Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XVII.

Gegen Abend des nämlichen Tages liefen sich Valär und Nele geradeswegs in die Arme.

Brütsch hatte einen Mörderbock ausgemacht. Er stand in einer Gegend, die man die Steinäcker nannte, und es war klar: der Bock mußte weg. Von irgendwoher zugewandert, hatte der außergewöhnlich starke Bursche fast alles Wild schon vergrämt und aus der Gegend vertrieben, zum Teil in die Nachbarreviere, und da man es nicht darauf ankommen lassen konnte, daß er während der demnächst einsetzenden Brunft noch am Leben war, hatte Valär ihm schon an den beiden vorausgegangenen Wochenenden hartnäckig nachgestellt. Er hatte ihn auch zu Gesicht bekommen, ziemlich genau an der von Brütsch bezeichneten Stelle. Aber bevor er auf Schußweite nahe gewesen war, war der Bock scheltend ins Holz gezogen und ausgerückt.

An diesem Nachmittag hatte Valär ihn auf die Decke gelegt, und da der Bock im Feuer liegen geblieben war, mit einem Blattschuß, den auch Brütsch nicht besser hätte anbringen können, war seine Genugtuung groß.

Nachdem der Bock für den Abtransport in der üblichen Weise zurecht gemacht war, hatte er ihn wie einen Kranz über die Schultern geworfen, um ihn nach einer mit Brütsch verabredeten Stelle zu schleppen und dort fuchssicher aufzuhängen, bis dieser ihn holte. Simba, der Dackel, zottelte auf seinen kurzen krummen Beinchen hinterher, die Zunge weit aus dem Maule hängend, struppig, alt, von der Hitze erschöpft, aber immer noch ein eifriger Jäger.

Um den Weg nach Möglichkeit abzukürzen, stapfte Valär mit seiner schweren Last quer durchs Gehölz, ganz vom Tragen und Steigen in Anspruch genommen, als er seitwärts, am Rand eines Beerenschlags, den er schnitt, etwas rascheln hörte. Er drehte den Kopf, so gut er es hinter seinem sonderbaren Schulterkragen vermochte, und sah aus dem Buschwerk hervor eine lange helle Gestalt fluchtbereit in die Höhe schießen. Ihr Mund stand offen, als ob sie im nächsten Augenblick schreien wollte, und ein nackter 172 Arm fuhr gleichzeitig in die Luft, wie der eines mit den Wellen kämpfenden Schwimmers.

Es war Nele.

Erst als Valärs Gesicht zwischen den vorstehenden Läufen des Tieres für sie zum Vorschein kam, erkannte sie ihn.

»Herr Valär!« – Mit ganz verstörten Mienen drängte sie sich zwischen den Büschen hervor in den offenen Wald, und es schien, als ob ihr im nächsten Augenblick die Beine unter dem Leib wegrutschen wollten wie vorhin dem Tier. »Herrje«, rief sie, »was ist denn passiert?«

Er schwang den Rehbock über die Schulter nach vorn und legte ihn zwischen ihr und sich auf die Erde. Auch die Büchse ließ er zu Boden gleiten, während Simba uninteressiert unter einem Schattendach sich verkroch.

»Haben Sie noch nie einen Jäger gesehen?«

Sie starrte stumm auf das Tier und wich vor Valär zurück. »Das ist ja ein Reh?« entfuhr es ihr klagend.

Er lachte und rupfte ein Grasbüschel ab. Er machte daraus einen Bausch, und nachdem er sich damit die Hände abgewischt hatte, warf er ihn weg. Dann streckte er ihr seine Rechte entgegen..

Mit einem vorwurfsvollen Blick griff sie zu, zögernd, betroffen. Ihre Hand war heiß. Ihre Wangen glühten. Er hatte sie nie so frisch gesehen. Der Wald und ein kleiner Schrecken schienen ihr gut zu bekommen. Sie schien sich jedoch noch immer nicht fassen zu können. Wellenförmige Falten gruben sich in ihre Stirn, und ihr Grußarm steckte, wie ein Stangenhebel so steif, in der Schulter.

