Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XXI.

Immer noch gab es im Sanatorium Heilungen, mit denen man Staat machen konnte, und unausgesetzt stellten neue Gäste sich ein, sobald einer ging – gebrauchte Menschen: einmal waren sie neu gewesen, aber nach einer Weile war jeder von ihnen an irgendeiner Stelle kaputt. Beim einen war es das Getriebe, beim andern die Karosserie oder auch nur die Polsterung, wie Heidi, die vielbewunderte Aufnahmeschwester, Valär gegenüber voller Mitgefühl mit der geplagten Menschheit erklärte.

Gab man Garantie für die Reparatur? »Wir geben Garantie – oder auch nicht – je nach der Reaktionskraft des Schwingungskreises«, hatte Heidi mit beinahe amtlicher Miene und einem privaten kleinen Schmerzenslächeln zur Antwort gegeben. »Ich jedenfalls sehe gerne weg, wenn sie sich vor dem Doktor entkleiden müssen, und schenke ihnen lieber erst hintennach ein wenig von meiner Aufmerksamkeit, um ihnen eine kleine Hoffnung zu machen – ganz abgesehen davon, daß man mich für diesen Liebesdienst ja entsprechend bezahlt« . . . Und natürlich war Heidi genau jenes Mädchen, von dem Brunos Mutter behauptet hatte, daß sie alle paar Tage durch die Dorfstraßen radle, in einem gelben Lammfellmantel, und dazu pfeife, und daß sie aussehe wie die Geliebte des Chefs. Bruno hatte damals zu seiner Mutter Beruhigung, also zu einem edlen Zweck, ein wenig geschwindelt. Aber darin stimmte seine Beschreibung, daß Heidi nicht so schmächtig war, wie Nany behauptet hatte, und Valär gönnte das Bruno von Herzen.

Aber wie stand es mit Saxer?

Saxer war mit seinem Gefolge bald nach der Eröffnung des Sanatoriums eingezogen. Nun war er schon einige Monate da. Von einer Besserung seines Augenleidens spürte er nach seinen Aussagen nichts, aber er spürte auch nichts von einer Verschlechterung. Sein Zustand war stationär geblieben, und niemand hätte deswegen behaupten können, daß er zu jenen Patienten gehöre, an 217 denen Dr. Streiffs Dynamische Medizin, diese geniale Methode, versagte. Das waren Saxers eigene Worte gegenüber Valär. Er war auch bereit, in diesem Ergebnis bereits einen Erfolg zu sehen und noch länger zu bleiben.

Auch in anderer Hinsicht mußte Saxer ja keineswegs alle Freuden entbehren. Die feindselige Stimmung unter den großen Völkern der Erde nahm zu, das bewegte seinen Erfindungsgeist, und Pläne über Pläne häuften sich in seinem Kopf. Bereits liefen Aufträge für technische Spezialitäten aller Art ein, in denen die Rufawerke weltberühmt waren – er fühlte, wie die kommende Zeit schon jetzt nach ihm griff, weil sie ihn nötig hatte. Viele finstere Gedanken wurden dadurch in ihm zurückgedrängt, und er wäre nicht er gewesen, hätte er nicht ungezaudert Vorkehrungen dafür getroffen, daß er von einem kommenden Krieg nicht nur keine geschäftlichen Sorgen hatte, sondern auch einiges an ihm verdiente wie schon am Krieg von Vierzehn auf Achtzehn. Nicht eine Minute schenkte er seinen im Hause weilenden Angestellten von ihrer Bürozeit, und obgleich er seine Gemächer niemals verließ, bekamen sie es alltäglich zu spüren, daß er noch immer mehr war als ein halbblinder Mann, mit dessen Kraft und Regierungskunst es bergab ging.

