Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XXXII.

An Weihnacht kam Nele.

Nele stand diesmal nicht plötzlich da, wie vom Himmel gefallen. Valär empfing von ihr ein Brieflein, das erste, das sie ihm schrieb.

Sie fasse sich endlich ein Herz, schrieb sie, um ihm zu sagen, daß sie seinen überraschenden kurzen Sommerbesuch nicht vergessen habe. Es sei schön gewesen, daß er und der junge Herr Elmenreich auf ihrer Reise nach Genf sich zu diesem Abstecher entschlossen hätten. Ihr Herz sei seitdem so froh. Und nun solle er wissen, daß sie über die Weihnachtsfeiertage im Schwedenhäuschen sein werde, bei Frau Dr. Streiff, und daß sie versuchen werde, ihn bei dieser Gelegenheit wiederzusehen. Sie komme vom Bahnhof direkt auf sein Stadtbüro, ehe sie nach Escholzwil weiterfahre. Den Tag und die Stunde wisse sie noch nicht genau, aber sie werde dort nach ihm fragen. Am ersten Nachfeiertag reise sie wieder ab. Sollte er verhindert sein, so hinterlasse er vielleicht eine Weisung für sie. Manchmal bezweifle sie, ob sie recht daran tue, ihm so zu 327 schreiben. Auch jetzt – – nein, jetzt mache sie einfach die Augen zu und springe über den Graben. Schließlich gehe sie doch ins neunzehnte Jahr.

Valär war verhindert. Aber das Strahlende, das er bei seinem mit Bruno verübten Besuch in Neles Augen gesehen hatte: dieses Beglückte mit dem zitternden Schleier darüber, das war ihm seitdem auf manchem Weg nachgelaufen. Es stand auch jetzt wieder da, und sein Mitgefühl strömte dem Mädchen entgegen. Er hinterließ Nele also ein Kärtchen mit Angaben für den Tag nach ihrer Ankunft.

 

Wieder einmal nahm Valär das Bähnlein zu seinem Wochenendhaus und verließ den Zug auf der für Nele bestimmten Station. Es war die Station vor Escholzwil. Als er hinter dem Bahnhof in eine enge Seitengasse einbog, der er nach alter Gewohnheit vor dem Fahrweg den Vorzug gab, kam ihm eine große junge Dame entgegen, und als sie vor ihm stand, sagte sie:

»Da bin ich also!«

Er hatte gedacht, daß sie ihm erst weiter oben begegnen werde, aber nun war sie ihm bis zum Bahnhof entgegengegangen. Offenbar hatte sie hinter den Häusern gewartet.

Sie hatten es gut, als sie sich trafen. Sie schauten einander an, gaben sich die Hand und blickten einander abermals in die Augen. Grad schlug die Kirchturmuhr sechs, und Valär fragte sich, ob Nele es ebenfalls höre.

Dann stiegen sie langsam bergan. Es hatte geschneit, stark knöcheltief, aber im Lauf des Nachmittags hatte das Schneetreiben aufgehört. Jetzt schossen die Wolken, vereinzelt und weiß, wie flüchtende Vögel über den glasig dunklen Nachthimmel hin, hinter ihnen der Wind, und dazwischen goß der wachsende Mond sein kaltes Licht über die Erde. Die Häuser, zwischen denen sie gingen, traten unregelmäßig an die gewundene Gasse heran, und Häuser und Bäume gruben zackige Schatten, tiefschwarz und unbewegt, in den flimmernden Schnee.

Nachdem die ersten Worte gewechselt waren, schwiegen sie 328 beide. Neles Gesicht lag voll im Licht, und Valär bemerkte, daß die gelben Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken bis auf wenige blasse Flecken verschwunden waren. Einmal drehte Nele sich hastig um und blieb mit geschlossenen Augen ein paar Sekunden lang stehen. Dann sah er sie an sich hinunterlächeln. Dabei zog sie den Hals tief in den hochgeschlagenen Kragen ihres Mantels zurück. Die Wangen rieb sie an den Kragenschnauben. Sie ging leicht vornübergebeugt und hatte die Hände tief in den Manteltaschen vergraben.