Valär wandte sich ab. Er lehnte die Büchse an einen Baum und ließ seinen Hut daneben zu Boden fallen. Er fiel in eine goldrote Sonnenpfütze. Dann zog er sein Taschentuch und trocknete sich damit ausführlich Gesicht, Kopf und Nacken. Der Bock wog schätzungsweise seine fünfundvierzig Pfund, und der Weg war bergauf gegangen. Außerdem war die Luft düppig-heiß, wie vor einem Gewitter. Zuletzt zog er auch seinen Rock herunter und legte ihn zu dem Hut. Zwischendurch blickte er einmal nach Nele. Sie stand jetzt still, und ihre Augen wanderten unentwegt von ihm zur Büchse, zur Beute und wieder zu ihm. 173

»Den Schuß habe ich gehört, ja-ja«, sagte sie leise. »Aber an so etwas dachte ich nicht. – Gott, haben Sie mich erschreckt, wie Sie so geduckt und lautlos hinter den Bäumen aufgetaucht sind, genau wie ein Räuber!« Sie hob von neuem die Augen zu ihm empor und versuchte plötzlich zu lächeln.

»Und Sie? Wie ich sehe, sind Sie ja ebenfalls auf der Jagd«, sagte er, mit dem Kinn nach einem geflochtenen milchkrugförmigen Körbchen weisend, das an einem um ihre Taille geschnallten Ledergürtel festgemacht war, wie ein Mähergumpen, mitten auf ihrem Bauch.

»Himbeeren!« versetzte sie stolz, indem sie beide Arme wie Ruder weit von sich weg nach hinten streckte und mit gesenktem Gesicht den Leib nach vorne bog, damit er gut in das Körbchen hineinsehen konnte, »– viele und schöne. Und wenn Sie wüßten, was ich schon gegessen habe!«

Valär wischte sich ein zweites Mal ab.

»Herrlich!« rief er. »Ein Wald, ein Schuß, ein Räuber, ein Rehbock und ein Himbeerenbauch – so ist es richtig. Das Edelste, was der Sommer zu bieten hat – sein Duft und Geheimnis kommen darin zusammen. Streng genommen gehören noch zerzauste Haare dazu und zerkratzte Waden.« Er ließ seine Augen an ihr heruntergleiten. »Haben Sie auch zerkratzte Waden?«

Ja, das hatte sie, niemand brauchte zu suchen. Es gab weiße Kratzer und rote Kratzer auf ihren nackten hellbraunen Beinen, kurze, lange, gerade und krumme, von den Söckchen bis an die Knie, Kratzer für jeden Bedarf, wie in einem erstklassigen Laden, und auch an zerzausten Haaren war keineswegs Mangel. Sie lachte bei dieser Feststellung unerwartet hell auf, und indem sie ihm das Himbeerkörbchen, ohne es vom Gürtel zu lösen, mit beiden Händen entgegenhielt und dicht vor ihn hintrat, bat sie:

»Nehmen Sie doch! Sie sind alle aus diesem Schlag. Offenbar ist noch gar niemand dagewesen! Im Gebüsch habe ich noch eine ganze Blechtasse voll, und an den Stauden hängen noch mehr.«

Er nahm, was er mit drei Fingern fassen konnte, stopfte es sich in den Mund und nahm noch einmal. »Danke!« – Dann setzte er sich auf den Boden, stellte die Knie hoch und blickte zwischen 174 ihnen hindurch vor sich hin in das goldene, alte, verblichene Laub, das sich in der Sonne krümmte.

Seit der Begegnung im Zug hatte er Nele nicht mehr gesehen. Auch den versprochenen Meyer-Vortrag hatte sie ihm nie geschickt. Trotzdem hatte er da und dort einmal flüchtig an sie gedacht. Zuletzt war das geschehen, als Rosa geäußert hatte, sie werde demnächst wahrscheinlich ganz herausziehen, und zwar ins Schwedenhäuschen. Er hatte absichtlich nicht weitergeforscht, mit was für Plänen der bisherigen Bewohner des Schwedenhäuschens dieses Vorhaben zusammenhänge. Denn es war ihm vorgekommen – er wußte selbst nicht, woran es lag, – daß er meinte, Rosa habe mit ihrer Bemerkung die Unterhaltung gerade dieser Frage zuwenden wollen. Er wünschte jedoch, was Frau Ellegast oder Nele betraf, keine Vertraulichkeiten mit Rosa zu tauschen, weder empfangend noch gebend.

