Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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LI.

Der Krieg zwischen Deutschland und Polen war ausgebrochen. Manche wollten wissen, daß es nur einen kurzen Waffengang gäbe, der mit einem allgemeinen Schuldentilgungskongreß der europäischen Staatsmänner endigen werde, und daß mit der schnellen Rückkehr von Behaglichkeit und Sicherheit für alle zu rechnen sei. Andere behaupteten, daß der längst angesagte Germanenzug nach Osten mit diesem Vorstoß nur seinen ersten Schritt gemacht habe, und daß das geographisch begrenzte Ereignis nur das turbulente Vorspiel zu einer so unabsehbaren Folge von blutigen Auseinandersetzungen bilden werde, daß vielleicht hundert Jahre und mehr bis zum Abschluß des tragischen Hauptstücks verstreichen könnten. Jedenfalls starrte Europa von einem Tag auf den andern in Waffen, von denen viele zum erstenmal erprobt werden sollten, und selbst jene, die sich für gut gerüstet gehalten hatten, waren plötzlich besorgt, ob nicht der Gegner über noch gefährlichere Kriegsmaschinen verfüge.

Da Deutschland vom Tag seines Einmarschs in Polen an auch mit England und Frankreich im Kriege lag, während Italien hinter dem Achsenpartner eine undurchsichtige Lauerstellung bezog, war die Schweiz mit einem Schlag allseits eingeschlossen von Streit, und auch sie mobilisierte ihr Heer, um wenigstens die Grenzen zu sichern und die Hauptdurchzugsstraßen von einem der wildgewordenen Länder zum andern zu verriegeln. Man stand nicht unter der Drohung einer bestimmten oder unmittelbaren Gefahr. Aber die Sorge um das, was man zu verteidigen hatte, weil man es zu wahren entschlossen war, gebot, daß man sich vorsah.

Für Valär bedeutete das, daß auch er den Waffenrock wieder anziehen mußte, diesmal aber unter ganz andern Vorzeichen als in seinem bisherigen Leben. Denn der Ernstfall, auf den seine ganze bisherige Soldatenzeit nur unerprobte Vorbereitung gewesen war, hatte sich eingestellt, und es war nicht abzusehen, wann er in seinen Zivilberuf würde wieder zurückkehren können, und in welchem Zustand er und das Heimatland und die übrige Welt sich befänden, wenn das geschah. 487

Er war auf diese Stunde längst vorbereitet gewesen. Sie machte ihn ernst, aber sie verwirrte ihn nicht. Die Leitung seiner Architekturwerkstatt übergab er einem Mann, auf den er sich in allen Stücken verlassen konnte. Es war das sein Bürovorsteher Hauri. Er stattete ihn nach dem bereits vereinbarten Plan mit allen nötigen Vollmachten aus. Die Sorge für sein Wochenendhaus, das weiterhin Seline anvertraut blieb, und den Garten legte er in Elmenreichs Hände. Dieser übernahm die Verantwortung. Die wirkliche Arbeit und Kontrolle übernahm Dinah.

 

Dinah half Valär auch beim Heraussuchen und Verpacken der wenigen Gegenstände, die auf Grund einer längst angefertigten Liste aus dem Inventar seines Wochenendhauses mit ins Feldgepäck kommen sollten. Bei dieser Gelegenheit nahm sie auch die Schlüssel für gewisse Schränke und Fächer, die Seline nicht zugänglich waren, nebst den nötigen Unterweisungen über deren Inhalt aus seiner Hand entgegen.

Dinah war von so viel Vertrauen zu ihr gerührt, aber noch mehr gerührt war in dieser Stunde eines ungewissen Abschieds von Dingen, die ihm teuer waren, Valär über die Rücksicht, die sie ihm nach seiner verunglückten Liebschaft mit Nele hatte zuteil werden lassen, und die sie auch jetzt wieder walten ließ. Ja erst jetzt ward er inne, daß dieses zarte Sichbeiseitestellen und dennoch tätige Zugegensein nur die Fortsetzung einer Haltung war, die Dinah während der ganzen Zeit seines intimeren Umgangs mit Nele, scheinbar ohne Vorsatz und Zwang, ihm gegenüber durchgeführt hatte.