»Ich fasse es gar nicht, daß ich Ihnen geschrieben habe«, sagte Nele nach einer Weile. »Den Reisetag habe ich fast nicht erwarten können. Auch Frau Dr. Streiff bin ich vorhin ganz einfach durchgebrannt. Ich habe ihr kein Wörtchen davon gesagt, daß ich Sie treffe.«

»Denk, mit mir ist's das gleiche. Ich habe ihr auch nichts gesagt.« – Diese Erwiderung freute ihn so, daß er in einem Zug weiterfuhr: »Hörst du nicht, wie mein Herz klopft deswegen?«

Nele lachte hell auf. Sie schielte über die Backenknochen schnell zu ihm hin und blickte ebenso schnell wieder weg. Eigentlich hatte sie nicht lachen wollen. Denn es hatte sie während des ganzen Tages stark beschäftigt, daß sie mit ihm diese Verabredung hatte, hinter dem Rücken der andern und zu nächtlicher Zeit. Aber sie war doch erstaunt gewesen über den selbstzufriedenen Ton, mit dem sie soeben von ihrer Durchbrennerei und dem andern gesprochen hatte. Ebenso erstaunt war sie jetzt über ihr Lachen. Aber wenn ein Mensch so übertrieb, wie er es getan, wer konnte da widerstehen?

Valär übertrieb nicht. Sein Herz klopfte wirklich. Erst seit sie neben ihm ging, in ihren dunklen Flauschmantel eingehüllt, den Kopf unbedeckt, mit Fäden von Mondlicht in dem dichten goldblonden Haar, war die Spannung des Tages in seinem Innern durchgebrochen und staute sich in seinem Blut, weil ein Ausweg noch fehlte. Warum war Nele noch einmal auf das Brieflein zurückgekommen? Wollte sie ihn fühlen lassen, daß er Macht über sie hatte – und wußte sie doch selbst nicht, daß sie es tat? Oder wußte sie, was sie tat, und wollte erproben, ob er gesonnen 329 war, von seiner Macht auch Gebrauch zu machen? – Valär spürte am Kommen und Gehn dieser Fragen, daß die schöne Unbefangenheit seiner Jugendjahre dahin war. Er hatte wieder Durst nach der Zukunft, wie einst, Durst nach dem Unbekannten, Durst, etwas in seinen Besitz zu bringen, was er nicht besaß, und er gab diesem Durst nach. Gleichzeitig aber war ihm zu Mut, als habe ihn eine unsichtbare Strömung abseits getragen, an einen Ort, der voller tückischer Wirbel war. Und doch war es schön, sich der Strömung zu überlassen.

Nein, so ging es nicht weiter!

Valär nahm das Paket, das er bei sich hatte, unter den andern Arm und sagte:

»Habt ihr im Seeland auch Schnee?«

»Schnee? Wir?« – Nele war mit ihren Gedanken offenbar woanders gewesen, ging aber sofort auf die Frage ein. »Nein, als ich reiste, war keiner da«, sagte sie eifrig. »Die Jurahöhen, ja, die sind weiß, schon seit einer Weile. Aber das meiste ist Reif aus der Nebelzeit«, antwortete sie. »Unten hatten wir trocken und mäßige Kälte. Vorgestern haben wir noch Bäume geputzt.«

»Herrje! . . . Bäume geputzt?«

Es belustigte sie, daß er die einzelnen Silben der beiden Worte so überrascht dehnte.

»Aber ja!«

»Hohe richtige Bäume?«

»Hochstämme, Spaliere und Hochspaliere – was kommt.« Eigentlich hätten sie erst nach Neujahr damit anfangen wollen. Aber der Sturm auf blühende Topfpflanzen für den Weihnachtsmarkt der Großstädte habe so zeitig eingesetzt, daß sie mit dem Versand ihrer Vorräte viel früher fertig geworden wären, als vorgesehen gewesen war. Großartige Geschäfte hätten sie diesmal gemacht. Alle Gewächshäuser seien leer. Sie hatten plötzlich nichts mehr zu tun und konnten sofort an die Bäume gehen.

Bisher habe er Baumschneiden zur Männerarbeit gezählt, sagte Valär.

Es sei Hosenarbeit, erwiderte Nele. Ziehe eine Frau Hosen an, so sei sie dazu ebenso privilegiert wie der Mann. Manchmal 330 könne man sich allerdings hintennach vor Muskelkater kaum mehr verroden. Aber die Arbeit als solche sei sehr unterhaltend. Wenn man die passenden Leitern und die passenden Werkzeuge habe, und wenn man die Bäume liebe, mache sie sehr viel Spaß. Natürlich müsse man auch klettern können und dürfe nicht vor jedem Regentropfen davonlaufen wollen. Aber in seinem Overall sei man ja sehr gut versorgt. Seit sie auf der Schule sei, sei sie noch nicht ein einziges Mal erkältet gewesen.

