Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XXIX.

Zunächst hatte Valär wieder einen Instruktionskurs im Generalstab zu absolvieren. Während dieser Zeit empfing er, von Luise ihm nachgeschickt, einen Brief, dessen Handschrift er nicht kannte. Der Brief trug den Abgangsstempel seiner Heimatgemeinde, und der Umschlag bestand aus sehr feinem Papier.

Es war ein Brief von Lily Saxer, in dem sie ihm schrieb, ihr Mann habe den Wunsch, sich ein Mausoleum zu bauen, und möchte, daß er, Valär, diesen Bau übernähme. Er lade ihn zu einer Besprechung des Vorhabens ein und wäre sehr glücklich, wenn er eine zusagende Antwort empfangen dürfte. Sie schließe sich diesem Wunsch aufs herzlichste an, und er möge es nicht als Ausdruck des üblichen weiblichen Drängens auffassen, wenn sie hinzufüge, daß ihnen beiden aus besonderen Gründen an einer baldigen Antwort sehr viel gelegen sei. Er brauche nur telephonieren zu lassen, an welchem Tag er käme und mit welchem Zug. Ein Auto werde ihn am Bahnhof erwarten. – Rosa war in dem Brief nicht erwähnt; ebensowenig war gesagt, wie es Saxer erging.

Valär bestimmte einen Tag für seinen Besuch und schrieb Lily ein Kärtchen. Früher gehe es nicht. Sie dankte. Der Tag passe gut. Als er wieder daheim war, fuhr er hin.

Er wurde von Lily empfangen und sah sofort, daß ihr Leib sich zu wölben begann, und daß sie durchaus nichts tat, um es vor ihm zu verbergen. Das leichte, weich an ihr hinunterfließende Sommerkleid, das sie trug, schien eher darauf berechnet zu sein, daß ihr Zustand in vollem Umfang zur Geltung käme. Mit dem Bemerken, daß Saxer den Notar bei sich habe, führte sie ihn in einen luftigen Gartensalon und bot ihm ein kleines Frühstück an, wie Männer es lieben, wenn sie um die Mitte des Vormittags die Zeit zur Hingabe an solche Genüsse aufbringen können. Als Valär nicht ohne Beklommenheit fragte, wie es ihrem Mann gehe, sagte sie mit strahlenden Augen und strahlender Stimme, er sei der glücklichste Mensch, den man sich vorstellen könne; nicht einmal die lähmenden Kopfschmerzen, die ihn in der Regel gegen Mittag befielen, könnten dem Eintrag tun, und als Valär ein etwas stutzig 286 geratener Hinweis auf das Mausoleum entfuhr, dessentwegen sie ihm doch geschrieben habe, entgegnete sie:

»Saxer rechnet damit, daß er nicht mehr sehr lange zu leben hat. Aber das ficht ihn nicht an. Er ist noch immer die alte Kraftnatur – und doch wie verwandelt. Nun möchte er, zusammen mit Ihnen, auch diese Sache nach seinem Kopfe noch ordnen.«

Aus der Unterhaltung, die sich daraufhin entspann und, bald da verweilend, bald dort, die Wandlungen auseinanderlegte, die sich seit der Abreise vom Sanatorium mit Saxer vollzogen hatten, ergab sich dieses:

In der ersten Zeit nach der Heimkehr war eine gewisse Ermattung über Saxer gekommen. Er stand ganz unter dem Eindruck seiner körperlichen Hilflosigkeit gegenüber der Finsternis, in der sich alle vertrauten Dinge vor ihm verbargen. Dieser Eindruck wirkte so lähmend auf ihn, daß er seine Hilflosigkeit sogar übertrieb. Man mußte ihn anziehen, ausziehen, waschen, füttern und führen wie ein kleines Kind. Das Gefühl, daß er in seinem Zustand für nichts mehr verantwortlich sei, schien ganz von ihm Besitz ergriffen zu haben. Oft saß er auch einfach da wie ein Mann, der um den Hals einen Mühlstein trägt und darauf wartet, daß er versinkt. Nur eins in ihm war noch entschieden wach: er gab sein Gebrechen der Neugier oder dem Mitleid anderer nicht preis. Nicht einmal die Dienstboten durften sein Zimmer betreten, und wenn er über den Flur gehen mußte, wurde durch ein Klingelzeichen allen geboten, das ganze Stockwerk zu räumen. So lag, versicherte Lily, die ganze Pflege und Wartung auf ihr.

Aber der Mühlstein konnte seinen eisernen Nacken nicht beugen. Saxer versank nicht. Nach einer Weile reckte er den Kopf sogar wieder spürbar nach oben und machte sein Wort, ein blinder Mann sei noch kein toter Mann, mehr und mehr wahr.

