Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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L.

Am andern Morgen erschien Charles Dormond zur festgesetzten Zeit in Valärs Hotel. Er sah gar nicht übernächtigt oder verkatert aus, hatte sein Skizzenbuch dabei und wollte nachher am Ort zu einem ihm bekannten Kleinbauer gehen, der Ziegen hatte, und Studien an diesen machen. Daphnis und Chloe, sagte er, – es schwebten ihm zu diesem Thema allerhand Bilder vor, und zu diesen brauchte er Ziegen. Sie gingen ein wenig aus, und an der Dampfschifflände setzten sie sich in eines der dortigen Wasser-Cafés, zu einem Apéritif. Nach einer Stunde war ihre Besprechung beendet, und Dormond verabschiedete sich. Er war auch nicht vierundzwanzig, wie Valär bisher geglaubt; er war zwei Jahre älter.

Aber jetzt hatte Dormond noch eine kleine Bestellung:

Herr Valär kenne Fräulein Ellegast, sie habe ihm davon erzählt; auf seine Karte hin habe er ihr heute früh Mitteilung davon gemacht, daß Herr Valär hier sei, und daß sie sich träfen. Fräulein Ellegast habe geantwortet, er möchte Herrn Valär ausrichten, daß sie ihn gern sähe. Sie sei den ganzen Tag daheim. Er könne jederzeit kommen. Einer besonderen Anmeldung bedürfe es nicht.

Valär ließ sich in einem Auto nach Agno bringen. Sein Gepäck nahm er gleich mit, ließ dann aber an der Station Magliaso halten und gab es dort zur Weiterbeförderung auf.

Der Chauffeur hielt auf der Straße vor einem weit im Hintergrund liegenden Haus, das stellenweise in einem Baugerüst steckte. Der Garten, in dem es lag, war durch eine Straßenunterführung mit dem jenseitigen Seegrundstück verbunden. Hier hatte Valär gestern bei sinkender Dämmerung gestanden und hatte dem unsichtbaren Wassertreiben unsichtbarer Menschen gelauscht. Jetzt sah er, daß außer Bau- auch Erdarbeiten im Gange waren.

Er ging nach oben, dem Haus entgegen, sah aber, daß dieses geschlossen war. Er wandte sich daraufhin dem Pächterhaus zu, das jetzt höher oben zum Vorschein kam, und erfuhr von einer Frau, daß die Signorina unten am Wasser sei. Wenn er durch die Unterführung gehe, und dann nach rechts, komme er hin. 481

Schon von weitem sah Valär etwas sehr Helles in einer Hängematte, die nahe dem Wasser zwischen Bäumen aufgespannt war. Auch seine Schritte schienen nicht unbemerkt geblieben zu sein. Denn das Helle richtete sich aus seiner gestreckten Lage halb auf und blickte nach der Richtung, aus der er kam. Gleich danach erschienen Beine über dem Rand der Hängematte, und die Gestalt sprang herunter. Sie glättete ihr Kleid und kam ihm entgegen.

Auf Neles Gesicht erschien ein verschleiertes Lächeln, als die Entfernung zwischen ihnen immer geringer wurde, – das Wiedersehen mit ihm schien sie ein wenig zu freuen. Oder freute sie sich nur, daß er sah, wie stolz und gefaßt und wie schön sie war und wie vorteilhaft sie aussah in dem ganz weißen Kleid mit den kurzen Puffärmeln und den weiten Spangenlöchern an Schultern und Oberarmen, durch welche die Haut dunkelgoldbraun hervortrat? Um den Hals trug sie dazu ein locker geknüpftes, grünrotes seidenes Tüchlein, und auch das stand ihr gut.

Nein, sie sah nicht friedlos aus. Sie sah auch nicht aus wie jemand, der sein Leben drunter und drüber gehen läßt. Sie wirkte eher wie jemand, der auf einem Siegeszug ist und es deswegen leicht hat, nach allen Seiten großmütig zu sein und über allerhand peinliche Dinge hinweg zu blicken.

»Man hat es Ihnen also ausgerichtet«, sagte sie zur Begrüßung, und gab ihm die Hand. »Wollen wir dort ans Wasser gehen? Am Wasser ist Luft, und unter den Bäumen ist Schatten.«

»Bist du allein?«

»Ganz allein.«

Ihre Lippen waren nun aber doch etwas blasser geworden, während sie sprach, und auch in ihrem Blick war etwas nicht sehr gemütlich. Er mochte sie nicht länger betrachten und blickte weg.

Nele hatte schon kehrtgemacht und zu gehen begonnen. Jetzt bemerkte er auch an ihrem linken Handgelenk einen breiten goldenen Reifen, den sie früher nicht gehabt hatte. Sie schien das massive schwere Gebilde noch gar nicht gewohnt zu sein. Denn sie faßte nach ihm und schob es höher.

