil anwenden könne. Streiff hielt Wort. Er konnte es, weil ich – gegen freie Hand in der Geschäftsführung – das nötige Kapital zur Verfügung stellte: zuerst in Amerika und dann hier – und die Sache ging wirklich sehr gut. Seitdem ist Kälbermatten seinem Beschützer in geradezu sklavischer Weise ergeben. Seine Dankbarkeit ist größer als jedes andere Gefühl.«

»Ein Charakter also! Ich finde das schön von dem Mann«, sagte Heß.

Auch sie habe volles Verständnis für ihn, behauptete Rosa. Nur renne er mit seiner Anhänglichkeit geradezu ins Verderben. »Denn wenn Streiff hier ausscheiden muß und er ihm folgt, verliert er auch sein Wirkungsfeld wieder. Ja, und was dann?«

Vielleicht habe Streiff anderweitig einen kapitalkräftigen Interessenten gefunden? fragte Heß.

»Hat er mit solchen Andeutungen bei Ihnen herumgespielt?«

Heß verneinte. Es wäre aber, so meinte er, zu erwägen, ob nicht – –.

»Bei diesen Zukunftsaussichten? Jetzt, wo bald kein zahlungsfähiger Ausländer mehr ins Land kommen wird und von den vorhandenen einer um den andern davongeht, um nicht plötzlich durch den Krieg von seiner Heimat abgeschnitten zu werden? – Kein Mensch steckt unter solchen Umständen sein Geld in eine Sache wie diese.«

Ein sehr ernster Einwand, beteuerte Heß. Auch er würde heute keinem seiner Klienten zu einer derartigen Anlage raten. Aber die Welt sei ja groß. Könnte Streiff nicht da unten an der Riviera 422 einen Geldgeber gefunden haben und sein Unternehmen dorthin verlegen wollen?

»Die Frau, mit der er zusammenlebt?« fragte Rosa. Sie starrte eine Sekunde lang erbost auf die Deckelschale mit den Schnapspralinen, wartete aber eine Antwort auf ihre Frage nicht ab, sondern stand mit einem Ruck auf und sagte:

»Sie haben Streiff die Kündigung des Vertrages bescheinigt?«

Heß, abermals ganz verträumt:

»Ich glaube, es schon gesagt zu haben.«

»Wir wollen nicht zu streng mit ihm sein und es einstweilen dabei bewenden lassen. Es bleibt dann ein gewisser Spielraum, und dieser Spielraum gehört ausschließlich uns. – Begreifen Sie, was ich meine?«

Heß lächelte sanft und sagte leise:

»Sie meinen, daß man einem Kunden den Hals nicht abschneiden soll, solange Sie selbst ein Interesse daran haben, den Vertrag zu erneuern. Sie möchten jedoch in der Oberhand bleiben und deswegen ihm den ersten Schritt überlassen.«

»Ich stimme Ihnen nicht sehr gern zu, aber ich glaube, Sie haben recht . . . Ist es nicht prächtig, wie wir uns verstehen?« erwiderte Rosa. Sie streckte ihm plötzlich die Hand entgegen. »Lieber Doktor, adjö! Ich muß eilen.«

Der Rechtsanwalt begleitete sie bis auf den Gang, kam zurück, öffnete die Türe zum Nebenzimmer und sagte:

»Fräulein, eine große Konsultation, mit Röntgendurchleuchtung, für Frau Dr. Streiff. Gebühr: Vierzig Franken.

 


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