Sie plauderte weiter von ihrem Betrieb. Daß sie zuhause durchgebrannt war, schien sie im Eifer vergessen zu haben.

»Hast du auch schon Frau Doktor Streiffs neues Haus gesehen?« fragte Valär.

»Ja, denken Sie, Herr Valär, heute früh hat sie mich mitgenommen. Mitten im Schneegestöber sind wir hinaufgegangen, und sie hat mir alles gezeigt. Und das viele, viele Land, das sie gekauft hat, hat sie mir auch gezeigt. Ueberall sind wir herumgestampft. Hui, dieser Wind auf der Höhe! Auch einen Fuchs haben wir gesehen. Sicher hat er Hunger gehabt. Daheim habe ich nachher Mandelherzen gebacken. Aber das Haus wird wirklich schön. Gerade waren die Handwerksleute am Bodenlegen. Frau Doktor sagt, daß es bis zum Frühling fertig sein werde, und daß man dann mit der Gartenanlage beginnen kann.«

Wie jauchzend das Mädchen mit einemmal sprach! Ueber Stock und Stein war die Fahrt ihres Geplauders in immer schnellerem Tempo dahingegangen und schließlich mit hörbarem Bremsruck beim letzten Satz, wie am vorgehabten Ziele, gelandet. Vor lauter Aufregung schoß Nele jetzt auch noch ihre Hand wie beim Boxen mitten in eine Hecke hinein und riß allen Schnee von den Zweigen.

Valär begann etwas zu ahnen.

»Die Gartenanlage – die machst dann du?« fragte er.

Nele zuckte ein wenig zusammen bei seiner Frage. Sie schwankte ganz leicht zur Seite und schien sich mit den Augen nicht mehr trennen zu können von dem Abdruck ihres Fußes, der in dem unberührten Schnee hinterblieb, als sie den Fuß langsam wieder herauszog.

Nein, davon könne gar keine Rede sein, sagte sie schließlich. 331 Einer solchen Aufgabe sei sie noch nicht gewachsen. Heute morgen zum Beispiel sei sie ganz verzweifelt zwischen all diesen Haufen von Bodenaushub, Balken, Brettern und Steinen herumgestanden und habe das Gefühl gehabt, daß eine solche Wüstenei ja niemals wieder in Ordnung komme. Aber Herr Zünd habe sie getröstet. Und nun stehe es so, daß sie an Ostern heimkehren werde, und dann dürfe sie Herrn Zünd bei der Gestaltung der Anlage helfen.

An Ostern! . . . Valärs Herz wurde weit und wollte sich nicht mehr zusammenziehen, eine so nervöse und heiße Freude stieg in ihm auf, als er das hörte. Erst vor ein paar Tagen hatte ihm Dinah erklärt, daß sie an Ostern in eine Haushaltungsschule in Morges am Genfersee eintreten werde. Die Donnerstagsessen hörten dann auf – etwas Liebgewohntes verschwand aus seinem Leben. Dafür kündete Nele jetzt ihre Rückkehr an. Ostern! . . . Herrgott, wie bald schon war Ostern! Wenn jetzt nur die Deutschen den Bogen mit Oesterreich nicht überspannten! Sonst gäbe es möglicherweise Krieg, und was aus Ostern dann würde, das wußte niemand.

»Gehen wir rechts oder links?« fragte Nele. Sie war an einer Wegscheide stehengeblieben und blickte ihn erwartungsvoll an. Denn er rührte sich nicht. – Wo war er?

Valär trat auf sie zu und schob seinen Arm durch den ihren. »Komm!« sagte er nur. – War das seine Antwort auf ihre Mitteilung, daß sie an Ostern heimkommen werde? . . . Nele erschauerte leicht bei diesem Gedanken, und willig schloß sie sich ihm an.

Sie stiegen weiter bergan. Der Weg wurde schmäler, der Schnee knirschte leicht. Eine Spur kam ihnen entgegen, eine Doppelspur lief von ihnen weg. Sonst war der Schnee unberührt. Manchmal war er zusammengeweht, und dann sank der Fuß tiefer ein, ein andermal war er fortgeblasen vom Wind. Nirgends fehlte er ganz. Ringsum war freies Feld, locker mit Bäumen bestanden. Sie sprachen nicht. Dampfend zog ihr Atem davon in die mondige Weite.