Nele war inzwischen um den am Boden liegenden Rehbock herumgegangen und hatte mit scheuer Neugier alles Mögliche an ihm betrachtet: die schwarze, festgeschlossene Muffel mit dem hellen dünnen Blutschaum davor, die großen leblosen Augen, die mächtigen schwarzen Wimpern am Oberlid, die kleinen kräftigen Klauen und die Stelle hinter dem linken Vorderlauf, an der das glatte Fell ein wenig verwirrt und mit ein paar dunklen Blutstropfen verklebt war.

Dabei war sie wieder ganz hilflos geworden – wie anders war in einem solchen Fall Dinah!

»Armes Tier!« hörte Valär sie sagen, und als er das Gesicht zu ihr hob, fügte sie beklommen hinzu: »Warum haben Sie es nicht leben lassen?«

»Schwer zu sagen, Nele! Wahrscheinlich einer jener nicht sehr seltenen Fälle, die sich zwar hinreichend begründen, nicht aber wirklich rechtfertigen lassen.« – Er hatte die Arme quer über die Knie gelegt; die Hände hingen lose zwischen seinen Beinen herunter, und mit den Fingern drückte er an einer Zigarette herum, um sie sich gleich danach in den Mund zu schieben. »Sehen Sie sich einmal die Krone an, die der Bursch auf dem Kopf trägt – wie?« 175

»Nennt man das Krone?«

Er nickte.

»Spieße sind das!« sagte Nele nach einer Weile.

»Ja. Lang, dünn, gerade und spitz. Keine dicken, geperlten Stangen, mit zwei oder drei kurzen Seitenzacken daran, wie es bei einem Bock dieses Alters die Regel ist, sondern Dolche. Fühlen Sie die Dinger nur einmal an!«

Sie kauerte bei dem Tier nieder und betupfte mit einem Finger zögernd die Stangenenden, wurde dann aber kühner und begann sie der Länge nach abzutasten.

»Mächtig scharf!« bestätigte sie.

»Und nun stellen Sie sich einmal vor, was geschieht, wenn ein Kerl wie dieser mit einem andern in Kampf kommt.«

»Aber, ich bitte Sie, Rehe! Rehe kämpfen doch nicht?«

»Für gewöhnlich nicht. Aber in zehn, vierzehn Tagen beginnt ihre Liebeszeit. Dann wird jeder Bock des andern Feind. Dann raufen und kämpfen sie, wo sie sich treffen.«

Sie geriet bei seinen Worten mit sich in Widerstreit und vielleicht auch mit ihm. Sie sagte nichts, aber er sah es.

»Aber warum raufen sie denn?« fragte sie schließlich und stand wieder auf.

»Warum? – Weil jeder dieser Burschen da alle Weibchen für sich allein haben möchte. Besitzerneid – Uebermut – Lebensgier – was Sie wollen.«

»Ach so!«

Nele stand jetzt vor der Sonne, scharf abgezeichnet gegen die Luft, mit unbewegtem Gesicht, und blickte ins Leere. Es war nicht zu erraten, wo sie mit ihren Gedanken jetzt weilte. Die Sonne umgab ihr Haar mit einem leuchtenden Kranz, und es fiel Valär auf, wie schön ihr Schädel geformt war.

Da es für Nele anscheinend immer noch schwierig war, das kleine Stück Welt, von dem sie gesprochen hatten, mit seinen Augen zu sehen, fing er von neuem an. Er sagte:

»Für gewöhnlich ist es nicht schlimm, wenn zwei dieser Burschen zusammenprallen. Die üblichen Gehörne, die sind ja mehr Schmuckstück als Waffe. Aber, was meinen Sie, was geschieht 176 wenn ein Kerl wie dieser einen Gegner mit seinen Dolchen von der Seite oder am Bauch zu fassen bekommt? – Er forkelt ihn so, daß der Gegner schwerverwundet am Platze bleibt und elend zugrundgeht. Böcke wie dieser heißen deswegen Mörderböcke, und wenn man sie erwischen kann, müssen sie sterben.

»Aber das ist ja schrecklich! Gibt es denn viele wie diesen da?«

Valär stand auf.

»Das weiß ich nicht«, sagte er, sich das Laub von den Kleidern schlagend. »Dieser hier ist der erste, der mir vor die Büchse kam. Ich hoffe, er bleibt auch der letzte.«

In diesem Augenblick entdeckte sie etwas Neues. Sie bemerkte, daß der Bock einen kurzen frischen Eichenzweig zwischen den Kiefern eingeklemmt hatte. Sie hatte den Zweig bisher nicht gesehen, weil er nach der dem Boden zugewendeten Seite aus der Muffel hervorstand.