Denn seine Beziehungen zu Nele waren im Hause Elmenreich keineswegs unbeachtet geblieben. Sie waren auch nicht so leicht genommen worden, daß man nicht da und dort einmal darüber gesprochen hätte. Man hatte sie schon darum nicht übergehen können, weil er weniger Zeit für Besuche fand und sich auch nicht mehr so leicht zu einer kleinen familiären Veranstaltung einladen ließ. Trotzdem waren Dinah und er durch das alte Gleichmaß herzlicher Zuneigung miteinander verbunden geblieben, und nur ein einziges Mal hatte sie ihm eine Szene gemacht. 488

Nele hatte von einem ehemaligen Sanatoriumsgast für Rosas Garten ein paar Körbe voll ausgesucht schöner Alpenrosenstöcke geschickt bekommen, und zwar von jener auch im Tiefland gedeihenden Standortsform, die in der Kastanienwaldzone des Tessin, vorwiegend in der Nähe seiner Seen, bis herunter auf Meereshöhen von 250 Meter gefunden wird. Aber es waren ihrer zu viele gewesen. Nele hatte daher den überschüssigen Rest in Valärs Garten unter dem Schutz einer Birken- und Roterlengruppe angepflanzt. Sie bezweifelte, daß die Pflanzen sich in diesem Klima halten könnten. Denn Alpenrosen ertragen Spätfröste schlecht, und vor ihnen war man keineswegs in jedem Jahr sicher.

Dinah sah die Gruppe, und als sie hörte, woher er sie hatte, und von wem die Pflanzen gesetzt worden waren, machte sie einen Buckel wie eine wütende Katze, ging hin und riß eine der Pflanzen um die andere aus. Als sie alle entwurzelt am Boden lagen, schämte sie sich ihres Tuns und pflanzte sie wieder ein. Als die Gruppe wieder in Ordnung war, trug sie das Gartengeschirr still an seinen gewohnten Ort und sagte zu Valär, der dies alles schweigend mitangeschaut hatte:

»Mann, guck mich nicht an, als ob ich zurücktreten wollte, bloß weil dir mit dieser Australierin augenblicklich so gut geholfen ist, daß du meinst, du müßtest sie zu deinem Glück unbedingt haben. Ich habe gar nicht die Absicht zurückzutreten, solange ich nicht finde, daß du meiner unwürdig bist. Dafür aber wirst du schon selber sorgen, daß es nie dahin kommt. Ich sage dir das, damit du ganz genau weißt, wie du mit mir daran bist.«

Nach diesem Auftritt war sie in die Küche gegangen, die Borsten immer noch sträubend, und hatte den Tee gemacht. Sie war auch zu diesem Tee dageblieben. Aber als der Tee zu Ende war, gingen ihr die Nerven ein zweites Mal durch.

Valär war ins Zimmer gegangen und hatte sich eine extra gute Zigarre geholt, eine jener von einem überseeischen Verwandten Nanys stammenden Havannazigarren, von denen er regelmäßig sein Teil bekam, wenn wieder eine Sendung für Elmenreich eintraf. Dinah kannte diese Zigarren – das jetzt angebrochene Kistchen hatte sie ihm persönlich gebracht. Als er mit der Zigarre 489 zurückkam, merkte er, daß er keinen Abschneider hatte, und legte die Zigarre auf den Tisch, um im Zimmer auch ein Messer zu holen. Sofort packte Dinah zu und drehte die Zigarre kaputt, mit einem Griff, als wolle sie einer Taube den Hals abdrehen. Dazu lachte sie – es war ein fauchendes, kurzes, kindlich brutales Freudenlachen darüber, daß sie ihm etwas Liebes zerstörte. War sie immer noch eifersüchtig, weil er seine Aufmerksamkeit neben ihr auch noch etwas anderem schenkte? – Die Handlung gehörte ins Gebiet der schlechten Manieren, soviel stand fest, und Valär sagte ihr das auch durch einen Blick. Gleichzeitig ging er zum zweitenmal ins Zimmer, und nun brachte er das ganze Kistchen mit und stellte es offen auf den Tisch: – sie sollte sehen, daß ihm ihr Ueberfall gar nichts ausmachte; er hatte noch viele von diesen ausgesucht guten Zigarren – bitte, mein Fräulein, greifen Sie zu und versuchen Sie Ihr Mütchen zu kühlen.