Nach einer Weile sagte Valär, und abermals floß ein starker Wärmestrom durch ihn hin: 332

»Kind, ich freue mich, daß du an Ostern heimkehren wirst. Aber du darfst nicht glauben, daß ich darüber die andern, von dir schon empfangenen Freuden vergessen habe. Schon viele Freuden hast du mir gemacht!«

Nele schluckte. »Viele –?« fragte sie beinahe atemlos.

»Von der ersten weißt du gar nichts. Damals haben wir uns noch überhaupt nicht gekannt.«

Und er erzählte ihr von dem Vorfrühlingsabend, bei dem Steinbruch, nicht sehr weit vom Schwedenhäuschen, wo sie in der Wiese gesessen war zwischen Gänseblümchen, eine Naturerscheinung wie diese.

»So, also das waren Sie! . . . Na, ich merkte plötzlich nur, daß jemand da war, und ich bin erschrocken davongelaufen.«

»Später bist du mir begegnet im Wald. Deine Beine waren zerkratzt, und am Gürtel hing dir ein Körbchen, das voller Himbeeren war. Du hast es mir hingehalten, als wärst du selber der Strauch, an dem sie gewachsen sind, und hast gesagt: ›Bitte, nehmen Sie doch!‹«

»Oh, hat Ihnen das solchen Eindruck gemacht?« – Sie blickte ihn neugierig an, ein wenig verständnislos und doch auch geschmeichelt.

»Du hast mir den Mörderbock tragen helfen. Das ist die dritte Freude.«

»Ach ja, an den hab' ich schon manchmal gedacht. Und an unser Gespräch von damals auch. Ich bin ganz aufgeregt nach Hause gekommen.

»Fast ein Jahr später haben wir zusammen zu Mittag gegessen – erinnerst du dich?« sagte Valär. »Damals hast du dich mir zuliebe bemüht, im Wein eine Gottesgabe zu sehen, die man lachend trinkt, obgleich er dir widerstand.«

»Ja, das war schön, wie wir damals beisammen waren«, bestätigte sie. »Nachher haben Sie mir dann das herrliche Buch gekauft.«

»Das war die vierte Freude.«

»Gibt's noch eine fünfte?« fragte sie beinahe übermütig.

»Die fünfte und sechste kommen zusammen.«

»Da bin ich aber gespannt!« 333

»Du hast mir ein Brieflein geschrieben, und vorhin hast du gesagt: ›Da bin ich also‹.«

»Das ist überschätzt, Herr Valär«, lachte sie. »Das zählt höchstens für eins.«

»Ich zähl' es für zwei, und alles zusammen zähl' ich für vieles«, erwiderte er. »Aber das Wunderbarste ist doch, daß du nun noch eine Freude hast, die erst kommt!«

Nele war plötzlich verstummt. Aber er fühlte, wie sie schwerer wurde in seinem Arm und wie ihr Körper ein wenig mehr an ihn hinsank.

»Freust du dich auch auf die Heimkehr an Ostern?« fragte er leise.

Nele sagte gerührt:

»Ich freue mich vor allem, daß Sie sich so freuen! Und daß Sie es nicht schon vorher von andern erfahren haben, sondern jetzt erst persönlich von mir, das freut mich fast noch am meisten.«

Oh, daß er es auf andern Wegen erfahren hätte, versetzte Valär, dafür sei keine große Gefahr vorhanden gewesen. Er sehe Frau Doktor Streiff nicht mehr so oft. Sie habe sich von ihm zurückgezogen.

Nele horchte auf. Sie schritt nicht mehr so kräftig aus. Sie wurde nachdenklicher, zögernder und sagte schließlich, beinahe betrübt:

»Mich hat es ja auch gewundert, daß sie ihr Haus nicht von Ihnen hat bauen lassen. Ich habe auch ein wenig darum herumgeredet. Aber sie sagte nur, Sie seien mit großen Aufträgen so überlastet, daß man Ihnen nicht auch noch mit einer derartigen Kleinigkeit kommen dürfe.« – Und mit einem Seitenblick, den er fühlte, aber nicht sah: »Ist es wahr, daß Frau Doktor Streiff einmal Ihre Verlobte war?«

Es war ihm lieb, daß sie das fragte. Er begriff nicht, warum. Aber jetzt, wo sie ihm so nahe war, daß jede ihrer Bewegungen und jede Stimmungsschwankung sich körperlich auf ihn übertrug, jetzt war es ihm recht, daß auch das zwischen ihnen ins reine kam.