»Da, im letzten Augenblick hat er noch gefressen! Der Zweig hängt ihm noch im Maul«, sagte sie. – »Haben Sie es gesehen?« – Sie kauerte abermals nieder und betupfte vorsichtig den Kopf.

Auch Simba, der Dackel kam wedelnd heran und begann mitzuschnuppern, mit seiner Schnauze ihrer Hand aufmerksam folgend.

Valär klärte Nele auf. Er sagte ihr, der Eichenzweig sei eine Totengabe. Man bitte den Bock und seine Ahnen mit dem Zweig um Entschuldigung dafür, daß man ihn umgebracht habe. Sonst grolle der Wald.

Nele schwieg. Der Wald summte. Aber er merkte es ihren Augen an, daß die Welt an einigen Stellen ihr Gesicht für sie verändert hatte. Das war ein Erfolg.

»Gehen wir?« fragte Valär nach einer Weile.

Nele war einverstanden. Nur ihre Blechtasse stand noch im Himbeerschlag, und sie sprang fort, um sie zu holen.

Kurz danach brachen sie auf. Da Nele ihm durchaus beim Tragen helfen wollte, schob er seine Büchse zwischen den gekreuzten Vorder- und Hinterläufen hindurch, so daß der Bock freischwebend daran herunterhing, wie an einer Stange. Er faßte am Kolben, sie am Rohr, und so schritten sie seinem Ziel entgegen. Unterwegs wechselten sie zweimal die Seiten. 177

Es schien Nele viel Vergnügen zu machen, daß sie ihm so nützlich war.

Nachdem der Bock bei der verabredeten Stelle kopfabwärts am Galgen hing, gegen unerwünschte Sicht durch abgeschnittene Zweige getarnt, setzten sie den Heimweg gemeinsam fort. Im Westen hatten sich Wolken vor die Sonne gelegt, und auffallend schnell war die Luft dunkler geworden. Der Wind, der bis dahin nur als leichtes stoßweises Rauschen hoch oben in den Bäumen spürbar gewesen war, drang nun schon bis auf den Boden, griff knetend in die Sträucher hinein und zerrte an dem spärlichen Gras, das sich im Halbschatten durchbringen konnte. Aber die Luft, die er vor sich hertrieb, blieb heiß. Das alles war zeitgemäß. Denn es war Ende Juni.

»Jetzt muß ich Ihnen aber von mir etwas beichten«, sagte Nele recht unvermittelt. Sie hatte ihre Himbeeren mit einer Moosschicht bedeckt, damit sie davon nichts verlor. Das Körbchen trug sie immer noch umgeschnallt auf dem Bauch; auch ihre Blechtasse hatte sie am Gürtel befestigt. So hatte sie Arme und Hände ganz frei.

»Beichten?« fragte Valär zurück. »Nur Sünden beichtet man, Kind.«

»In Ihren Augen ist es vielleicht eine Sünde.« – Und mit einem Anlauf: »Ich bin aus der Schule ausgetreten.«

Etwas in ihren Mienen veranlaßte ihn, der Sache sofort auf den Grund zu gehen.

»Getreten oder getreten worden?« fragte er und blieb mit einem Ruck stehen. »In solchen Sachen darf nichts unter Freunden verwuschelt werden.«

Sie spürte wohl, daß es galt, die volle Wahrheit zu sagen.

»Man hat mir nahegelegt, meine Zeit und meine Kräfte nicht länger zu vergeuden mit einer Beschäftigung, der ich nicht gewachsen bin«, antwortete sie erstaunlich fest, ohne Drücken und Würgen und große Beschwer. Aber das Blut schoß ihr doch in die Haut, und unter dem dünnen Sommersprossengeriesel um Nase und Stirn begann sie von den Haarwurzeln bis in den Hals hinunter zu glühen. 178

»Brav von Ihnen, daß Sie das so ungeschminkt sagen.« Und er nickte ihr zu. Dann gingen sie weiter.