Auch das Wiedervereintsein mit Rosa belebte ihn. Täglich machte sie ihm ihren Besuch, und nach kurzer Zeit hatten sie den erquickendsten Streit miteinander. Manchmal trafen sie sich auf neutralem Boden. Dann stellten sie mit seltener Einmütigkeit fest, daß man in diesem Haus ganz vorzüglich speise; erstklassig seien auch Behandlung und Bedienung. Wenn dann Rosa bei einem Lob, das Saxer ihr für ihr beneidenswertes Organisationstalent zollte, liebevoll ausrief: »Vater, das hab ich von dir!«, so tat diese Anerkennung ihm wohl bis in die Knochen. In vollkommener Eintracht tauschten sie eines Tages auch ihre Ansichten über das Trümmerfeld der deutschen Schuldverschreibungen aus, die im Lande untergebracht waren, und versuchten zu erraten, wer von ihren Bekannten unter diesen Trümmern begraben lag. Nur keine ausländischen Staatspapiere! 218

Aber dieses friedliche Terrain war klein, und sobald sie es verließen, gerieten sie aneinander, weil Saxer nicht vergessen konnte, daß es ein Bestandteil der Elternliebe ist, die Kinder unter der Fuchtel zu halten und ihre Wege nach eigenem Ermessen zu lenken, während Rosa es darauf abgesehen hatte, ihn zu überzeugen, daß sie ihm entwachsen sei und ein Recht darauf habe, ihre eigenen Wege zu gehen und diese auch für die bessern zu halten. Aber es war doch auch, von Rosa immer wieder hineingetragen, eine besondere Nuance in diesem Spiel, die ein gewisses unberechenbares Risiko mit umschloß und Rosa anscheinend gerade deswegen besonders gefiel. Denn während sie Saxer durch ihren sorgsam abgewogenen Widerstand einerseits reizte und eine tiefe Genugtuung empfand, sooft sie sah, daß er sich empörte, versuchte sie ihm anderseits im nächsten Augenblick beizubringen, daß er ihr wegen ihres Verhaltens nicht zürnen dürfe, weil er sie ja doch liebe. Es war ein immer wieder erneutes vorsichtiges Suchen, Tasten und Sich-selbst-Quälen, weil sie – bei aller Genugtuung über die Wirkung ihrer Angriffe – seine schwächste Stelle nicht fand. Stieg Saxer dagegen nicht, so war sie wie ein Segelboot ohne Wind. Wie gerne hätte sie es gesehen, wenn es ihn gegiftet hätte, daß sie ihm das Sanatorium vor der Nase weggeschnappt hatte, so daß er sich zu einem viel unvorteilhafteren anderweitigen Kauf hatte entschließen müssen, oder wenn er über sie hergefallen wäre wegen der freiwilligen Rückzahlung von Hypotheken, die sie gar nicht schuldig war. Welche Vergeudung von Geld! Aber Saxer tat ihr diesen Gefallen nicht: der Geist des Falken, der raubt und doch die kleinen Singvögel schont, die das Revier mit ihm teilen, schien ihr Verhalten ganz in Ordnung zu finden. Das lähmte sie.

Ihre Spekulationswut dagegen verachtete er, und er tadelte sie heftig deswegen. Er war ein Mann der Arbeit, und Spekulieren hatte in seinen Augen mit Arbeit gar nichts zu tun, auch nicht mit Kampf, sondern war für seine Begriffe geradezu etwas Unanständiges, genau so unanständig, wie wenn Männer sich küßten. Man konnte es ja zu etwas bringen dabei: ebenso gut, wie man durch Türenhorchen und Schlüssellochgucken alle möglichen Dinge 219 herausbringen konnte. Aber zum Ausspucken war derlei trotzdem. Immerhin war es Saxer noch lieber, daß Rosa ihre Haut auf diese Weise zu Markt trug, als wenn sie ihrer Befriedigung auf dem Boden eitler Liebschaften nachgejagt wäre. Denn das führte in seinen Augen zu gar nichts. Ganz übel jedoch ließ er Rosa abfahren, als sie ihm einen Scheck abschmeicheln wollte für das Escholzwiler Bezirksspital zur Begleichung des neuesten Betriebsdefizits dieser Anstalt: mit dem Hinweis, er tue damit ein gutes Werk. Mit geschenktem Geld habe der Amtsschimmel immer nur Unfug getrieben; außerdem habe es nicht den geringsten Sinn, etwas zu geben, wo ohnedies eine klare Haftung anderer bestehe. Als Rosa daraufhin mit schwebender Stimme erwiderte: »Jaja! Aber zum Schluß werden doch die Taten die besten sein, die man ohne Bedingung und Eigennutz tut und auch tut, wenn sie sinnlos erscheinen«, da stutzte er. Als sie gar noch hinzufügte: »Dann gebe eben ich den Betrag. Oder glaubst du, es kann richtig sein, wenn ich hier sitze, mit all dem vielen Geld, das ich ja gar nicht verwerten kann – und dort sind regierende Leute, die es für angebracht halten, zur Vermeidung weiterer Defizite die Spitalgebühren noch höher hinaufzusetzen und die Armen noch ärmer zu machen, als sie schon sind?« – da kam Saxer überhaupt nicht mehr mit. Er klapperte mit den Goldstücken in seinem Hosensack und stierte sie an, aber es war ihm dabei zu Mut, als hätte er nur noch das tote Gewicht der Münzen in seiner Hand, nicht auch ihren Glanz.