»Hat sie das behauptet?« fragte er stehenbleibend und blickte plötzlich angestrengt in der Richtung, in der sie gingen. 334

Auch Nele schien jetzt zu bemerken, daß ihnen jemand entgegenkam, Es schien ein Spaziergänger zu sein, der einen Schneebummel machte – Valär hatte ihn schon seit einer Weile verfolgt. Ab und zu blieb jener stehen, dann ging er weiter. Valär sah gut, daß Nele ebenfalls in der gleichen Richtung blickte wie er. Aber es schien ihr gar nichts auszumachen, daß da jemand kam, der sehen konnte, wie sie am Arm eines Mannes durch die Mondnacht daherkam.

»Nein, der junge Herr Streiff hat es gesagt«, antwortete Nele. »Er ist heute mittag auf Urlaub gekommen, aus der Unteroffiziersschule oder wie man das nennt. Ich habe ihm aber bedeutet, daß ich es gar nicht liebe, wenn von seiner Mutter und Ihnen in dieser Weise gesprochen wird, nur um mich zu verkohlen.«

Vielleicht hatte Nele bis dahin wirklich geglaubt, daß der junge Streiff sich mit ihr einen Scherz erlaubt habe. Aber ganz sicher mochte sie doch nicht gewesen sein. Nun ließ ein Blick auf Valär sie noch unsicherer werden. Er sah es ihr an.

»Und wenn er die Wahrheit gesprochen hätte? Könnte es nicht den Jahren nach sein?«

»Doch«, sagte Nele betreten.

»Es ist, wie er sagte«, versetzte Valär. »In meinem früheren Leben bin ich mit ihr verlobt gewesen. Dergleichen kommt vor. Aber als es ernst und gefährlich wurde, verlor sie den Mut. Eine böse Absicht war nicht dabei, als sie mich sitzen ließ. Sie fand nur, daß sie es sich leisten könne, uns beide den Wünschen ihres Vaters zu opfern. Aber das ist vorbei, und nun wollen wir nie mehr davon sprechen.«

»Oh –!« entfuhr es Nele.

Mit einem Ruck blieb Valär abermals stehen:

»Halt . . . da wir doch von ihr sprechen: – weiß Frau Doktor Streiff schon, daß sie ein Brüderchen hat?«

Nele begriff nichts.

»Hat sie dir nichts davon gesagt?«

»Frau Doktor hat nie über ihre Familie mit mir gesprochen. Sie hat mir einmal erzählt, daß ihr Vater wieder geheiratet habe, und vor einer Weile hat sie mir geschrieben, daß er gestorben sei.«

»Sie hat seit gestern ein kleines Brüderchen. Heute früh bekam 335 ich ein Telegramm. Ihr Vater hat mich testamentarisch zum Vormund des Kindes eingesetzt. Deswegen ist es mir mitgeteilt worden. Es ist möglich, daß sie noch nichts davon weiß. Du wirst ihr aber doch sagen müssen, wo du gewesen bist, und dann kannst du ihr melden, ich hätte es dir erzählt und dich gebeten, es ihr zu berichten.«

Trotz seiner Inanspruchnahme durch die Antwort an Nele hatte Valär Zeit gehabt, zu bemerken, daß der nächtliche Spaziergänger sein Tempo beschleunigte, als er in ihre Nähe kam. Zuletzt hatte sich jener in Trab gesetzt, und nun sprang er an ihnen vorüber. Er zog grüßend den Hut, blieb aber stumm dabei; sein Mantel flog, und kaum war er vorbei, da begann er zu pfeifen, genau so falsch wie Dr. Streiff. Es schien ein flotter junger Mann gewesen zu sein, aber Valär kannte ihn nicht. Auch Nele hatte er den Gruß nicht erwidern hören. Gesenkten Hauptes ging sie neben ihm her, den Mund fest geschlossen; ihr Atem blies in regelmäßigen dampfenden Stößen gegen die Brust, und es war nicht zu erraten, wo sie mit ihren Gedanken jetzt weilte. Trotzdem hatte Valär nicht das Gefühl, daß der Kontakt zwischen ihm und ihr sich gelockert habe durch das, was er ihr soeben anvertraut hatte. Einmal spürte er sogar einen kurzen heftigen Druck ihres Armes. Aber das hinderte nicht, daß ihm mit einemmal seine ganze jetzige Lage abermals recht unwirklich vorkam: so, wie man im Traum plötzlich weiß, daß man träumt, und ist doch nicht imstand, von dem Traumstoff sich loszureißen und zu erwachen.