Seine Anerkennung ermutigte sie. Sie sagte:

»Zuerst habe ich es gar nicht verdauen können. Ich wußte, daß es nicht gut mit mir stand. Aber ich habe immer gedacht, daß ich es trotzdem zwingen würde. In vielen finsteren Stunden war diese Hoffnung mein Halt und mein Trost. Aber jetzt bin ich fast glücklich darüber, daß der schwere Traum ausgeträumt ist. In all meiner freien Zeit streife ich jetzt durch die Wälder. Niemand schimpft oder guckt mich mitleidig an. Ich suche Beeren oder liege ins Gras. Und ich erfahre so vieles!«

Sie schwang die Arme, streckte den Hals und blickte mit frohem Gesicht gradaus vor sich hin.

Vieles müsse sich in Nele geändert haben, meinte Valär bei sich, als er sie so von sich sprechen hörte. Und während er sie von der Seite abermals zu betrachten begann, fand er seinen Eindruck bestätigt, daß sie viel frischer aussah als früher. Ihre Haut hatte Farbe, die Bewegungen waren wärmer und freier geworden, und auch das liebe, vordem so wunschlos gewesene Fleisch schien sich auf seine aphrodisische Mission zu besinnen. Das alles machte ihn froh.

Im Weitergehen versuchte er Nele dann aber doch nach den näheren Umständen ihres Rückzuges auszuforschen.

Zuerst wollte sie nicht. Sie schüttelte höflich den Kopf. »Jetzt ist ja nur wichtig, daß ich alles hinter mir habe und jede Nacht ausschlafen kann.« – Sie zottelte neben ihm her, mit gelösten Gliedern, wie ein Pferd, das aus dem Rennen kommt und nichts im Sinn hat als die grüne saftige Weide. Dabei hatte sie doch von Beichten gesprochen. Sonderbar!

»Wie alt sind Sie eigentlich, Nele?« fragte er, in Fortsetzung seines Gedankengangs.

»Aelter als Sie wohl denken. Vor kurzem bin ich siebzehn gewesen.« – Sie schickte ihm einen kurzen Blick über die Schulterecke. Und nun wollte sie doch berichten über das, was er sie gefragt. 179

Aus der Unterhaltung, die sich nun anspann, und aus vielen zerstückelten Aeußerungen ergab sich folgendes Bild:

Sie sei, so sagte sie, in letzter Zeit immer schlecht vorbereitet zur Schule gekommen. Als sie noch in der Stadt bei einer Familie war, in Pension, habe sie alle freie Zeit fürs Lernen verwenden können. Seit die Mutter sie zu sich genommen habe, sei das nicht mehr gegangen. Die Mutter habe aus Sparsamkeit kein Dienstmädchen mehr. Nach der Heimkehr aus der Schule habe sie deswegen zunächst immer den Haushalt besorgen müssen: Essen richten, Zimmer machen, Geschirr abwaschen – manchmal sei am Abend alles noch genau so dagelegen wie am Morgen, wenn sie in die Schule fuhr. Nachher sei sie aber immer viel zu müde gewesen, um noch einmal richtig mit Lernen beginnen zu können. Ein paarmal habe sie die Schule auch ganz geschwänzt, weil die Mutter nicht aufstehen konnte. Ihre Leistungen seien daher schnell schlechter geworden. Sie habe der Klassenlehrerin gesagt, woher das ihrer Meinung nach komme. Diese habe dafür aber gar kein Verständnis gehabt. Es sei vielleicht nötig und unumgänglich, daß sie an jedem Tag ein paar kostbare Stunden für ihre Mutter verbrauche, habe die Brillenjungfer hochnäsig erklärt. Aber eine derartige Inanspruchnahme für niedere Dienste, wie sie jede Zugehfrau leisten könne, vertrage sich nicht mit der Zugehörigkeit zu jener ausgewählten Schar junger Menschen, die sich von allen gemeinen Bindungen des Daseins losgelöst hätten, um völlig aufzugehen im hehren Geiste der Wissenschaft, dessen Pflege und Ausbreitung diese Schule geweiht sei. Es könne daher nicht geduldet werden, daß die Welt vor dem Schulhaus, in ihrem, Neles Leben, noch länger solche Bedeutung habe wie jetzt.