Von Stund an mißtraute er Rosa.

 

Noch ein zweiter Dreckspritzer flog Saxer ans Bein und erinnerte ihn daran, daß er nicht in der Geborgenheit saß, sondern auf einem Güllewagen:

Lily, die junge Frau, wurde leidend. Gesund war sie angekommen, ein umgängliches blühendes Wesen, mit stillen feinen Manieren, nachgiebigen Augen und einer eigenen, sehr philosophischen Ansicht über die Ursachen von Saxers Augenleiden. Nun wurde sie reizbar, wurde aufbrausend und ungeduldig, und benahm sich nicht immer, wie man es von ihr erwartete. Eines 220 Tages verlangte sie geradezu von ihrem Mann, daß man fortgehen solle; sie halte es in diesem Narrenhaus nicht mehr aus.

Saxer, der mit den andern Insassen des Sanatoriums nie in Berührung kam, wußte von einem Narrenhaus nichts und legte es Lily nicht gut aus, daß sie von Fortgehen sprach, wo sie doch wußte, daß er zum Bleiben entschlossen war. Aber Lily kümmerte sich nicht um seine Ungnädigkeit und revoltierte nun erst recht gegen alles, was in diesem Haus Sitte und Brauch war. Zum Beispiel wollte sie sich den Eßgewohnheiten nicht länger fügen und bestellte Rahmschnitzel mit Gurkensalat, obgleich sie wußte, daß das nicht ging. Sie bekam es nicht, und seitdem knallte sie wie wild alle Türen zu, was das ganze Haus in größte Aufregung brachte.

Dr. de Kälbermatten versuchte sie mit viel Geduld zur Vernunft zu bringen. Lärm störe den Gallenfluß und verschließe den Magen; der ganze Organismus leide darunter, vor allem der Teint. Sie wunderte sich, daß man so mit ihr sprach, und als ihr kurz danach Rosa in die Quere lief, machte sie ihr eine Szene. Sie entfremde ihr ihren Mann. Sie nannte Rosa eine falsche Person und eine Erbschleicherin. Warum habe sie Saxer hierhergelockt? Um ihn wieder gesund zu machen? Pah! Um ihn einzuwickeln, habe sie es getan. Außerdem habe sie es getan, damit sie aus einem sicheren Hinterhalt alles belauern und unbemerkt feststellen könne, ob sie, Lily, sich etwas vergäbe.

»Du scheinst ein schlechtes Gewissen zu haben, daß du das sagst«, erwiderte Rosa gedämpft und hielt sich zurück.

»Ich wuchere jedenfalls meine eigenen Verwandten nicht aus!« entgegnete Lily. Ueberhaupt sei Saxer nicht am Erblinden, sondern hysterisch. Und nun knallte sie mit den Türen noch lauter, und von allen Seiten hagelte es bei der Leitung des Hauses Beschwerden.