Diese Unbestürzbarkeit wirkte, ohne daß er ein Wort hätte sagen müssen. Dinah hing plötzlich den Kopf und sagte ganz zahm:

»Komm her und hau mir eine 'runter, sonst tu ich es selbst! . . . Ich habe noch immer kein Talent zur wirklichen Dame.«

Seit Dinah die Gehilfin ihres Vaters war, war etwas Aehnliches nicht mehr geschehen. Sie hatte in diesen Sprechstunden eine so reiche Erfahrung über das vielfältige Antlitz der Leidenschaften und ihr janusköpfiges Wesen gesammelt und wußte so gut darüber Bescheid, daß seelisches Leid die Menschen viel grausamer verkrümmen konnte als die qualvollsten körperlichen Schmerzen, die sich ausdenken ließen, daß sie Valär nie mehr aufsässig wurde. Sie ließ ihn nicht aus den Augen, das wußte er. Auch von ihren erworbenen Rechten gab sie kein einziges preis. Aber sie machte von ihnen nur äußerst sparsam Gebrauch und vermied alles, was er als einen Einmischungsversuch in seine Beziehungen zu Nele hätte auffassen können oder nur als einen Versuch, diese Beziehungen zu erforschen. Dennoch schien sie, wie ein sehr empfindliches Barometer, alle Druckschwankungen dieses Verhältnisses herauszufühlen und automatisch zu registrieren.

Valär brauchte ihr denn auch gar nichts über die Krise seiner 490 Beziehungen zu Nele und den Ausgang dieser Krise zu sagen. Sie konnte es ihm am Gesicht ablesen, daß er in eine Niederlage hineinmarschiert war. Aber die Niederlage hatte ihm auch die Freiheit gebracht, und darüber frohlockte sie. Dinah sah es ihm an, daß er diese Freiheit einstweilen kaum fühlte. Jedenfalls machte er sich vorläufig nichts aus ihr, sondern war hilflos und still, manchmal in fast furchterregender Art, oder war in einer betrübten Weise zerstreut. Um so mehr strengte sie sich an, ihn auf den Geschmack seiner wiedererlangten Freiheit zu bringen und ihn aufzumuntern zu ihrem Gebrauch und Genuß.

Nicht ein einziges Mal bekam Valär das Mädchen in dieser für ihn so widrigen Zeit mit triumphierenden Mienen zu sehen. Dinah lächelte nicht überlegen, sie spreizte sich nicht und sie blickte ihn auch nicht mitleidvoll an. Sie war nur wieder näher bei ihm, ließ ihn fühlen, daß sie zu ihm hielt, daß er nicht einsam war oder im Stich gelassen, und das tat ihm wohl.

Denn seine Tage waren von schwermütigen Heimsuchungen nicht frei, und manchmal deckte der Kummer ihn zu wie Flugsand die Dünen. Wenn er im Restaurant saß, bei seinem Abendessen, und eines der ihm bekannten Mädchen die Speisen auftrug, konnte es mehr als einmal geschehen, daß er größte Lust hatte, alles liegen und stehen zu lassen, aufzustehen und fortzugehen, und daß er sich zwingen mußte, es nicht zu tun, sondern ruhig sitzen zu bleiben und zuzugreifen. Wenn ein Bekannter kam und sich zu ihm setzte, war ihm das vielfach gar nicht genehm; er war einsilbig und verschlossen. Aber er nahm sich zusammen, versuchte das angeknüpfte Gespräch fortzusetzen, und schließlich empfand er sogar eine willkommene Erleichterung in der Unterhaltung über all die kleinen und zufälligen, unwichtigen und dennoch die Gedanken beschäftigenden Dinge, die sich Freunde oder alte Bekannte erzählen, wenn sie zusammensitzen beim Mahl oder beim Nachtisch und einem Glas Wein.

Dabei fühlte er gut, daß er gar nicht verdiente, es besser zu haben, als es ihm augenblicklich erging. Verraten hatte er nichts. Er war sich treu geblieben und hing unentwegt tief dankbar an dem, was in seinen Beziehungen zu Nele schön und ohne Makel 491 gewesen war. Aber er mußte sich sagen, daß er im entscheidenden Augenblick nicht gekämpft hatte um sie, wie das Schicksal es anscheinend gewollt, und das nahm das Schicksal ihm übel. Dafür brachte es nun alle möglichen Teufel ins Spiel, die ihn mit der Suppe auf dem Tisch ganz gründlich foppten.