Am nächsten Tag habe die Klassenlehrerin ihrer Mutter ungefähr dasselbe gesagt und ihr geraten, sie auf eine Schule mit nicht so hohen Zielen zu tun, weil sie mit ihren jetzigen Leistungen ja doch unmöglich versetzt werden könnte. Ihre Mutter sei heftig geworden und habe der Lehrerin mit einer Beschwerde beim Direktor gedroht. Aber sie, Nele, habe die Mutter davon zurückgehalten. Denn sie habe plötzlich gemerkt, daß sie in den falschen Zug eingestiegen sei, und daß sie brechen müsse mit allem, was sie bisher gewollt. Sie habe daher ihren Austritt genommen. 180

»Ich bin ja bisher gar nicht lebendig gewesen«, sagte sie von sich selbst.

Valär gefiel das – und es gefiel ihm auch wieder nicht. Hatte Nele die Waffen nicht zu leicht gestreckt? Hatte ihr die häusliche Inanspruchnahme nicht gar zu schnell einen willkommenen Vorwand geliefert, um auszubrechen aus einer mit schweren Hindernissen gespickten Bahn, anstatt ihre Kräfte zusammenzuraffen und erbittert weiterzukämpfen? Umgekehrt machte es aber doch auch starken Eindruck auf ihn, daß sie sich von etwas, was doch wohl aussichtslos für sie war, mit solcher Entschlossenheit losgelöst hatte, und daß ihr an dem klaren Kopf, den sie dabei bekommen hatte, so viel gelegen war.

»Und was haben Sie fürs nächste nun vor?« fragte er nach einer Weile.

»Zunächst einmal ist Mutter wütend auf mich. Ich sei ein faules Ding, sagt sie, und ich hätte mir das Recht, auf die Töchterschule gehen zu dürfen, seinerzeit nur erbettelt, um mich auf feine Weise von jeder ekligen Arbeit drücken zu können. Mutter weiß ja gar nicht, wie stolz ich auf meine Schule war, und wie es mich mitgenommen hat, als ich einsehen mußte, daß ich diese Schule niemals verlassen würde, um noch höher zu steigen, wie ich es mir zuerst vorgestellt hatte. Nun sagt sie, könne ich Dienstmädchen werden. Natürlich ist das wieder eine Uebertreibung von ihr. Aber man darf ihr das nicht weiter übelnehmen. Sie ist eine kranke Frau, und nach einer Weile meint sie es wieder ganz anders.«

»Jaja, nur ist mit dem allen die Frage nach Ihrer Zukunft ja nicht gelöst«, bemerkte Valär.

Nele antwortete nicht sofort. Ihre Augen glitten am Boden hin und hefteten sich an die helle Spitze von Simbas vorauswackelndem struppigem Schwanz. Dabei hingen ihre nackten Arme lose herunter, und ihre beiden Hände gingen ruckweise auf und zu, auf und zu wie zwei Kiefer. Schließlich sprach sie. Sie sagte:

»Ich habe Mutter lieb und bin beständig in Sorge um sie. Wenn ich sie nicht mehr hätte, wäre ich ja völlig allein. Denn mein Bruder ist abgereist.« 181

Valär interessierte an dieser Mitteilung, daß Bruno kürzlich einen angeregten Brief über den Heuet nach Hause geschrieben hatte, und daß er nun Teilnehmer des Jungschützenkurses sei: »woraus ihr erseht«, hatte es fast übermütig geheißen, »daß von den beiden Seelen in meiner Brust die zum Vaterland strebende wahre Orgien feiert«. Mit keinem Wort hatte dagegen Bruno die Abreise seines Freundes erwähnt.

»Ist er nach Australien gefahren?« fragte Valär.

»Ja! Nach Brisbane. Anfangs des Monats. Zu seinem Vater.«

Warum hatte Bruno sich ausgeschwiegen?

»Vorderhand werden Sie also nichts Neues versuchen?«

»Ich werde in Geduld viele kleine Dienste verrichten, die nötig sind«, entgegnete sie ohne Begeisterung. »Und ich werde viel, sehr viel schlafen. Daß das nicht so bleiben kann, ist natürlich klar. Auch ich möchte mich einmal meinen Fähigkeiten entsprechend betätigen.«

Valär schwang seine Büchse auf die andere Schulter:

»Ich wünsche, daß es eine fröhliche Betätigung für Sie gibt! Und dann natürlich eine große saftige Ernte.«

»Ja«, erwiderte sie.