Schließlich weckte Nele ihn auf. Sie sagte mit bekümmertem Mund:

»Herr Valär, mir ist manchmal recht bang. Ich bezweifle dann plötzlich, ob meine Vorfreude auf das kommende Jahr wirklich angebracht ist. Manchmal vergißt man es ja. Aber mit einemmal, mitten im schönsten Augenblick, kommt alles wieder.«

»Was kommt wieder?«

»Zweifel, die Traurigkeit. Ueberall hört man, daß die Deutschen nächstens Krieg machen werden. Ich kann das gar nicht verstehen. Mit Kriegen macht man doch keine besseren Menschen. Und glücklicher werden sie auch nicht davon.« 336

Davon hatte Valär an diesem Abend nicht sprechen wollen. Es hätte ihm vollkommen genügt, daß der Gedanke an den Krieg vorhin schon ihn selber ein wenig beunruhigt hatte. Aber Nele sah wieder einmal so verloren und des Schutzes bedürftig aus, daß sie ihn erbarmte. Und als er nun nachzuforschen begann, was und wer ihr den Kriegsschrecken eingejagt hatte, stellte es sich heraus, daß die Mädchen in ihrer Schule auch heftig politisierten, und daß dann Nele immer die Unterliegende war. Ein Mädchen aus Oesterreich sei ganz schwermütig vor Angst, weil sie überzeugt sei, daß die Deutschen ihr Vaterland bei erster Gelegenheit fressen würden. Aber ihr Vater sei kaiserlich und adelig und Exzellenz und sage, lieber gehe er ins Exil und nage am Hungertuch, als daß er »Heil Hitler« sage. Nie mehr könne sie dann in ihre Heimat zurück, und das sei für sie das Schlimmste. Ein anderes Mädchen sage, wenn die Deutschen Oesterreich zu fressen wagten, so würden sie keine Freude erleben an ihrem Raub. Denn alle Staaten Europas würden sich einmütig gegen die Friedensstörer erheben und würden nicht ruhen, bis ihnen die Klauen geschnitten sind; das Lebensrecht der Kleinen sei ebenso groß und heilig wie das der Großen. Ein drittes Mädchen nenne das alles leeres Geschwätz. Erstens seien sämtliche Staaten Europas ja gar nicht unter sich einig, und selbst wenn sie es wären, seien sie gar nicht so stark, daß sie Deutschland etwas anhaben könnten. Außerdem könne von Raub gar keine Rede sein. Schon im Herbst habe ihr Vater nach seiner Rückkehr von einer Reise durch Oesterreich erklärt, daß Oesterreich anschlußreif sei; nur die Barone, Tschechen und Juden seien mit Händen und Füßen dagegen. Ueberhaupt passe Oesterreich mit seiner Gemütlichkeitsschlamperei und seiner Dreimäderlhaussüßigkeit schon längst nicht mehr in die heutige Zeit, und es könne Europa nichts Besseres geschehen, als daß es von der Landkarte verschwinde: ob geräuschlos oder mit Krach sei ganz einerlei. Wieder ein anderes Mädchen sei Kommunistin und sage: Nur her mit dem Krieg, die jetzigen Herren der Welt sollten sich nur gegenseitig zur Ader lassen, bis bloß noch Weißes kommt. Wenn dann alle miteinander, grün im Gesicht, am Boden lägen, komme die große kommunistische Weltrevolution und bringe 337 den Menschen alles, um was man sie bisher betrogen habe. Auch auf der Herfahrt, im Zug, hätten die Leute vom Krieg gesprochen. Ein Mann habe sogar behauptet, daß bei der jetzigen dicken Luft ein Krieg nur ein Segen sein könnte. »Aber dieser Mann hatte sofort alle gegen sich«, sagte Nele.

»Auch dich?« fragte Valär.

