Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XXXIV.

Rosas neues Haus war während des Frühlings fertig geworden, und gegen Ostern wurde es von ihr bezogen. Beim Umzug sah sie von jeder Festlichkeit ab, und sie konnte sich vor allen, die mehr von ihr erwartet hatten, mit einer prächtigen Entschuldigung retten: mit dem Tod ihres Vaters. Jeder senkte darob vor ihr das Haupt.

Auch im neuen Haus hatte sie ein großes Geschäftsbüro, aber die alten Möbel, die schon den Umzug ins Schwedenhäuschen mitgemacht hatten, nahm sie nicht mit. Der gleiche Althändler, von dem sie sie einst erworben hatte, holte sie ab, und sie war stolz, daß sie infolge der Frankenabwertung beinah die früheren Einstandspreise wieder erzielte.

Rosa hätte es nicht nötig gehabt, das gelbe, von Abfallverwertung lebende Holzwurmmännlein durch ihre Forderungen fast zur Verzweiflung zu bringen. Ihr Vater hatte sie zwar in einem sehr sorgfältig ausgearbeiteten Testament von jeder Teilhaberschaft an den Rufawerken und an seiner übrigen immobilen Hinterlassenschaft ausgeschlossen. Auch alle Hintertürchen, durch die sie sich nachträglich Einfluß auf das Unternehmen hätte verschaffen können, waren kunstvoll versperrt, und dadurch war einer ihrer größten Träume zerstört. Aber ihr Vater hatte sie durchaus nicht enterbt. Seine ganze Lebensversicherung hatte er ihr zu eigen vermacht, und diese lautete auf einen so hohen Betrag, daß sie selbst über den Umfang der Zuwendung staunte. Was konnte es da schon bedeuten, ob sie für einen Aktenschrank zwei, drei Franken weniger oder mehr bekam? Aber sie hatte wieder einmal so einen Tag, an dem sie aussah, als ob es ihr geradezu Uebelkeit mache, 346 wenn sie bedachte, daß andere sich auf ihre Kosten bereicherten. Sie gab daher in ihren Forderungen nicht nach . . . Nur der Globus, der kostbare Perserteppich und Egli, ihr Gehilfe, wurden aus dem alten Büro in das neue Haus übernommen. Rosa hatte ihn veranlassen wollen, sich in der Gemeinde ein Zimmer zu mieten, damit er es ein wenig bequemer habe. Aber er wollte sich von der Stadt aus unbekannten Gründen nicht trennen. Pünktlich auf die Minute kam er täglich auf einem mit Außenbordmotor ausgerüsteten Fahrrad angeschwirrt, unter Krach und Gestank, dürr wie eine Stabheuschrecke, aber stolz und aufrecht im Sattel. In seinem weißgrauen Spitzbart, der stets peinlich exakt geschnitten war, sah er jetzt ungefähr aus wie Wilhelm II. auf älteren Photos aus Doorn.

Rosas Mann dagegen war in dem neuen Haus keine Stätte bereitet, obgleich er doch ebenfalls ein altes und kostbares Stück ihres Hausrates war. Wie so vieles andere war auch das eine Folge davon, daß er im Sommer mit nassen Kirschensteinen nach dem Zimmermädchen geschossen hatte, so daß Rosa auf einem der Steine ausgerutscht war, und der siedende Tee ihn verbrühte.

Ach, dieser Unglücksfall! Anfangs hatte die Angst, daß er sterben müsse, den armen Patienten so heruntergebracht, daß er nur noch ein zitterndes nacktes Nervenbündel gewesen war, das sich vollkommen hilflos fühlte und alle Anordnungen Elmenreichs weh- und demütig ertrug. Als dann Elmenreich merkte, daß auch diese Demut nur eine Form versteckter Todesangst war, legte er es in unauffälliger Form darauf an, das ängstliche Interesse Streiffs an seiner Verletzung dadurch zufrieden zu stellen, daß er die Symptome mitfühlend mit ihm besprach. Schließlich war Streiff ja derjenige, dem es übel erging, mochte mit ihm sonst los sein, was wollte. Diese entgegenkommende, niemals verletzende Haltung dankte Streiff seinem Betreuer sehr, und er faßte Vertrauen. Er fügte sich um so williger, als auch der von Elmenreich zugezogene Spezialist ihn versicherte, daß die angewendete Behandlung durchaus die richtige sei, und die Wunde ihrem ganzen Aussehen nach einen unkomplizierten Verlauf des Heilungsprozesses erwarten lasse. 347