Auf einer ärztlichen Konferenz wurde deswegen beschlossen, zu nichtmedizinischen Maßnahmen zu greifen und ihr auf Kosten des Hauses einen süßen kleinen Hund zu verordnen. Sie hatte ja kleine Tiere so gern. Man ging dabei von der Erwägung aus, daß sie den Hund dann beständig mit sich herumschleppen würde und nicht mehr so viele Hände frei habe, um die Türen mit Macht 221 zuzuschmettern, und daß sie dann auch nicht mehr so ohne Beschäftigung sei und ohne Liebe wie jetzt. Der Vorschlag stammte von Heidi, der Aufnahmeschwester.

Nach dem Mann, der den passenden Hund besorgen würde, gegen eine angemessene Provision, brauchte man nicht lange Ausschau zu halten. Da ging er eben vorbei, das Gewehr über der Schulter, und brauchte nur gerufen zu werden: es war Brütsch. Die Aufnahmeschwester nahm ihn ins Gebet, und Brütsch versprach alles zur Zufriedenheit des Hauses zu ordnen – er wisse von einer glänzenden Occasion.

Schon am andern Tag stand er mit seiner Occasion im Büro, einer gescheckten französischen Zwergbulldogge, Fifi, einer Hündin, adliger Stammbaum, erklärte Brütsch, Zierde ihres Geschlechts – 350 Franken in bar, meinetwegen auch 320, so gut wie geschenkt. Als die Aufnahmeschwester sich an dem leicht schnarchelnden Atem Fifis zunächst stoßen wollte, setzte ihr Brütsch auseinander, daß auch das mit zur Rasse gehöre, und so wurde der Hund akzeptiert.

»Wäre ein Rüde aber nicht besser gewesen?« fragte die Aufnahmeschwester nach schon abgeschlossenem Handel.

»Warum meinen Sie das?«

»Nun, eben so – –«

»Fifi gehört zum dritten Geschlecht«, sagte Brütsch flink. »Nichts zu befürchten.«

»Na, dann sind wir ja froh!« gab ihm Heidi erleichtert zurück.

Lily war von dem Geschenk überrascht, und die Verschworenen waren beglückt; denn das Mittel wirkte, und vierzehn Tage lang ging alles gut. Aber auf Brütsch war wieder einmal kein Verlaß gewesen. Denn als Lily in Begleitung Fifis einen Gang zur Post machte, hinunter in die Gemeinde, fiel ihr auf, daß allmählich eine ganze Anzahl Dorfhunde sich um Fifi versammelten und sie bedrängten. Sie biß sie weg, aber in gemessenem Abstand blieben sie doch auf ihrer Spur, und die Leute schauten sich heiter um nach der Dame und ihrem Gefolge.

Lily mißfiel das sehr. Sie spürte, wie etwas ganz unbegreiflich in ihr zu kochen begann und sie sehr elend machte, und auf dem 222 Rückweg ging sie zum Apotheker. Beim Verlassen der Apotheke waren die Hunde immer noch da, aber nun bekümmerte sich Lily um gar nichts mehr. Erst in der Nähe des Sanatoriums nahm sie Fifi an die Leine, zerrte sie ins Haus und ging, an allen vorbei, ohne Gruß auf ihr Zimmer.

»Gott, was ist denn das?« rief Doktor Streiff, aufs tiefste erschrocken, als er eine Weile später beim Verlassen des Hauses einen mächtigen schwarzen Hofhund, freundlich wedelnd, auf sich zukommen sah. Ganz weiß im Gesicht flüchtete er in die inneren Räume, denn Hunde, besonders große und schwarze, das war etwas, was ihm wirklich das Herz zum Stehen bringen konnte – selbst schon Fifi ging er nach Möglichkeit aus dem Weg.