Als sie an die Stelle gekommen waren, an der Neles Weg nach links abbog und der seine nach rechts, sagte Valär:

»Meinen Sie nicht, jetzt ein Glas voll Orangensaft verdient zu haben und ein Stück Butterbrot mit ganz frischem eigenem Honig?«

Er merkte sofort, daß ihr dieser Vorschlag gefiel, aber sie rettete sich mit ihren Augen schnell in den Himmel:

»Und das Gewitter?« gab sie zurück. »Eben erst hat es wieder gegrollt.«

»Es weiß offenbar nicht, was es will. Jetzt sieht es eher aus, als ob es gegen die Berge hin abziehen wolle.«

»Durst hätte ich schon«, gab Nele zu. »Aber ich fürchte, Mutter wird aufgeregt werden, wenn sie donnern hört und ich noch nicht daheim bin.«

»Sie brauchen sich ja nicht aufzuhalten. Der Weg an meinem Häuschen vorbei ist übrigens für so lange Beine wie Ihre auch nicht nennenswert weiter.« 182

Nele kam mit.

Durchs Küchenfenster rief Valär ins Haus hinein:

»Seline, hallo, Galopp, sofort ein großes Glas Orangeade und ein Butterbrot mit viel Honig darauf, aber vom neuen! Und alles auf den Vorplatz bringen.«

Als sie ums Haus herum in den Garten traten, sahen sie unerwartet eine Gestalt im Badeanzug vorn auf dem Seesteg sitzen, und sie wurden gleichzeitig auch von dieser bemerkt. Es war Dinah. Sie kam sofort auf sie zugesprungen, stutzte aber, als sie Valär in fremder Begleitung sah, und fiel in Schritt. Aufmerksam kam sie näher.

»Ich bin schon geschwommen«, rief sie Valär entgegen. »Wo hast du den Bock?«

Nele wurde von ihr ignoriert.

»Gebt euch erst einmal die Hand«, bremste Valär ihren Sturm. »Das ist eine Dinah – und das ist eine Nele.«

Dinah tat, wie sie geheißen war, trat aber sofort wieder zwei Schritte zurück, blieb vor Nele stehen und begann sie von oben bis unten ausführlich zu mustern, wobei sie ihre leicht kurzsichtigen Augen kritisch zusammenzog.

»Dich habe ich auch schon im Zug gesehen«, sagte Dinah, als sie mit ihrer Musterung fertig war.

»Ich dich auch.«

»Aber jetzt schon lange nicht mehr«, gab Dinah zurück. Und nach einer Pause: »Willst du auch baden?«

»Nein!«

»Du darfst auch nicht. Nur meine Brüder und ich dürfen hier baden. Sonst niemand.« – Plötzlich machte sie kehrt und sagte zu Valär: »Mann, es kommt ein mächtiger Kladderadäng! Ich sause noch einmal rein.« – Und weg war sie. Gleich darauf hörte man sie vom Wasser her prusten.

Valär und Nele blickten sich an.

»So geht es mir immer. Aber nicht mehr lange geht es mir so. Dafür garantiere ich«, sagte Nele. Zuerst war sie erbittert gewesen, aber zum Schluß lachte sie.

Als Nele ihre Orangeade bekam, fielen schon Tropfen. Sie leerte sie stehend, nahm das Honigbrot und sagte, das esse sie unterwegs.183

Beim Abschied sprach Nele davon, daß sie eine Bitte habe, und als Valär nach deren Gegenstand fragte, antwortete sie:

»Sagen Sie zu mir auch du – wie zu dem andern Mädchen. Ich bin ja genau noch so ein Kindskopf wie sie.«

»Also doppeltes Weidmannsheil heute!« sagte Valär.

Das war wieder ein Ausdruck, den sie nicht verstand.

»Ich werde es dir später erklären«, erwiderte er. Sie gaben sich noch einmal die Hand, und dann ging sie eilig davon.

 

Etwa drei Wochen später sagte Rosa zu Valär:

»Möchtest du mich nicht einmal zu dir in dein Häuschen einladen? So ein Holzbock bist du! Mit jungen Mädchen trägst du Rehböcke im Wald spazieren, aber in der ganzen Zeit meines Hierseins hast du nicht ein einziges Mal zu mir gesagt, daß ich dich besuchen soll. Du könntest wirklich einmal nett zu mir sein.«

»Hat dir Nele erzählt, daß wir uns im Walde getroffen haben?«

»Ja. Und sie war ganz außer sich, daß die Rehe auch ihre Liebeszeit haben, und daß sie dann raufen. – Ich glaube, Andrea, sie schwärmt für dich.«

»Und nun meinst du, soll ich auch für dich etwas tun?« – Er überlegte. »Komm doch am Samstag zum Abendessen!«

»Du ahnst gar nicht, wie gut mir das paßt«, versicherte Rosa. »Ich ziehe nämlich am Samstag um; mein Mädchen wäre dadurch der Kocherei am ersten Abend enthoben.«

»Nicht möglich! – Ins Schwedenhäuschen?«

Sie nickte.