Kaum aber, daß die letzten Temperaturen verschwunden waren, und er sich dem Verderben entronnen fühlte, setzte er sich, wie ein zuchtloses Kind, über alle möglichen Verbote hinweg und begann heimlich zu sündigen. Statt seinen Rücken in Ruhe zu lassen, wenn es ihn unter dem Verband juckte und biß, kratzte er sich mit allen möglichen Gegenständen, die sich in den Verband einbohren ließen; sogar die Zinken der Eßgabel waren ihm dazu recht, wenn er nichts anderes hatte. Und anstatt die verordnete Diät einzuhalten, ließ er sich Kaviarbrötchen, saure Gürkchen, Tartarbeefsteak, Curryreis, Paprikaspeck und andere scharfe Leckereien servieren, die er gern aß, und bestach das bedienende Mädchen, daß es ihm jederzeit auch die gewünschten Mokkas, Schnäpse und Zigaretten besorgte.

Alle diese Gesetzesübertretungen taten ihm wohl, und zeitweise konnte er seine jämmerliche Stimmung so vollständig vergessen, daß er Valär gegenüber, bei dessen Besuch, bereits große Töne anschlug und im Hinblick auf seine Verwundung von einem Attentat sprach, einem hinterlistigen Anschlag und Racheakt – oh, diese Weiber! Seinem schonungsbedürftigen Körper schienen die Extratouren, die er sich gönnte, jedoch weniger gut zu bekommen. Denn nach ununterbrochen günstig gewesenem Verlauf des Heilungsprozesses traten zwei zentral gelegene Stellen auf, die sich um keinen Preis schließen wollten.

Wieder wurden Spezialisten herbeigezogen, der frühere und noch ein zweiter. Ihr Urteil brachte den Patienten von neuem herunter. Denn sie waren mit Elmenreich einig darüber, daß so, wie die Dinge lägen, eine Deckplantation mit Eigenhaut nicht zu umgehen sei. Das hieß nicht nur, daß er sich zur Vornahme der Operation in eine Klinik begeben mußte, in der er unter strengster Ueberwachung stand, sondern daß er noch weitere Wochen ans Bett gefesselt sein würde. Er jammerte ob dieser Aussicht wie ein junger Hund, der an die Kette gelegt worden ist, gab schließlich aber doch nach.

Die Operation hatte Erfolg, und Streiff konnte eines Tages mit zugewachsenen Wunden entlassen werden. Aber nun begann ihn der Schmerz darüber zu plagen, daß das entstellende Brandmal 348 mit seiner häßlichen, an rohe Schweineleber erinnernden Farbe nie mehr verschwinden würde, und daß es im Nacken so weit aus den Kleidern stieg, daß es im Rahmen der herrschenden Mode keine Möglichkeit gab, es ganz zu verdecken. Außerdem blickte ihn Rosa mit ihren grünen Augen so basiliskenhaft an, daß ihm der Schrecken von neuem in alle Glieder fuhr und er sich in ihrer Nähe seines Lebens erst recht nicht mehr sicher fühlte.

Die Folge war, daß er unter dem Vorwand, sich erholen zu müssen, der Stätte des Unheils den Rücken zukehrte und nach Italien reiste. Seit Monaten war er nun weg. Er ließ auch nichts von einer baldigen Rückkehr verlauten.