In dieser Zeit war er froh, daß er keinen Augenblick im Zweifel war, womit er den Tag verbringen sollte, und je rücksichtsloser sein Beruf ihn in Anspruch nahm, um so segensreicher empfand er die Ordnung, die sich in seinem Leben allein schon dadurch ergab, daß man ihn brauchte.

Nichts begrüßte er daher mehr als den Krieg. Er atmete ordentlich auf, als die Mobilmachungsorder kam, und fühlte sich elektrisiert, als bedeutete das, was nun kam, für ihn die Rückkehr ins Leben.

Erst, als er in seinem Häuschen auch das Letzte geordnet und Dinah die Schlüssel zu seinem engsten Privatbereich übergeben hatte, überfiel ihn noch einmal die Schwäche, und mit einem schmerzlichen Blick starrte er, schon in Uniform, gestiefelt und gespornt, nach dem Fensterbrett, auf dem Nele, mit dem Rücken zum Garten, so oft gesessen hatte.

»Bist du immer noch traurig?« fragte Dinah nach einer Weile.

Langsam drehte er sich nach ihr um und blickte sie an, antwortete ihr jedoch nicht.

»Ich glaube, du mußt das vergessen« – –, sagte sie ruhig, und ging mit seinem Köfferchen nach der Türe.

»Ja. – Manchmal bist du wirklich klüger als ich«, entgegnete er und schloß sich ihr an.

 

Es war verabredet worden, daß das letzte Nachtessen vor der Abreise Valärs in den Dienst bei Elmenreichs stattfinden sollte; er und Dinah fuhren daher von seinem Häuschen aus direkt dorthin. Es war auch bereits vereinbart, daß Dinah ihn später in ihres Vaters Wagen nach seiner Stadtwohnung brächte. Dort würden sie seinen Koffer abholen und dann zum Bahnhof fahren. Denn der zivile Fahrplan war außer Kraft gesetzt, und wenige Minuten 492 vor Mitternacht ging der Soldatenzug, mit dem auch Valär an seinen vorläufigen Bestimmungsort reiste.

Zu ihrer nicht geringen Verwunderung war Bruno da, als Valär und Dinah die Halle im Haus ihres Vaters betraten. Er trug die Uniform eines Offiziersaspiranten, salutierte vorschriftsmäßig und erzählte in strahlender Laune, er habe mit seiner Uebungsstaffel heute den ersten größeren Ueberlandflug gemacht. Nachdem sich auch Elmenreich und Nany ihnen zugesellt hatten, das Licht angezündet war, und man an dem großen Hallenecktisch im sogenannten Lärchenwinkel bei einem Schluck Vermouth beisammen saß, erzählte Bruno weiter, sie seien, vom Welschland kommend, am Nachmittag auf einem der Stadt benachbarten Militärflugplatz gelandet. Auf morgen sechs Uhr in der Frühe sei der Start zum Rückflug angesetzt. Er habe sich vom Staffelführer Urlaub zu einem Daheimbesuch erbettelt und ihn auch erhalten. Schlag Mitternacht müsse er im Quartier sein. Er fahre daher mit ihnen zur Stadt. Von dort nehme er ein Taxi zum Flugplatz. Großartig treffe sich das. Noch vor Ablauf des Urlaubs werde er auf diese Weise zurück sein.

»Habt ihr gehört? . . . Um sechs Uhr Start! . . . Nicht einmal ausschlafen läßt man diese jungen Leute am Morgen!« warf sich Nany entrüstet dazwischen, während sie irgendwo in der Halle am Boden kniete und allerhand für den schwarzen Kaffee bestimmtes trockenes Kleingebäck aus einer Büchse umständlich in eine silberne Schale leerte. »Und jetzt auch noch diese Schießereien in Polen oder wo es sonst ist! . . . Was sag ich immer, Andrea? – Eine lieblose Luft in dieser Welt, sage ich! Jeder hat seine Decke, und jedem ist die seine zu kurz. Da haut er sie dem andern einfach um die Ohren! . . . Wenn unsereins sich so benähme, wie diese Staatsmänner es tun?« – Im nächsten Augenblick waren ihre stets sprunghaften Gedanken jedoch schon bei etwas anderm angelangt, und mit vergnügt hüpfender Stimme sagte sie zu Bruno: »Aber jetzt werd ich dir gleich mal ein Päckchen machen!« – und zu Valär gewendet: »Und für dich habe ich auch etwas!«