Anlaß dazu war für ihn die Entdeckung, daß er mit dem Augenlicht auch die Kontrolle über sein eigenes Aussehen verloren hatte. Was für Kleider zog man ihm an? War der Kragen sauber? War der Anzug gebürstet? Paßte der Kragen zum Hemd? War die Krawatte nicht blau oder bunt, wo für seinen Geschmack nur eine graue in Frage kam? 287

Diese Sorgen regten ihn plötzlich sehr auf, und im Augenblick, wo er sich sagen mußte, daß er eines Tages ja auch jemand anderem ausgeliefert sein könnte als seiner Frau, weil sie unpäßlich war oder verreisen mußte – da stand es für ihn auch fest, daß er sich selbst die Kontrolle über alle diese Dinge wieder verschaffen müsse. Und in einem plötzlich erwachten Drang, sich möglichst unabhängig zu machen, ließ er alle zusammengehörigen Kleidungs- und Wäschestücke mit leicht fühlbaren Erkennungsmarken bezeichnen und richtete sich drei Räume im Haus für seinen Eigenbedarf so ein, daß ihm jeder Gegenstand darin entgegenkommend und handlich war, und er mit den Objekten nicht in Konflikt geriet, wenn er sich ihrer für seine Zwecke bedienen wollte. Er lernte wieder gehen, sich selbständig anziehen, selbständig essen und sich eigenhändig rasieren. Das Gefühl, auch als Blinder nicht verloren zu sein, stellte sich Hand in Hand damit schnell wieder ein; auch die Dienstboten begann er wieder um sich zu dulden. Nur eine Angst blieb: daß Feuer ausbrechen könnte im Haus, und daß er verbrennen könnte. Lily schilderte das alles sehr genau und lebendig.

Seelisch hatte ihn diese Zeit des Kampfes mit den Objekten nun aber ganz in die Kinder- und Jugendjahre zurückgeworfen. Und als er auf dem Weg seiner Neugeburt an die Stelle gekommen war, an der sich ihm das Bedürfnis auftat, auch wieder in die Zukunft zu blicken und sich einem Größeren anzuschließen, in dessen Schutz und Hut er sich sicher fühlte, da zeigte es sich, daß die Pfade, die ihn in seinem früheren Leben, unter Anleitung der Eltern und sonstigen geistigen Vormundschaft, zum Gott der Arbeit hingeführt hatten, für ihn verschüttet waren.

Aber was nun?

Lily sagte, sie vermöge nicht anzugeben, wie sich die Wandlung zu dem vergnügten Eisvogel von jetzt vollzogen habe, zu diesem ganz und gar halkyonischen Menschen aus dem Gefolge des Pan. Aber oft, wenn er so dagesessen sei in seiner anfänglichen Hilflosigkeit, dumpf wie ein Stein, habe sie den Eindruck gehabt, daß sein Geist wohl wunderbare Fahrten ins Blaue mache, ohne daß er selbst davon ein deutliches Wissen besaß. So sei es wohl auch gewesen. 288 Denn eines Tages habe sie auf sein Geheiß aus einer irgendwo auf dem Speicher stehenden Kiste, in der seine Schulbücher und Schulhefte und andere Schätze aus den Kindheits- und Jugendtagen aufbewahrt waren, ein altes Buch über die Götter Griechenlands hervorsuchen müssen. Sie habe es ihm vorlesen müssen, vom Anfang bis zum Ende, und dann noch einmal, und danach den Homer.

Und dann – ja, dann habe er eines Morgens verlangt, daß man ihn in den Regen führe, der während eines Gewitters, unter Donner und Blitz, draußen niederging. Und als es geschehen war nach seinem Wunsch, und er im Garten stand, ohne Hut, und sein blindes Gesicht in den Himmel hob, und der klatschende Regen ihm über den nackten Schädel rann und an seinen Wangen herunterfloß und ihm vom Kinn und den nutzlos gewordenen Augendeckeln in die Halsgrube tropfte und von da zur Herzgrube weiterfloß, da sei der Ausdruck seines Gesichts geradezu glücklich geworden, und er habe gesagt:

»Lily, ich sehe einen feurigen Nebel. Er kommt aus dem Dunkel dahergeflossen, ist eine Weile im Licht, und im Dunkeln, wo sich alles verwischt, verschwindet er wieder. Weißt du, was das ist?«

»Nein«, sagte ich.

»Aber ich weiß es«, antwortet er. Und er fügte flüsternd hinzu:

»Es ist der Rauch der Opferfeuer, die von der Erde aufsteigen zum Schattenreich der Olympier, weil die Luft und die Erde, das Feuer und das Wasser sie noch immer verehren. Ich schließe der Luft und der Erde, dem Feuer und dem Wasser mich an und habe nur noch den einzigen Wunsch, am Tage, da ich mich von dir trennen muß, als Schatten in ihr Schattenreich einzugehen.«

Seitdem sei Saxer nur noch damit beschäftigt, seinen eigenen Abgang vorzubereiten. Aber auch jetzt schien er, nach Lilys Bericht, noch zu manchem fähig zu sein. Saxer hatte Schatten gesagt. Nichtsdestoweniger stand für ihn fest, daß er kein Schatten sein wollte, der ohne Reisepaß und Beglaubigungsschein in der Unterwelt einzog. Die andern Schatten dort sollten sehen, wer kam. Da er aber seinen Namen würde verloren haben, so daß man ihn an diesem nicht mehr erkennen konnte, und da er auch sein Antlitz 289 würde verloren haben, ließ er von allem, was er besaß und geschaffen hatte und was ihm lieb gewesen war auf dieser Erde, Modelle anfertigen, die man ihm ins Grab und ins Schattenreich mitgeben mußte, damit den andern deutlich würde, wer er auf Erden gewesen war.