Dagegen gab es Zeugnisse dafür, daß er während der Zeit seiner Abwesenheit keineswegs untätig war. Er hatte schon immer sehr lebhafte Beziehungen zur französischen Literatur unterhalten und kannte viele ihrer Vertreter persönlich. Jetzt erhielt Valär zu verschiedenen Malen Drucksachen zugeschickt, darunter auch die neueste Nummer einer vornehmen literarischen Monatsschrift, mit Essays aus seiner Feder. Sie galten ausschließlich französisch schreibenden Autoren der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit, vorwiegend Romanciers, ihrer Persönlichkeit und ihrem Werk, und Valär vermochte sich dem Reiz des geistreichen Spiels dieser Essays nicht zu entziehen. Als er Rosa gegenüber, die er aus der Stadt in seinem Wagen mitgenommen hatte, auf der Fahrt mit einer gewissen Bewunderung von diesen Federerzeugnissen ihres Mannes sprach, hörte sie aufmerksam zu, sagte dann aber nur:

»Er hat mir schon früher gedroht, daß er sich eine neue Existenz gründen werde. Vielleicht meinte er das. Ich kann mir sogar denken, daß er Erfolg damit hätte: ein Blender und geistreicher Causeur war er ja immer. Nun, an mir soll es nicht fehlen, ihm bei Ausführung seiner Drohung behilflich zu sein. Ich bezahle ihm gern sein Arztgehalt weiter, wenn er mir nur endlich vom Hals bleibt . . . Aber nun mußt du mich aussteigen lassen. Dort vorn geht Frau Ellegast. Sie will sicher zu mir, um Nele bei der Arbeit zu stören, und wenn sie mich bei dir im Wagen sieht, würdest du sie anstandshalber ebenfalls mitnehmen müssen. Das wirst du kaum wollen.« 349

Nein, das wollte er wirklich nicht. Es war schon schlimm genug, daß sie wieder im Schwedenhäuschen wohnte und die Gegend mit ihrem Geflatter unsicher machte. Erst vor acht Tagen war er mit ihr zusammengestoßen, als sie aus der Apotheke kam, – er wollte hinein, sie kam heraus, und er hatte ihr nicht mehr ausweichen können. Vorn war ihr Kleid ganz voll von rosafarbigem Staub. Es sah nicht gut aus, und Valär machte sie darauf aufmerksam, aus Höflichkeit von Blütenstaub sprechend.

»Ach, ich habe Puder gekauft«, sagte sie, mit dem Taschentuch auf dem Stoff herumwischend, »ich wollte aprikosenfarbigen haben, aber der Apotheker ist ja so miserabel versehen damit, daß es schon eine Schande ist für unsere Kultur, nur drei Sorten hat er – er hat gar kein Lager. In der Stadt kann ich vier Dutzend Sorten zur Auswahl haben.«

Valär tat, als ob er Eile habe, und verabschiedete sich, aber sie schoß nur zwei Schritte weg. Dann kam sie zurück und sagte, ihn mit ihren dunklen Moorlochaugen befühlend:

»Können Sie sich denken, was mir vorhin passiert ist? Kommt da eine Frau zu mir, mitten auf der Straße hält sie mich an – eine Frau aus dem Dorf – ich kenne sie nicht, aber sie hält mich an, zupft mich am Aermel und flüstert: ›Nun ist da wieder ein Mann, der sein Holz nicht bezahlen kann. Was soll ich da machen?‹ – Ich weiß nicht, wie ich zu der Ehre komme, daß sie mich frägt, aber ich sage zu ihr: ›Gehen Sie doch dort zu dem dicken Metzger. Der hat.‹ – Und ich lasse sie stehen.«

»Und weiter?« fragte Valär.

»Gar nichts sonst. Wahrscheinlich hat sie nur mit mir reden wollen, weil sie weiß, wer ich bin, und daß ich schon in allen möglichen Ländern auf Konzertreisen war . . . Solche Kunststücke machen sie, nur damit sie beim Treppentratsch dann einander erzählen können, sie kennten mich auch.«

»Wie kommt es, daß Sie mir immer so merkwürdige Erlebnisse zu erzählen haben?« fragte Valär und steckte sich eilig eine Zigarette an, in der Meinung, daß Rauch sie vielleicht am ehesten vertreiben könne.