»Und seine Bewohner?«

»Frau Ellegast fand, daß es hier nicht länger zum Aushalten sei. Die Milch, die ihr ein benachbarter Bauer liefert, rieche nach Stall, und auf einem andern Hof sei ein Hund, der nachts belle.« – Rosa lachte: »Wonach hätte die Milch denn riechen sollen, ich bitte dich, wenn sie absolut kuhwarme will? Und was soll ein Hund denn tun in der Nacht als wachen und bellen? Aber so geht's bei ihr zu. Und jetzt ist sie empört auf- und davongefahren, irgendwohin ins Tessin.« 184

»Also geht's ihr doch nicht so schlecht?« fragte Valär.

»Ich habe das Häuschen möbliert von ihr auf unbestimmte Zeit übernommen. Mit dem, was ich ihr an Möbelmiete bezahle, kann sie auch anderswo leben, wenn sie sich beschränkt. Außerdem hofft sie von Tag zu Tag, daß die Polizei den sogenannten Brasilianer doch noch erwischt, und daß sie die fünftausend Franken Anzahlung auf das Land wieder bekommt.«

»Wie anständig von dem gerissenen Kerl, daß er ihr nicht mehr abgeluchst hat«, sagte Valär. »Er hätte sie ja noch ganz anders hereinlegen können.«

»Sie ist auch so gestraft genug«, meinte Rosa.

»Ein unseliges Geschöpf, diese Frau – eine wahre Landplage ist sie in meinen Augen«, gab Valär zurück.

»Ach, wenn sie sich ans Klavier setzt, kann sie immer noch hinreißend sein«, entgegnete Rosa.

Valär horchte auf.

»Dann stimmt das mit der Pianistin also?«

»Hast du es für Geflunker gehalten? Nein, es ist kein Geflunker. In jungen Jahren ist sie sogar eine vielversprechende Begabung gewesen. Mit zwanzig hat sie schon Konzertreisen durch alle möglichen Länder gemacht. Leider hat sie sich dann auf sogenannte modernste Musik kapriziert, und von da an ging es mit ihr bergab – bis in die Ehe.«

Valär sah ein Streichholz am Boden liegen und hob es auf.

»Und was wird jetzt aus ihrer Tochter?«

»Sie hätte das Mädchen am liebsten mit ins Tessin genommen, damit sie jederzeit einen netten Hauspudel hat«, erwiderte Rosa. »Aber da bin ich dazwischen gefahren.«

»So! – Darf man wissen, wie?«

»Ich habe mit der Mutter einen Kontrakt gemacht, daß sie anderthalb Jahre lang auf alle Ansprüche an ihr Kind und auf jedes Dreinreden in seine Erziehung verzichtet, und daß ich als Gegenleistung in dieser Zeit für Nele sorge. Vorgestern habe ich das Kind weggebracht, an einen Ort zwischen Jura und Berner Mittelland, in eine sehr gute Gartenbauschule. Das Mädchen gehört an die Luft, und für Praktisches hat sie recht viel Geschick. Ich 185 habe ja mit dem Land hier für später noch allerhand vor. Da könnte Nele dann ein dankbares Arbeitsfeld finden.«

»Das finde ich alles sehr vernünftig von dir«, sagte Valär. Mit gesenktem Kopf stand er da und blickte sinnend auf den ausgebrannten schwarzen Kopf des Streichholzes, das er immer noch in der Hand hielt . . . Was konnte das wohl gewesen sein, was Rosa meinte, als sie sagte, sie habe mit dem Land hier noch allerhand vor? – Er hob den Blick und suchte mit den Augen nach ihrem Gesicht. Aber sie hatte sich lautlos umgedreht und ging eben zum Fenster.

Da knickte er das Streichholz entzwei und legte es in den Aschenbecher.

 


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