Die Aufnahmeschwester warf einen Blick durch die Scheiben, und als sie den Vorplatz des Hauses und dessen Umgebung von allerlei Hundewesen belagert sah, großen, mittleren, kleinen, versicherte sie dem zitternden Doktor:

»Ich hab's ja gesagt . . . Schon vorgestern dachte ich mir's!«

Man schickte einen Boten zu Brütsch, daß er sofort käme, und als er erschien, sagte ihm die Aufnahmeschwester, mit dem dritten Geschlecht sei es jedenfalls nichts, und er müsse Fifi in seine Wohnung nehmen, bis alles vorüber sei. Das sei das Mindeste, was man als Sühne für seine Nichtsnutzigkeit von ihm erwarte.

Brütsch hatte gar nichts dagegen, daß er von der Schwester durchschaut worden war. Er versuchte nicht, als der Unschuldige zu erscheinen, sondern versicherte nur, in diesem Fall sei der Hund ja das Doppelte und Dreifache wert. Aber vor einem Umzug müsse er warnen. Ein Umzug und Eingesperrtwerden in diesem Zustand sei für den weiblichen Charakter nicht gut; Fifi könne bissig werden, und es gäbe andere Mittel, um ein Unheil zu verhüten.

Davon wußte Heidi, die vielbewanderte, nichts, und ihre Stimme war vor Spannung ganz dünn, als sie das bekannte.

»Eine Salbe«, flüsterte Brütsch und nickte dazu, und seine kleinen flinken Rattenaugen huschten herum, ob sonst niemand es höre . . . – eine abschreckende Salbe und Gummihöschen darüber, ein neues patentiertes Verfahren, unfehlbar wirksam. 223 Dann könne man Fifi frei laufen lassen, nichts werde geschehen. Er fahre sofort in die Stadt und werde alles besorgen.

Die Sache mit Fifi hatte sich nun aber doch im Hause herumgesprochen. Fräulein Molitor, die Dame, die nicht altern wollte und während des ganzen Winters in kurzen Kniestrümpfen, mit einem Herrenring am Zeigefinger und einem bunten Schal um den Hals, draußen herumgestrampft war, hatte persönlich dafür gesorgt, daß die Geschichte unter die Leute kam; denn das war etwas, was sie jung erhielt, und manche waren gespannt, was geschehen würde, wenn die junge Frau mit Fifi in der Oeffentlichkeit wieder erschiene.

Es kam nicht so weit. Noch bevor Brütsch zurück war, war Fifi tot. Die junge Frau hatte Fifi auf ihrem Zimmer vergiftet. Als es dem Zimmermädchen gelang, bis zu ihr vorzudringen, saß sie neben der Leiche und weinte.

Nun hielt es aber Dr. de Kälbermatten für angebracht, ein ernstes Wort mit Lily zu reden. Denn das Geschehene war noch viel schlimmer als Türenzuknallen und andern ins Gesicht zu schreien, Saxer sei gar nicht am Erblinden, er sei nur hysterisch. Solche Krankheiten kannte Kälbermatten, und kurieren ließen sie sich nur mit der Wahrheit.

Diese Wahrheit schenkte er der jungen Frau mit den schönen Augen nun ein.

Er habe sich, so gestand er ihr, nach der ersten Untersuchung ihres Mannes sehr gewundert, daß der berühmte Spezialist, bei dem Herr Saxer mehrmals gewesen war, an seinem Auge nichts habe finden können. Er habe sich deswegen mit dem Mann in Verbindung gesetzt. Dabei habe sich dann herausgestellt, daß dieser doch etwas gefunden hatte, und zwar dasselbe wie er, etwas Erschütterndes, demgegenüber ärztliche Kunst gemeinhin als machtlos gelte: eine Sehnervenatrophie, hervorgerufen von einer Geschwulst, durch die der Sehnerv langsam abgewürgt werde. In manchen Fällen könne man versuchen, die Geschwulst operativ zu entfernen, und könne damit eine Heilung erreichen. Im vorliegenden Fall sei das ausgeschlossen; denn die Geschwulst liege an einer Stelle des Gehirnkörpers, der man operativ nicht 224 beikommen könne. Man müßte Herrn Saxer zu diesem Zweck schon enthaupten. Der Fall sei deswegen hoffnungslos; ihr Mann gehe unvermeidlich völliger Erblindung entgegen; möglicherweise folge noch Schlimmeres nach.