Ach, sie habe sich nur elend und ratlos gefühlt, denn sie habe überhaupt nicht begriffen, was er habe sagen wollen. Genau ebenso ergehe es ihr bei den Disputen der Mädchen. Nun habe sich ihr das Leben, sie könne sagen: seit anderthalb Jahren, zum erstenmal von seiner aussichtsreichen und freundlichen Seite gezeigt. Sie habe zu ihm Vertrauen gefaßt und Vertrauen auch zu sich selber. Plötzlich träten von überallher diese Gespenster auf und verlangten wichtig genommen zu werden, ebenso wichtig wie das, was schön ist und gut. Davon werde ihr geradezu übel.

Valär versuchte Nele zu trösten. Sie sei sich offenbar noch nicht darüber klar geworden, daß das Uebel ein ebenso notwendiger Bestandteil des Weltganzen sei wie das Gute. Man könne das auch nicht von ihr verlangen. Trotzdem leuchte es ihr vielleicht ein, daß ihrem eigenen Leben jede innere Spannung fehlen würde, wenn es nicht zwischen Gut und Böse freischwebend aufgehängt wäre, und sie nicht die Möglichkeit hätte, zwischen diesen beiden Polen ruhelos hin und her zu schwingen, bald von dunklen Kräften getrieben, bald frei gewollt. Mit dem Leben der Völker sei es nicht anders. Sie schliefen ja ein, würde nicht von Zeit zu Zeit von einem unerbittlichen Kopf eine unerbittliche Idee unter die Menschen geworfen, um die dann gekämpft werde wie um das Halstuch der Königin in der Ballade. Auch jetzt, scheine ihm, solle wieder einmal um Großes gerungen werden. Was der einen Völkergruppe nun aber als das Ideal einer künftigen gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung erscheine und von ihr als das Gute verkündet werde, das werde von den andern als das Böse in Acht und Bann getan. So entstünden unversöhnliche Gegensätze. Das einzige Mittel, um die Spannung zwischen diesen Gegensätzen zum Ausgleich zu bringen, sei nun aber der Krieg, und deswegen werde der Krieg ja wohl auch kommen. Kriege 338 seien grausam und für viele der Untergang, daran sei nicht zu zweifeln. Sie seien auch bestimmt nicht das Mittel, um ein Menschengeschlecht von edlerer Art heraufzuführen, darin habe sie vollkommen recht. Zum Beispiel sei es ganz unsoldatisch und hundsgemein, die Zivilbevölkerung hinter den Fronten mit Luftbomben zu überfallen, wie es im spanischen Bürgerkrieg jetzt täglich geschehe. Aber selbst im entsetzlichsten Krieg trete der Schrecken nicht ausschließlich Arm in Arm mit dem Schrecken an, wie sie zu glauben scheine. Auch die Tugend sei mit dabei; auch das Gute marschiere mit, in Reih und Glied mit dem Schlimmsten. Denn kein Waffentragender kämpfe für seine eigene Sache. Jeder kämpfe für eine Nachwelt, die er nicht kennt, und an die er doch glaubt, weil es ihm unmöglich ist, seine eigene Zeit für die Erfüllung aller Zeiten zu halten. Das adle selbst noch den barbarischsten Krieg und alle Greuel, die in einem Kriege geschehen. – »Willst du dir das einmal überlegen?«

»Ja«, sagte Nele.

»Gut!« sagte Valär. »Außerdem darfst du dann auch daran denken, daß der Mensch ja nicht die Welt ist. Auch die Felder und Vögel, die Sterne und deine Gärten sind da, und die singen und blühen trotzdem in ganzer Pracht weiter.«

»Gewiß«, entgegnete Nele. Aber hinterher kam ein Seufzer.

 

Das Schwedenhäuschen war nur noch wenige Meter von ihnen entfernt. Valärs Weg bog rechts ab und stieg weiter bergan. An der Abzweigung blieb er stehen und ließ Nele los. Im Haus war Licht. Der Kamin rauchte. Ein schimmerndes Lächeln huschte über Neles Gesicht.