Damit ließ sie die Konfektschale stehen, wo sie gerade stand, 493 nickte erfreut und verschwand in einem der Nebenzimmer, die mageren Backenknochen mit roten Flecken gezeichnet. Goldene Armreifen klimperten an ihrem Handgelenk, als sie nach dem Türdrücker griff, und als sie die Türe schloß, klingelte es abermals, nur etwas ferner. Wäre Dinah noch dagewesen, so hätte sie jetzt sicher nicht mehr länger an sich gehalten und wegen dieses Geklingels, das schon während des ganzen Abends vernehmbar gewesen war, irgend etwas von Schellendame oder Schlittenrößchen gesagt und mit ihren leicht kurzsichtigen Augen, dem blauen und braunen, die Mutter angeguckt ungefähr wie einen verbrannten Braten. Dafür hätte die Mutter ihr schnell die Zunge herausgestreckt, und ihr magerer Perlhuhnhals wäre dabei sehr komisch aus den Schultern herausgeschossen. Aber Dinah war in die Küche gegangen, um dort zu helfen, und die Männer hatten durchaus nichts dagegen, daß sie Päckchen bekommen sollten. Sie hielten die Mutter daher nicht zurück. Soldaten sind für Päckchen immer zu haben.

Bruno berichtete jetzt weiter von seinem Flug, und wieder einmal war er ganz erfüllt von seiner augenblicklichen Tätigkeit und von den Erlebnissen im Dienst, die sich in jüngster Zeit geradezu überstürzten. Zwischen Stockhornkette und Berneralpen waren sie sogar in eine Gewitterbank hineingeraten, so daß sie bis in die Pilatusgegend hatten blindfliegen müssen, weil alle Erd- und Himmelssicht mit einem Mal ausgelöscht war. Es war ein dicker finsterer Wolkenblock, der an Gefahren alles mögliche barg – alles so ziemlich, was man sich überhaupt vorstellen konnte. Wie war der Wind plötzlich gegen den Kasten gerannt, wie hatte er gegen die Ruder gestoßen! Manchmal war die Maschine gerüttelt worden, als liefe sie über Stock und Stein, und auf dem Instrumentenbrett hätten die Zeiger nur noch so getanzt. Einmal, nach einem heftigen Blitz, setzte auch der Wendezeiger schlagartig aus, und es war ungewiß, ob er wieder käme. Dieses atmosphärische Störungsfeld sei beim Start nicht vorgesehen gewesen. Er wäre auch allein, meinte Bruno, sicher nicht durchgekommen. Gottseidank habe der Instruktor während dieses Blindflugs den Piloten gemacht. Aber er habe doch sehr viel auf diesem Flug durch die Gewitterzone 494 und ihre heulenden Lüfte gelernt. Es sei ja auch allgemach Zeit, daß man mit den letzten Schwierigkeiten der Fliegerei vertraut gemacht werde. In einigen Wochen sei ja schon das Examen. Möglicherweise werde es sogar vorverlegt . . . Ah, wie er sich freue auf den Tag, an dem er eingeteilt werde und sagen könne: »So, das ist jetzt meine Maschine!« . . . Mit einer guten Maschine sei es ja auch wirklich ein Spaß, da oben herumzuwirbeln und jeder Gefahr die Stirne zu bieten.

»Einverstanden!« sagte Valär, der bisher keinen Beweis von großer Redelust abgelegt hatte, und auch weiter sehr ernst blieb. »Es ist schön, daß dir die Fliegerei so gefällt. Es ist auch schön, daß du anscheinend vorwärts kommst und nicht umsonst in ihr aufgehst. Aber du vergißt doch hoffentlich nicht, daß du nicht nur Flieger bist, wie? – sondern dazu auch Soldat?«

Bruno blickte verwundert an seinem Uniformrock hinab, blickte auf die Hosen, die Schuhe. Die Frage des Götti schien ihm so seltsam dienstlich gewesen zu sein. »Ist etwas nicht korrekt an mir?« fragte er kleinlaut.

Valär wehrte ab.