Er hätte ihr das alles sofort eröffnen können, fuhr der Doktor fort. Im Einverständnis mit jenem Spezialisten habe er es jedoch vorgezogen, sie in dem Glauben zu lassen, daß die zunehmende Sehschwäche ihres Mannes möglicherweise nur die Folge eines seelischen Schockes sei und mit dessen Auflösung wieder verschwinde. Zudem könnten ja immer wieder Wunder geschehen; es könne zum Beispiel vorkommen, daß eine Geschwulst vom Körper selbsttätig wieder abgebaut werde.

Zwei Umstände hätten ihn veranlaßt, anfangs mit der Möglichkeit eines solchen Wunders zu rechnen. Erstens, daß Herr Saxer sonderbarerweise nie über Kopfschmerzen klage. Und zweitens habe Herr Saxer schon nach kurzem Aufenthalt hier erklärt, daß die Verminderung seiner Sehkraft keine Fortschritte mache. Sollte die radikale Umstellung der Ernährungsweise und die Sonderbehandlung bewirkt haben, daß das Wachstum der ohnedies nur zögernd sich entwickelnden Geschwulst zum Stillstand gekommen war? Jedenfalls habe er sich aufs Zuwarten verlegt, und er habe sich auch während der ersten Monate berechtigt gefühlt, an dieser Hoffnung festzuhalten.

Nun müsse er ihr aber eine zweite Eröffnung machen:

Seit ungefähr sechs Wochen sei die Geschwulst wieder im Wachsen begriffen, sehr lebhaft sogar; er habe dies bei der neuesten Untersuchung leider feststellen müssen, und im Zusammenhang damit nehme auch die Sehkraft Herrn Saxers von neuem rasch ab. Wer ihn aufmerksam beobachte, bemerke auch, wie er fortgesetzt unbeholfener werde – in einer Entfernung von rund drei Meter sei die gegenständliche Welt für ihn praktisch zu Ende. Er selbst sei an seinen Zustand schon so gewöhnt, daß er offenbar nichts von einer Verschlechterung spüre; das beständige Leben in vertrauten abgeschlossenen Räumen mit seiner gänzlichen Ausschaltung der Außenwelt begünstige ja die Aufrechterhaltung dieser freundlichen Illusion. In Wirklichkeit sei er ein armer 225 Nachtvogel, der in einem immer enger werdenden Käfig sitze. Gehe die Entwicklung der Geschwulst im augenblicklichen Tempo weiter, so werde er nach Menschenermessen schon in einigen Wochen völlig erblindet sein.

Gern hätte er ihr das alles noch länger verschwiegen, fügte Kälbermatten nach einer Pause hinzu. Nachdem sie aber solche Geschichten mache wie in letzter Zeit, habe er sich verpflichtet gefühlt, ihr die Wahrheit zu sagen, damit sie begreifen lerne, daß es gar keinen Sinn habe, unter den vorliegenden Umständen auf Abreise zu drängen und herumzutäubeln wie ein zorniges Kind, weil man ihr diesen Wunsch nicht erfülle. Im übrigen möge sie ihr jetziges Wissen für sich behalten, auch gegenüber Frau Dr. Streiff.

Es war Dr. de Kälbermatten sicher nicht leicht gefallen, so mit Lily zu sprechen. Denn der für weibliche Reize sonst recht unempfängliche Mann hatte ihr in seiner täppischen stillen Art wiederholt seine Aufmerksamkeiten erwiesen. Er erschien zum Beispiel beim Tee an ihrem Tisch, setzte sich ihr gegenüber und starrte sie mit seinem Widdergesicht unentwegt an. Er sagte womöglich kein Wort, aber er verehrte sie mit seinen Blicken, und manchmal bewegte er seine Lippen, als habe er den Stein einer sehr gut gewesenen Aprikose im Mund. Manchmal trat er ihr auch auf die Füße oder stieß mit ihr zusammen und entschuldigte sich dann für sein Ungeschick. So ein freundschaftlicher Tritt auf den Fuß war auch diese Predigt gewesen.

 


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