Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XLVI.

Während der nächsten Tage sagte sich Valär immer wieder, daß etwas geschehen müsse, um dem bedrückenden Zustand ein Ende zu machen, der seit dem unseligen Ausgang des Mondscheinspaziergangs auf ihm lag wie ein dumpfer schwarzer Nebelklotz, dessen unbewegliche Masse ihm jede Aussicht benahm.

Sie waren ohne bittere Worte auseinandergegangen, auch ohne Verabredung, nur mit dem Gefühl, geschlagen zu sein. Das konnte unmöglich so bleiben. Etwas mußte er tun. Aber er hatte keine Ahnung, was er anfangen sollte.

Denn sein Herz und sein Verstand lagen wie zwei unversöhnliche Widersacher miteinander im Streit. Was das Herz ihm riet, verwarf der Verstand, und was der Verstand ihm vorschlug, wurde vom Herzen mißbilligt. 448

Valär wußte gut, daß er kein unbedenklicher Jüngling mehr war, mit freier Hand nach allen Seiten. Er war ein Mann, der im Lauf eines harten, von Instinkt, Erfahrung, Grundsätzlichkeiten und einem starken Sinn für Form und Ordnung geleiteten Lebens sich eine ganz bestimmte Vorstellung von sich selbst erarbeitet hatte. Sie lieferte ihm das Richtmaß für sein eigenes Handeln. Auch die andern maß er mit ihr. Wenn er diese Vorstellung preisgab, war er verloren. Man hätte ihm gerade so gut das Rückgrat aus dem Leib ziehen können.

Gegen die Preisgabe dieses Bildes und Maßes hatte er in jener Nacht sich gesträubt, ganz instinktiv, und von seiner Abwehrbewegung war auch jenes Menschenkind getroffen worden, das ihn zur Selbstaufgabe hatte verlocken wollen, ohne daß es wahrscheinlich wußte, woran es zerrte und riß. Er pfiff auf Moral – auf die gesellschaftsfähige und auf die andere. Aber wenn er sich hingab und es zum Aeußersten kommen ließ mit einem noch jungfräulichen Mädchen, so hätte er sich dadurch für dauernd gebunden gefühlt und das Mädchen berechtigt zu jedem Anspruch.

Hatte Nele im Lauf des Umgangs mit ihm erraten, daß er so einer war: so altmodisch in seiner Anständigkeit und gar nicht nach der Fasson, die in diesen Zeiten Mode war, Mode und von beiden Geschlechtern begehrt? Oder hatte Nele selbst nichts erraten, aber aus beiläufigen Aeußerungen ihrer Mutter oder aus beiläufigen Aeußerungen Rosas, frivolen und andern, etwas dergleichen herausgelesen? Hatte seine früher einmal und wahrscheinlich zu vorzeitig abgegebene Erklärung, daß er sie fragen wolle, ob sie seine Frau werden möchte, falls sich ihr Zusammenhalten bewähre – hatte diese Erklärung ihren Sinn so verblendet, daß sie in diesen Tagen, wo sie früher oder später zwischen der Entfernung von ihm oder dem Bruch mit Rosa würde zu wählen haben, der Versuchung nicht hatte widerstehen können, etwas zur Beschleunigung ihrer Wünsche zu tun? – Sein argwöhnischer Verstand sagte: alles ist möglich, aber erfahren wirst du die Wahrheit nie, weil du um deiner selbst willen davon nicht sprechen kannst, und weil die Menschen die Motive ihres Handelns ja durchaus nicht immer kennen. Sein Herz dagegen sagte nein. Nele 449 war ihm nie berechnend erschienen. Seiner Ueberzeugung nach hatte sich an ihr nur die alte fatalistische Ueberzeugung bestätigt, daß das heiße, süße, blutrote und verantwortungslose Leben irgend einmal sich des Menschen bemächtigt wie der Sturmwind des Staubes, der auf der Straße liegt, und daß es nach Belieben mit ihm verfährt in dieser Stunde. Aber sein Freispruch Neles änderte nichts daran, daß ihre Nacktheit unter dem Kleide abstoßend für ihn gewesen war, und daß sie es auch in der Erinnerung noch blieb. Diese ihm sozusagen zugespielte Nacktheit hatte ihn plötzlich zur Besinnung gebracht – und im selben Augenblick war die Vorstellung, die er von sich selbst hatte, rücksichtslos in Funktion getreten.