Mit einem kratzigen, fast lautlosen Lachen erwiderte sie: 350

»Weil ich rettungslos zur Phantastin werde, sobald ich in Ihre Nähe komme. Im allgemeinen bin ich das armseligste Wesen, vertrocknet die Haut, vertrocknet das Hirn. Aber an Ihnen, da ist etwas, was mich einfach – –«. Die Maschine blieb plötzlich stehen, fing nach einem Aechzer aber wieder zu schnurren an, und er hörte sie wie aus der Ferne sagen: »Nein, Sie haben wohl eine andere im Kopf!«

Ohne Gruß stob sie davon.

Jetzt, auf Rosas Warnung hin, wendete Valär eiligst den Wagen, nur um nicht an ihr vorbeizumüssen, und auf einem Umweg fuhr er weiter nach seinem Häuschen.

 

In dieser ersten Zeit nach Neles Rückkehr sahen sie und Valär sich nur selten. Während der ganzen Woche war er beruflich in der Stadt in Anspruch genommen – oft saß er bis tief in der Nacht auf seinem Büro –, die Zeit war sehr streng, und ein neuer Einberufungstermin stand zu allem hin wieder dicht vor der Türe. Sogar sein freier Donnerstag Nachmittag mußte der Arbeit geopfert werden.

Nele wußte das, und ebenso wußte er, daß es auch ihr nicht anders erging. Sie stand nun in Rosas Dienst, mit festem Gehalt, als Gehilfin Zünds, und werkte von sieben bis zwölf Uhr und von zwei bis sechs Uhr inmitten einer Schar von Erdarbeitern, Pflästerern, Gärtnern und Plattenlegern auf dem weiten Terrain vor Rosas Haus, wo es galt, nach den Plänen Zünds den vorgesehenen Garten aus dem Boden zu zaubern und vor allem darüber zu wachen, daß die für die einzelnen Pflanzengruppen vorgesehenen nährenden Erden im richtigen Verhältnis gemischt und in der vorgeschriebenen Tiefe über dem von den Wurzeln nicht mehr angeschnittenen Untergrund aufgelegt wurden. Denn unter den Gewächsen, die sich in dem Garten wohl fühlen sollten, gab es Liebhaber von leichten und schweren, von trockenen, feuchten und nassen, von sandigen, steinigen, felsigen, kalkigen, mulmigen und moorigen Böden – es war wie in einem großen Hotel, wo jeder Gast den Anspruch auf Zufriedenstellung seines persönlichen Bedarfes 351 erhebt und man bestrebt ist, jedem bis an die Grenzen des Möglichen entgegenzukommen.

In allen diesen Dingen wußte Nele, wenigstens schulmäßig, Bescheid, und wenn sie auch noch nicht zu kommandieren verstand und als einziges weibliches Wesen unter den Männern oft einen schweren Stand hatte, so griff sie doch herzhaft zu, wo es nötig war, und drang darauf, daß der Vorschrift nachgelebt wurde. An manchen Tagen war sie mit Rosa im Auto auch unterwegs, auf der Einkaufsreise bei den im Land zerstreuten Baumschulbesitzern und großen Handelsgärtnern, von denen der eine als Spezialist für dieses, der andere für jenes bekannt war. Denn das Jahr schritt vor, und es blieb bei der Anpflanzung keine Zeit zu versäumen.

So blieb das Wiedersehen zwischen Valär und Nele auf jene unvorbereiteten, meist kurzen und seltenen Male beschränkt, die der Zufall ergab.

 

Von reinster Anmut umgeben lebte später in seiner Erinnerung ein Spätnachmittag weiter, an dem er mit Nele an der nämlichen Stelle zusammentraf, an welcher er seiner Zeit den Mörderbock zur Strecke gebracht. Ein Himbeergeruch, der jahreszeitlich in nichts begründet war, wild und süß, hatte ihn schon am Eingang zum Wald überfallen. Vergangenes war gegenwärtig geworden mit Macht und hatte ihn unwiderstehlich zu jener Oertlichkeit hingezogen.