»Und am Abend ist die Sonne verbraucht und wird in Stücke geklopft«, dachte Nele, während ihr Blick über das Hausdach hinweg in den mondigen Himmel flog. »Die Stücke werden an den Himmel gehängt; das sind der Mond und die Sterne. Das Aufhängen wird von jungen Mädchen besorgt, und sie lachen dazu. In der Nacht schmieden die Junggesellen dann eine neue Sonne und blasen sie in die Höhe . . .« 339

Herrje! Hatte sie das einmal gelesen? Hatte sie es in diesem Augenblick selber erdacht? Jedenfalls gefiel es ihr. Wieder rieb sie die Wangen an den Schnauben des Mantelkragens. Ihr Mund stand hinter einem breiter werdenden Lächeln halb offen.

Valär hatte das Paket nicht mehr unter dem Arm. Er hatte es an seinen Enden mit beiden Händen gefaßt und hielt es so, unterhalb der Brust, vor sich hin. Er sagte zu Nele:

»Ich werde dich nun nicht mehr sehen, bevor du ganz zu uns zurückgekehrt bist.« Seine Zeit erlaube es nicht. Er habe in der Offiziersgesellschaft nächstens einen Vortrag zu halten. Was ihm, nach Abzug gewisser Verpflichtungen, die schon seit vielen Jahren ein lieber Bestandteil seines Weihnachtsfests seien, von den Feiertagen noch übrig bleibe, müsse er zur Vorbereitung dieses Vortrags verwenden, ja, leider.

»Natürlich«, stieß Nele hervor. Aber ihre Munterkeit war dahin.

Es freute ihn, daß sie bei seiner Eröffnung ein wenig traurig wurde. Aber es lag auch in seiner Macht, ihr eine kleine Entschädigung anzubieten für ihren Schmerz, und das freute ihn fast noch mehr. »Und nun gib deine Hände«, sagte er und reichte ihr das Paket.

»Für mich?« fragte sie zögernd und doch plötzlich übergossen von Blut und von Jubel.

»Leg es dir unter den Weihnachtsbaum. Es ist fast nichts. Aber vielleicht wird es dir ebenfalls ein wenig helfen.« – Damit zog er den Hut und reichte Nele die Hand. Er drückte sie, kräftig und kurz, ließ sie los und schickte sich an, eilig weiterzugehen. Denn ein Pferdefuhrwerk, das klappernde Milchkannen auf dem Wagen hatte, kam im Trab gerade des Weges.

Nele jedoch hielt ihn fest. Sie sagte nichts, aber sie nahm das Fuhrwerk zum Anlaß, um ihn am Arm auf die Seite zu ziehen und neben ihm so weit gegen den Straßengraben zurückzutreten, als es nur ging. Auch als das schnaubende Roß und der klappernde Wagen vorüber waren, rührte sie sich nicht von der Stelle. Sie hielt ihn weiterhin am Rockärmel fest, als wäre der Weg noch immer nicht frei, und blickte nach dem Paket, das sie mit halb ausgestrecktem Arm vor sich hin hielt. Plötzlich schaute sie ihm 340 ins Gesicht, ließ ihn los, sprang mit einem langen Schritt auf die Straße und sagte:

»Ich ziehe dann also mein Sonntagskleid an, und niemand darf zusehen, wenn ich das Paket öffne.«

Gleichzeitig zog sie schnell etwas aus ihrer Manteltasche hervor und hielt es ihm hin. Das Gesicht wandte sie weg, als wagte sie es nicht, ihn noch länger anzublicken.

»Für mich?« fragte Valär, wie vorhin sie ihn, während er das Päckchen entgegennahm und es neugierig vor die Augen hielt, um zu erkennen, was es wohl wäre.

»Nicht –« flehte Nele und wollte ihre Hand schützend über die Hülle legen; da ging diese von selber auf, und aus dem dünnen Seidenpapierchen kam etwas Braunes und Hartes hervor, das sofort auseinanderfiel: es waren drei Stückchen Weihnachtsgebäck, drei kleine duftende Mandelherzen.

Valär hielt Neles Hand fest, führte sie langsam zu seinem Gesicht empor und legte sie auf seine Wange. Das war sein Dank. Dann sagte er in lustigem Ton, die von ihr gebrauchte Redewendung ins Männliche variierend:

»Wenn ich daheim bin, lege ich meine Uniform an und salutiere, bevor ich sie esse.«

Nach dieser Quittung für ihre Heldentat gab es für Nele kein Halten mehr. Wie ein fliehendes Reh lief sie auf ihren langen Beinen in großen Sprüngen davon. Unter dem Gartentor hob sie noch einmal den Arm und winkte.

 


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