»Nicht so«, sagte er. »Schau deinen Vater an, Bruno! Der weiß, was ich meine. Wir Aeltere wissen es alle. Aber die Väter mit Söhnen in deinem Alter, die wissen's noch besser als Junggesellen. Schau ihn nur an.«

Bruno blickte nach dem Vater, rieb die Handschalen auf den Knien, was er sonst niemals tat, blickte nach Valär und dann wieder zum Vater. Dann zog er die Hände über die Oberschenkel zurück.

»Ihr meint, daß es . . . Ernstfall wird?« fragte er tastend.

»Ja, das meinen wir«, bestätigte Valär. »Dann wirst du nicht nur fliegen, sondern wirst da oben auch kämpfen müssen. Dein Fliegerkleid wird dann ein Ehrenkleid sein. – – Nicht wahr. Wilhelm, das meinst du doch auch?«

»Ja, genau dieses«, sagte der Vater, und ließ seine blauen, großen, immer leicht verwunderten Augen im Kreis herumwandern. »Und dann hört der Spaß mit der Maschine, dieser reine sportliche Fliegerspaß, natürlich auf.«

Obgleich Bruno jetzt die Stirnlocke fehlte, die er früher mit 495 einer jähen Kopfbewegung so oft nach hinten geschleudert hatte, machte sein Kopf auch jetzt diesen Ruck. Fast ebenso ruckartig antwortete er:

»Man rechnet natürlich damit, daß es den andern trifft. Die meisten tun das. Manche von uns unterhalten sich ja immer wieder darüber, und dann rechnen drei oder vier von fünfen damit, daß sie Glück haben werden, und daß der, der in der Luft explodiert, der andere ist. Ich bin mir aber ganz klar darüber, daß man das Gegenteil annehmen muß. Wer mit seinem Glück rechnet, der rechnet auch schon halb mit allem, was er wieder haben könnte, wenn er heil zurückgekehrt ist, und das macht ihn feige. Statt anzugreifen, wie es befohlen ist, versucht er seinem Glück in die Hände zu schaffen und macht einen glänzenden Ausweichbogen, und statt sich zu sagen: ›Jetzt oder nie‹, denkt er an einen guten Fraß oder an sein Mädchen und haut mit Eleganz ab. Aber in dieser Hinsicht mach ich mir gar nichts vor. Ich weiß, daß ich bei jedem Flug mein Totenhemd auf dem Leibe trage. Und wenn es wirklich mein Totenhemd wird, dann soll es wenigstens fleckenlos bleiben.«

»Dann bist du ein guter Soldat«, sagte Valär. »Dann wollen wir uns die Hände reichen. Es vergißt sich so leicht, daß auch die andern Gewehre haben und mutige Teufel sind, und daß man selber der Vogel sein kann, der getroffen wird . . . Ich wollte mich nur vergewissern, ob du das weißt. Denn wenn man es weiß, ist alles andere gar nicht mehr schwierig. Es ergibt sich von selbst.«

Beim Nachtessen wurde nicht mehr vom Fliegen gesprochen. Man sprach von dem neuen Krieg. Elmenreich sagte:

»Wenn der Bolschewismus der Weltfeind ist, wie es immer heißt, und die große Gefahr: – warum zerstören die Deutschen dann die Schutzwälle rund um ihr Reich, ein Vorwerk nach dem andern? Warum haben sie nicht versucht, aus gleichgültigen Nachbarn Freunde zu machen? Jetzt haben sie ihre Feindschaft dafür. Und das Mißtrauen aller andern kleinen Randvölker haben sie auch. Alle diese Völker sind nicht stark. Aber sie sind tüchtig und sind geachtet. Ihr Mißtrauen wiegt. Wer es auf sich zieht, an dem hängt es wie Blei. Aber sie tun, als spürten sie nichts, und zerstören 496 gleichmütig ihr eigenes Haus. Frißt ein Schneck seine Schale? Ich verstehe manches, aber das verstehe ich nicht.«