Als er sie erreichte, war Nele schon da. Sie war gar nicht verwundert, daß er erschien, und sagte, sie habe gewußt, daß er kommen werde. Im Traum sei er bei ihr gewesen – anfangs dieser Woche: – sie habe geträumt, sie sei im Garten des Schwedenhäuschens und hänge Wäsche auf. Da sei er mit einem Mal dagestanden und habe ihr über den Hag hinweg zugeflüstert, daß er sie heute an dieser Stelle erwarte. Mit großer Zuversicht habe sie seitdem dieser Stunde entgegengesehen.

Nele wirkte ein wenig verschlafen, als sie das sagte, sehr im Gegensatz zu ihrer sonst ganz fest in den Schuhen stehenden Art, 352 als liege der Traum, der sie hergeschickt hatte, ihr noch immer wie etwas Dickes im Blut. Ihre Hand war heiß, und eine feuchte glühende Röte ließ ihre Lippen seltsam groß und blühend erscheinen. Aber seine Stimme weckte sie auf, und sie bückte sich nieder zu Simba, um ihn zu streicheln: mit einer seltsam blinden strömenden Zärtlichkeit.

Sie blieben gerade dort, wo sie waren. Keines hatte das Bedürfnis weiterzugehen. Valär hob von einem Stoß benachbarter Reisigwellen zwei Buscheln herunter, sie waren von der Sonne durchwärmt, er drückte sie flach, die federnden Fichtenwedel dufteten gut, und sie setzten sich darauf nieder, mit dem Wellenhaufen als Lehne und Wand. Vor ihnen lag eine Wiese, dicht mit flammenden Löwenzahnsonnen bestickt, sie hing wie eine lechzende Zunge dem Wald aus dem Maul und fiel über den Hang zitternd hinunter, leckte hinaus ins freie Land und zwang die Augen, ihr in die Weite zu folgen, wo das zartgrüne Licht mit dem balligen Weiß blühender Bäume zusammenfloß oder sich mit dem knallroten Ziegeldach eines Gehöftes und dem heidelbeerdunklen Blau einer im Schatten liegenden Bergwaldlehne zu einem gobelinhaften Gewebe unbestimmter schwerer Töne verspann. Der Zilpzalp dengelte im nahen Unterholz mit seinem einförmigen Liedchen auf den Zweigen herum, und an den jungen Buchen sah man die Knospen geradezu springen. Es war Ende April.

Auch in Neles Augen zündete der schöne Tag helle goldene Lichter an – wie war an ihr alles warm und federnd und fest und zitterte leicht, wenn sie lachte! Sie hatte ihm sogar etwas mitgebracht, und er empfing damit ein Zeugnis dafür, daß sie ihn wirklich erwartet hatte.

Das Mitbringsel bestand aus Photos ihrer Kinderzeit und frühen Mädchenjahre. Valär hatte gelegentlich verlauten lassen, daß er sich vergebens vorzustellen versuche, wie sie ausgesehen habe, bevor sie ihm begegnet war. »Sicherlich nicht bemerkenswert«, hatte sie ein wenig erschrocken und verlegen erwidert. Ihre Mutter habe sie immer nur den Fadenwurm genannt, und wenn man irgendwo eine Schul- oder Gruppenaufnahme machte, sei es selbstverständlich gewesen, daß man sie in die hinterste Reihe bugsierte, 353 damit möglichst wenig von ihr zum Vorschein kam. Ein störendes unliebsames Gebilde, mehr sei nicht zu sagen.