Deswegen war auch etwas ihm ehrlich aus dem Herzen Kommendes mit dabeigewesen, als er Nele gesagt hatte: »Du mußt morgen wieder allen möglichen Menschen frei ins Gesicht sehen können – frei wie bisher – und ich auch« . . . Rosa, Frau Ellegast, Wilhelm Elmenreich, Bruno, Dinah, ja nur seine Uniform, seine Stellung als Vormund von Saxers Sohn oder sein Verwaltungsratssitz: – das alles waren Menschen und waren Symbole, die für ihn etwas Verpflichtendes hatten. Wie hätte er sich vor ihnen verantworten können? Für Nele mochte der Hinweis auf die andern ein Spritzer leerer Worte gewesen sein; sie hatte so etwas ja noch nicht erprobt. Für ihn aber hatte auch das Gewicht und fiel mit in die Waage.

Immer wieder wälzte Valär alles dies hin und her und sagte sich, daß etwas geschehen müsse. Trotzdem fühlte er sich nach jeder neuen Grübeltour so ratlos wie zuvor. So vergingen drei Tage, vergingen acht Tage, vergingen zwei Wochen, und zum Schluß war noch immer alles beim Alten. Zuletzt hielt er es sogar für das Beste, daß nichts geschah, und lebte wieder von seiner Widerstandskraft, wie schon früher.

 

In Nele aber wuchs während dieser Zeit aus dem Gefühl der Erniedrigung, das sie in jener Nacht überwältigt hatte, eine gefährlich böse Stimmung empor. 450

Nun hatte sie bei Valär, seit sie ihn kannte, für alle möglichen Eigenschaften, die sie besaß, und für alle möglichen Leistungen, zu denen sie allmählich fähig geworden war, so viel Anerkennung gefunden, daß sie fast vergessen hatte, was für ein herumgestoßenes und unbeachtetes, von Erwartung, Zuversicht und Vertrauenswürdigkeit gemiedenes Geschöpf sie früher gewesen war. Er hatte nicht mitgemacht bei dieser Kampagne, von Anfang an nicht, hatte sie beraten, ermuntert, gefördert, beschenkt, hatte Wohlgefallen an ihr gefunden und sie sogar verwöhnt. Er mochte sie, hatte sie gern, sie war ihm recht, wie sie war – Nele wußte das gut, und niemand würde es ihr ausreden können, nicht einmal er selbst. Sie wußte auch, daß sie vieles von dem, was sie geworden war, dem Umgang mit ihm und seinem Einfluß verdankte. Er hatte ihr Selbstbewußtsein geweckt – er hatte ihr auch zum Bewußtsein gebracht, daß sie einen Körper hatte, und er hatte sie spüren lassen, daß er diesen Körper begehrte. Gut, er sollte ihn haben dürfen und mit ihm tun, was er wollte – sie selbst war gespannt, was sich dabei ergäbe, und wie sie es empfände. Aber sie hatte mit ihrem Geschenk keine Anerkennung bei ihm gefunden. Er hatte sich von dem Geschenk abgewendet.

Das Weib in ihr war dadurch aufs tiefste verletzt. Nele suchte nach Worten, um den Sitz ihrer Wunde und deren Art sich selbst deutlich zu machen; aber wenn sie sich lange genug gemartert hatte, kehrte sie immer wieder zu der verzweifelten Ueberzeugung zurück, daß das Eigentliche unfaßbar war. Wirklich und absolut klar war ihr nur, daß sie sich im Zentrum ihres Selbstgefühls und ihrer Würde getroffen fühlte. Sie kam sich verworfen und unvorstellbar gedemütigt vor, und diese Wunde blutete je länger je mehr.

Würden andere Männer ebenso zu ihr sein? Würden auch sie dem Weib in ihr die Anerkennung versagen?

Dieser Gedanke stellte sich ein, genau in dieser Form. Aber auch das war ihr furchtbar. Denn sie fühlte gut, wie trotz der schrecklichen Wunde, die Valär ihr geschlagen hatte, ihre Zärtlichkeit für ihn ungeschwächt weiterlebte, ja wie jetzt, mit sinnlichem Begehren vermischt, ihre Empfindungen für ihn stärker waren als je. Nie würde sie stolz genug sein, um unbeteiligt an ihm 451 vorbeizugehen, wenn sie ihn wieder träfe – und unter diesem Bewußtsein litt sie zuletzt fast am meisten.

Unter dem Druck dieser Leiden reifte in ihr ein Entschluß. Und genau am siebzehnten Tag nach der verhängnisvollen Nacht, als sie schon abgereist war, empfing Valär von ihr folgendes Brieflein:

Lieber Herr Valär,

ich fahre nun doch ins Tessin. Wie unmöglich wollte mir vor wenigen Wochen diese Trennung von Ihnen erscheinen! Heute bin ich froh, diese Zuflucht zu haben – es nützt nichts, das zu verschweigen.

Schreiben Sie mir nicht. Ich weiß jetzt, daß Sie mich nicht nötig haben.

Ihre Nele E.

Valär saß lange vor diesem Brieflein . . . War das nun wirklich der Gipfel des Lebens: für sie und für ihn?

 


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