»Die Polen sind auch kein Schleck. Bei ihnen war die Verständnislosigkeit sicher nicht kleiner«, meinte Valär. »Diese Generäle mit ihren Großmachtträumen! Eine theatralische Bande! Dabei ist es, wie man mir sagte, ausschließlich die verstädterte Oberschicht, die den Schwanz immer noch ein Stück höher trägt als den Kopf. Und auch das nur, solange sie den starken Arm ihres großen Bruders von jenseits des Kanals hinter sich spürt. Wartet einmal ab, was sie tun werden, diese Maulaufreißer von heute, wenn die Sache schief gehen wird – und daß sie das wird, ist ja nicht zweifelhaft. Sie werden die ersten sein, die sich in Sicherheit bringen! Dort, wo sie sind, krakeelen sie dann in der alten Art weiter. Frag diese Kerle einmal nach Scham! Aber das Volk, das hockt da und kann die Zeche bezahlen. Dabei hat es mit all dieser falschen Großmannssucht wahrscheinlich gar nichts zu schaffen.«

»Der Krieg ist trotzdem gut«, ließ sich Bruno vernehmen. »Offengestanden: mir ist es recht, daß es endlich losgeht.«

»Natürlich – dein Neues Europa«, gab Valär zurück.

»Aber in einem andern Sinn als das früher gemeinte«, sagte Bruno.

»So – anders? Wie anders?«

»Ich meine, daß dieser Krieg gar nicht das ist, als was er in den Kabinettserklärungen und in den Zeitungen dargestellt wird«, versetzte Bruno. »Nach den Zeitungen ist er ein Krieg um Danzig und um den Korridor und um gewisse Minderheitsrechte, die man hüben und drüben mißachtet. Aber um alles das geht es nicht, man kann es ja riechen. Auch um Osten und Westen geht es nicht, und ebensowenig geht es um Germanen und Slawen.«

»Um was denn?«

»Es geht einfach darum, daß wir durch die Hölle müssen«, sagte Bruno verbissen.

Alle hörten mit Kauen auf und blickten ihn an. Nur Nany griff mit ihrem klingelnden Arm nach dem Glas und versuchte daran zu nippen. 497

»Ja, weißt du denn, was du meinst, wenn du Hölle sagst?« fragte schließlich Dinah.

»Ja, was ich meine, das weiß ich. Was die Hölle ist, weiß ich allerdings nicht. Aber was ich meine – –.«

»Dunkel!« sagte Dinah.

»Oh, nein – sogar sehr hell. Denn vermutlich ist ein großes, ganz riesiges Feuer dabei, in dem vieles verbrannt wird, was die Menschen gemacht, geliebt und einander weitergegeben haben von Geschlecht zu Geschlecht und von Land zu Land. Vermutlich schwebt da und dort auch ein erschrockenes Engelchen durch den Qualm und versengt sich die Flügel. Aber unter der Asche und unter den Bächen von Blut, die in der Asche versaufen, da keimt etwas, was es noch niemals gegeben hat, und ihm gilt die Stunde. Wenn dieses Etwas dann nur aus einem Europa bestehen wird, das den arbeitenden Menschen so schätzt und lohnt und ehrt, wie er es verdient, auch dann noch ehrt, wenn er nicht mehr kann, – und wenn sich in diesem Europa der Geist und die Künste und die Moral ebenso frei entwickeln dürfen, wie sie es im alten Europa gekonnt, bevor Geld, Erwerb und Habgier in jeder Form Volk um Volk und Land um Land überwuchert haben: – wer will dann behaupten, der Gang durch die Hölle habe sich für uns nicht gelohnt?«

Noch eine Weile sprach man von dem, was Bruno ihnen vorgesetzt hatte, und zum Schluß sagte Elmenreich:

»Ich bin froh, daß du das Englein wenigstens davonkommen läßt. Es verbrennt sich die Flügel, aber es kommt doch davon. Das ist gut und ist mir ein Trost für uns alle. Denn wenn auch unser Jahrhundert möglicherweise keine Werte hervorgebracht hat, die sich die Völker zu ihrem Ruhm rechnen können, so hat es unter der Kruste des eigenen Schmutzes wenigstens jene unvergänglichen Werte bewahrt, die den Stolz und den Reichtum der alten Kulturen gebildet haben. Ich hoffe, das Englein mit den versengten Flügeln rettet sie in jene neue Zeit, von der du träumst, und überläßt nicht alles Stalin und seinen Horden.«

»Wahrscheinlich rettet es sie, lieber Vater«, gab Bruno zurück. »Wozu wäre es sonst zugegen?« 498

 


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