Jetzt hatte sie aus einem Photoalbum sämtliche Bildchen und Bilder herausgerissen, die sie besaß, und legte sie, nach Jahren geordnet, in seine Hände, die letzten Bilder zu oberst, die ersten zuletzt. Und nun wanderten sie miteinander den jahrelangen Weg noch einmal zurück, bis dorthin, wo es in Neles Gedächtnis keine faßbaren Erinnerungen an das eigene Leben mehr gab, nur noch ein kunstloses Photo, worauf ein kleines, kaum jähriges Mädchen auf einer geflochtenen Matte am Boden saß, allein und nackt in einem großen leeren Raum, irgendwo auf einer australischen Farm, mit den Händen herumknetend an einem Gegenstand, der vordem wohl wertvoller Bestandteil eines sägmehlgefüllten Puppenkörpers gewesen sein mochte.

Während sie miteinander die Bilder langsam durchgingen und Nele ihm über die Schulter sah, sagte sie: »Das war auf dem Ozeandampfer, mit welchem wir nach Europa fuhren« – »Das war bei der Landung in Singapur« – »Das war nach der Ankunft in Rotterdam« – »Das war in den Dünen von Texel«. Nachdem sie in Europa dann endgültig Fuß gefaßt hatten, tauchten alle die Länder, Familien und Kinderversorgungsanstalten auf, in denen sie, wie Nele auch jetzt wieder sagte, allein oder zusammen mit ihrem Bruder, »untergestellt« worden war, wenn die Mutter sich auf unbestimmte Zeit von ihnen trennte, und während sie ihre Kommentare gab, meist nur stockend und kurz, zog unzusammenhängend und bunt ein Panorama verschiedenartigster Situationen und Menschen vorüber: ein deutsches Institut mit vielen Judenkindern, in dem alles nach Gänseschmalz roch, sogar das Petroleum – ein fideles Krankenzimmer und die verschnupfte Stimme der Vorsteherin – der Knabe, der aus Wut auf den Rechenlehrer seine Schulsachen im Zimmer verbrannt und dabei das Haus angezündet hatte, so daß es in Flammen aufging und sie durch die Fenster sich hatten retten müssen – ein Piano mit einem Metronom darauf, dessen schwingender Zeiger aus einer alten Zahnbürste bestand – die Russenfamilie, in der sie nicht genug zu essen bekam und die Winterkartoffeln in der Badewanne aufbewahrt 354 wurden – es war fast nur Befremdliches oder Unangenehmes, was sie zu berichten hatte – niemals kam sie ins Schwärmen oder ins Jauchzen, niemals entfuhr ihren Lippen ein lustiges Wort, wie es doch beinahe immer geschieht, wenn man aus einer gewissen Entfernung zurückblickt auf seine Kindheit. Bei manchem Bild fiel Nele auch gar nichts ein – sie setzte an zum Erzählen, aber sie brach wieder ab, denn was zu dem Bildchen gehören würde, das hatte sie vergessen, oder es war auch nie etwas dagewesen. Sie machte kein Hehl daraus, daß sie das als wenig rühmlich empfand, aber die Welt hatte sich nie etwas aus ihr gemacht, oder sie war ihr unverhohlen feindlich gewesen. Die Welt hatte sie behandelt wie etwas, womit man keinen Staat machen kann.

»Aber das alles bedrückt mich jetzt gar nicht mehr«, sagte sie, die Bilder und Bildchen wieder zusammenraffend, und ihre Stimme schwang mit einem tiefen, samtenen, summenden Ton an seinem Ohr vorbei in den blühenden Tag. »Seit ich Sie kenne und Sie immer so gut zu mir sind, und auch Frau Doktor Streiff so gut ist mit mir, seitdem ist das alles wie in einem dicken Nebel versunken.«

Erst während Neles Bericht war es Valär wirklich klar geworden, wie verstimmt er darüber gewesen war, daß sie seit ihrer Rückkehr ins Schwedenhäuschen mit ihrer Mutter zusammenlebte. Denn er war überzeugt, daß diese unselige Frau alles tun werde, um sie ihm zu entfremden. Er war sogar nach der letzten flüchtigen Begegnung mit Nele nicht einmal mehr sicher gewesen, ob das der Frau nicht schon bis zu einem gewissen Grade gelungen war. Jetzt war die frühere Nele, umgeben von dem rührenden Schimmer des großen Alleinseins, den er an ihr liebte, unversehens und lebensgroß wieder da und neigte aus diesem Alleinsein heraus sich ihm zu mit einer freimütigen und doch scheuen Gebärde.