»Du siehst aus, als wärst du noch ein Stück größer geworden 482 in diesen Wochen«, sagte Valär, als er in dem krachenden Korbstuhl saß. »Größer und auch ein wenig stärker.«

Zwischen ihren Augenbrauen erschien eine tiefe, kurze, senkrechte Falte, und sie knotete etwas an ihrer Hängematte. »Sie dürfen ruhig den Rock ausziehen. Wenn Ihnen das lieber ist, bitte, tun Sie es nur«, gab sie zurück. »Größer? – Ich glaube kaum. An meinen Kleidern merke ich nichts. Sicher aber bin ich älter geworden. Wahrscheinlich meinen Sie das.«

Nein, er meinte nicht älter. Er meinte auch nicht größer, und auch stärker meinte er nicht, obgleich er sich so ausgedrückt hatte – darin hatte sie recht. Er meinte nur eine Verwandlung, die sich an ihr vollzogen hatte, eine leichte Veränderung in ihrem Gesicht und in ihrer Gestalt, einen gewissen trägen fraulichen Zug, der auch in ihrer Stimme zu spüren war: – er hatte keinen Namen dafür – er fühlte nur, daß er keine physische Zuneigung mehr zu ihr empfand, und das tat ihm weh . . . Ja, richtig, das war's: – sie war gezeichnet, von einem andern . . .

Verwirrt hob er die Augen von Nele weg. Sie fielen auf die Collina d'oro grad gegenüber und auf den Salvatore, der blaß im Morgendunst lag, und dann fiel sein Blick auf die Silberpappeln über ihrem eigenen Uferplatz. Er bemerkte, daß ihr Laub sich schon zu lichten begann, und auch in den viel kleineren, stark verschnittenen Maulbeerbäumen auf der andern Seite zeigten sich schon brandige Töne. Bei einer Begegnung mit Neles Blick wies er mit dem Kopf nach den Bäumen, so daß auch sie darauf aufmerksam wurde, und während er Pfeife und Tabaksbeutel aus der Tasche kramte, sagte er:

»Ich glaube, es herbstelt schon.«

»Die Dürre«, entgegnete sie. »Außer einem kurzen Gewitterguß vor vierzehn Tagen ist seit fast einem Vierteljahr kein Tropfen Regen gefallen. Das nimmt die Pflanzen stark mit, sogar die Bäume. – Spürt man ihn drüben auch schon, den Herbst?«

Bei ihrer Frage fiel ihm der Platz mit dem Mörderbock ein. Damals war seine Hand nicht so kalt gewesen wie jetzt – damals, als er dort mit ihr auf den Fichtenwellen gesessen war, im Schoß all die Photos aus ihren früheren Jahren. Erst vor kurzem hatte er 483 ganz in der Nähe abermals einen Bock zur Strecke gebracht, diesmal jedoch an einem kühlen tauigen Morgen, bevor die Sonne über dem Horizontrand erschienen war . . . Nein, von Laubverfärbung hatte er noch nichts bemerkt. Aber im Wald, auf dem Heimweg – ein junger Neffe Selines trug ihm den Bock – hatte er die ersten Pfifferlinge unter den Bäumen gefunden. An einer andern Stelle hatte er auch die ersten Reizker und Totentrompeten unter den Bäumen gesehen.

Davon begann er jetzt krampfhaft und ausführlich zu sprechen, nur weil sie sich so interessiert, wie er glaubte, nach drüben erkundigt hatte. Dazu wirtschaftete er an seiner Pfeife herum und brachte sie schließlich in Brand.

Aber als er mit seinem Bericht zu Ende war, merkte er, daß Nele ihm zum Schluß überhaupt nicht mehr zugehört hatte. Seine Worte über die Zustände in den Wäldern und Feldern daheim hatten sie wohl auf andere Gedanken gebracht, und als er sie von neuem zu betrachten begann, saß sie, mit halbem Körper und in fast feindseliger Haltung, auf dem Rand eines kleinen abseitigen Tisches, und ihre Gestalt verschwamm immer mehr vor seinen Augen, so daß er sie fast nicht mehr sehen konnte vor lauter Schattenschutt, der sich zwischen ihr und ihm türmte.

Da regte sie sich und trat auf ihn zu, und mit sonderbar rollender Stimme sagte sie:

»Herr Valär, warum haben Sie mich verschmäht? . . . Es wäre alles so einfach gewesen . . . Ihre Leibeigene wollte ich werden – wie ein Tier wollte ich mit Ihnen sein. Aber Sie wollten nicht! – – Warum wollten Sie nicht, nachdem Sie mich doch immer wieder wie ein Tier angeblickt hatten?«