Und nun wurden in einer besonderen Werkstatt, die er im Haus hatte einrichten lassen, aus Holz und Stein und Metall Modelle seiner Fabriken gemacht, mit den hohen Kaminen darüber und der gelben Mauer darum, und Modelle der Menschen, die sich auf den Höfen dieser Fabriken bewegten, wenn Arbeitszeit war. Dazu kamen Modelle seines Hauses und seines Parks, des Volkshauses, das er der Gemeinde gestiftet hatte, und allerlei kleine Figürchen, wie sie in Weihnachtskrippen auftreten, und das waren seine Eltern und deren Eltern und seine verstorbene Frau und seine Kinder. Und Lily sagte, auch sie sei in Auftrag gegeben, aber in welcher Erscheinung, das halte er ihr verborgen. Alle diese Geschäfte betreibe er mit großer Verschmitztheit und großer Wichtigkeit, und es werde sicher kein Schatten dasein, der es mit ihm aufnehmen könne, wenn er in der Unterwelt seinen Einzug hielt, umgeben von solchem Gefolge.

Aber es würde eine große Grabstätte brauchen, damit man ihm alle diese Dinge rings um den Sarkophag so aufstellen konnte, daß sie auch gebührend zur Geltung kamen. Zu diesem Zweck sollte ihm Valär jetzt ein Mausoleum bauen, keine muffige Gruft, sondern einen freistehenden luftigen Tempel aus dauerhaftem und edlem Gestein, auf dem Hügel hinten in seinem Park, zwischen Büschen und Bäumen und Blumen und Gras, und mit einem Bächlein, das über den Hügel herunterrann. Darüber wolle er heute mit dem Besucher sprechen. Und nun wolle sie schauen, ob der Notar gegangen sei, und man mit der Besprechung beginnen könne.

 

Lilys Aussage, Saxer sei der glücklichste Mensch, schien Valär kaum übertrieben zu sein, als er ihm bald danach gegenüber saß, und der blinde Mann vor ihm seine Absichten aufschlug, sie in vorwärtsstürmenden klaren Worten zusammenfassend, deren Gepräge die stoffliche Phantasie des alten Erfinders in 290 ungeschwächter Kraft aufleuchten ließ. Wie unerbittlich und scharf tat der Geist dieses Mannes immer noch seine Pflicht, wie gründlich erwog der nackte marmorne Schädel jede Situation und die in ihr steckenden Möglichkeiten! Saxers Stimme war immer noch rauh, und herrschsüchtige Töne fehlten nicht in seiner Rede. Aber in die alten Leidenschaften schien er nicht mehr verstrickt zu sein. Goldstücke, mit denen er klimpern konnte, trug er jetzt offenbar nicht mehr im Hosensack mit sich herum, und er konnte auch mit einem Mal lächeln.

Dieses Lächeln war überaus sonderbar. Denn Saxers Gesicht wirkte, wie das aller Blinden, seltsam abwesend und seltsam flach. Es hatte, wie ein Spiegelgesicht, etwas maskenhaft Starres, und jede Regung, die sich bemerkbar machte, huschte über die Oberfläche dieser Maske wie ein ganz dünner Hauch und ohne sie selbst zu verändern. Dennoch war an diesem blinden Lächeln etwas rührend und schön.

Die Konferenz war nur kurz; denn die Kopfschmerzen begannen sich einzustellen. Aber als Saxer Valärs Zusage hatte zu dem geplanten Bau, und als Lily sich entfernte, um die nötigen Anordnungen für die Bereitstellung eines Autos zu treffen, das Valär nach einer Bodenseestation bringen sollte, weil er dort den günstigsten Zugsanschluß fand, erklärte Saxer, daß er noch ein Anliegen habe. Er sagte:

»Herr Valär, Rosa hat mir da vor einiger Zeit einen Brief geschrieben. Sie will mir darin Hörner aufsetzen, oder vielmehr meinem Kassenschrank. Sagen Sie ihr einen Gruß, und ich hätte über ihren Brief sehr gelacht, aber die Hörner, die ich mir selber aufsetze, gefielen mir besser als die, die sie mir zugedacht hat.«

Aber das schien Valär zu weit zu gehen, und er schwieg wie ein Grab.

 


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