Einen Moment lang schaute sie stumm und haßerfüllt auf sein Gesicht, dann lachte sie auf, und dann lachte sie noch einmal. Es war ein gepreßtes, kurzes, schneidendes In-die-Höhe-Lachen, von sich fort, auch fort von ihm, fort in einer Richtung, in der ihre Gedanken enteilten, während sie ihnen folgte, ohne daß er erraten konnte, welches ihr Ziel war. Dazu ging sie schnell ein paar Schritte vorwärts gegen das Ufer. Auf einem Rasenband blieb sie stehen, sich selbst nicht bewußt, und starrte über das Wasser. 484

Er legte die Pfeife weg und trat zu ihr hin:

»Aber Nele, was sagst du da! . . . Ich habe doch nicht dich – – –«

Sie wehrte ab und hub von neuem an:

»Ich wollte gut zu Ihnen sein. Ich dachte, daß Sie so gut gewesen waren zu mir, und da wollte ich es auch zu Ihnen sein. Womit hätte ich denn Ihr Gutsein vergelten sollen? . . . Ich bin ein armes Mädchen, und zu erhoffen habe ich nichts, wodurch ich mit andern in Konkurrenz treten könnte. Aber auch diese Zuversicht haben Sie mir genommen, daß es wenigstens eine Sache gibt, in der ich es mit jeder andern aufnehmen kann. Sie haben mich behandelt, als wäre ich schlecht, und haben mich in Ihren Augen verworfen. – Warum haben Sie das getan? . . . Es ist schrecklich zu leben mit diesem Gedanken, glauben Sie mir – schrecklich ist das!«

»Und für mich ist es schrecklich zu hören, daß du es so aufgefaßt hast.«

»Wieso nicht? Was gibt es da aufzufassen?« – Sie starrte ihn an und sah, daß auch er sehr bestürzt war. »So etwas!« rief sie, vollkommen verständnislos. »Aufgefaßt –, ja, was soll denn das heißen? . . . Sie können ruhig sprechen davon«, fuhr sie fort, als er achselzuckend und kopfschüttelnd zur Seite blickte, »– ich bin nicht mehr frei – zu verderben gibt's gar nichts mehr – sprechen Sie ruhig von allem! – Aufgefaßt! . . . Guter Gott, daß Sie so etwas sagen!«

»Aber es ist wirklich so, Nele!« beteuerte er und fühlte sich von ihrem Lachen und ihren Worten so kraftlos gemacht und so elend, daß er zu seinem Stuhl zurückging und sich krachend auf den Sitz fallen ließ. Er versuchte auch nicht mehr, seine Gemütserregung hinunterzuwürgen, um sich nicht zu verraten. Nur das eine wünschte er in diesem Augenblick noch, daß sich etwas ereignete, was ihm zu Hilfe käme und seine Lähmung vertrieb. Aber es ereignete sich nichts dieser Art. Schließlich fing er wirklich zu sprechen an und versuchte ihr klarzumachen und ohne dieses garstige Wort zu gebrauchen, daß er nur »die Gelegenheit« verschmäht hatte, nicht sie. Aber er kam schnell an einen Punkt, 485 wo er auf Dinge stieß, die unerklärlich und auch nicht mitteilbar waren. Man empfindet etwas, einen Impuls, und tut etwas nicht. Aber warum man so empfindet, das weiß man nicht, und wenn man es wüßte und sagen könnte, so würde es trotzdem kein Mensch verstehen . . . Und das war denn auch das, was er ihr zur Antwort gab, und womit er schloß.

Nele hörte ihm aufmerksam zu, zweifelnd zuerst, dann geneigter und glaubenswilliger werdend, und schließlich schien sie wirklich etwas zu ahnen. Denn sie lächelte matt, und während sie näher kam, sagte sie:

»Ach so! . . . Nun ja! . . . Es hat eben jedes seine Art Stolz – offenbar wollen Sie sagen, das stecke dahinter. Sie haben den Ihren, und ich habe den meinen, und die beiden Arten gehn nicht zusammen. Sie stoßen sich ab . . . So ist es also! . . . Aber dann bin ich ja rein vor Ihnen. Und dann sind Sie auch nicht schuldig vor mir! . . . Ich fürchtete schon, Sie wollten es auf Ihr Gewissen schieben. Dann hätte ich Ihnen aber eine heruntergehauen, wie noch kein Schweizer Oberst eine von einem Mädchen bekommen hat.«

Damit stieg sie in die Hängematte, streckte sich aus und schloß wie erschöpft die Augen. In diesem Augenblick flößte sie ihm abermals heiße Bewunderung ein. Aber bei der Bewunderung war auch ein Grauen. Denn während sie sich in die Höhe schwang, und wieder den Raum zwischen Himmel und Erde bezog, aus dem sie bei seiner Ankunft heruntergestiegen war, streifte sie ihn mit einem kurzen Blick, und dabei sah sie plötzlich ihrer Mutter so ähnlich, daß ihm ganz eisig wurde.

Aber er wußte jetzt wenigstens, was auf dem Tisch stand für ihn. Und was auf dem Tisch stand, das mußte gegessen werden. 486

 


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