Valär entgegnete nichts. Aber er faßte nach ihrer Hand, zog sie näher und hielt sie fest. Sie blickte ihn an. Auch ihre andere Hand holte er danach herbei. Sie schloß die Augen. Mit seinen beiden Händen führte er ihre beiden Hände an seinen Mund und küßte nacheinander die Fingerknöchel. Er kam zu den Fingerspitzen und 355 küßte auch sie, und es dünkte ihn, sein Mund sei schon lange nicht mehr mit etwas so Süßem beschäftigt gewesen. Der Zipzalp sang. Dann legte Valär den Arm um Neles Schulter, zog sie zu sich heran, sanft, ohne Hast, damit sie nicht erschräke. Er kam dabei an ihr Haar und streifte es mit einem Kuß. Danach kam er an ihren Hals und küßte auch ihn. Sie erschauerte leicht. Er bog ihren Körper noch ein wenig tiefer hinein in seinen Arm, küßte sie auf die Wangen, auf die Stirn und die Augen, und zuletzt küßte er sie auf den Mund; dazu wiegte er sie leicht in seinen Armen.

Sie fühlte sich ein wenig leblos an in seinem Arm, aber ihr Mund war heiß und durchaus nicht gefühllos. Valär hatte gut gespürt, wie seine Berührung ihr alle Adern durchrann. Jetzt küßte er sie ein zweites und drittes und viertes Mal auf den Mund, und jedesmal öffneten sich ihre Lippen ein wenig weiter, als legten sie Wert darauf, daß nichts von der heißen behutsamen Zärtlichkeit, die sie spürten, verloren ging. Als er den Arm zu lockern begann, bewegte sich Nele in ihre frühere Haltung zurück, wie ein Halm, den der Wind nicht mehr beugt, und so blieb sie sitzen; ihre Augen waren noch immer geschlossen, die Stirn gesenkt, und sie hüstelte leicht. Das Hüsteln hörte auf, aber Bewegung kam keine in sie – und Valär fühlte seine Verständnislosigkeit wachsen. Hatte er etwas falsch gemacht? – Mit einemmal öffnete sie die Augen. Zunächst regte sie sich immer noch nicht. Dann hob sie den Kopf, wandte sich zu ihm hin. Sie blickte ihn an, in einer unsagbaren Art, namenlos traurig vielleicht, glühend von einem dunklen Schmerz, so daß er erschrak und nicht länger hinsehen konnte. Was wollte sie sagen? Wußte sie es?

Da hörte er etwas rascheln, und im nächsten Augenblick hing ein wilder Mädchenkörper an seinem Hals.

 

Dann machten sie noch einen langen Weg. Valär hatte eine große Tafel Jägerschokolade bei sich, sie war mit Biskuit, Rosinen und Mandeln gefüllt. Er knisterte damit in der Tasche, so daß Nele aufmerksam wurde, zog dann die Tafel hervor und bat Nele, mit 356 ihm zu teilen. Sie war begeistert, und sie aßen die Tafel zusammen radikal auf. Arm in Arm gingen sie durch den Wald, manchmal trennten sie sich und drängten sich hinter den Bäumen wieder zusammen – der Tag mit seinen Erregungen und schwankenden Stimmungen hatte sie beide berauscht, das Wehe daran war vergessen. Sie kreuzten ein offenes Tal, kamen an einem Gehöft vorbei, der Bauer, der eben vom Haus in den Stall ging, um die Kühe zu melken, blickte ihnen neugierig nach, und ein Hund riß wütend an seiner Kette. Aber sie lächelten einander nur an und schwiegen. Keinen Widerstand fühlten sie in sich gegen das, was sie taten – der Hund hätte auch gebellt, wenn jedes allein über den Hofplatz gegangen wäre, und als Nele beim Abschied in flehendem Tonfall sagte: »Jetzt müssen Sie uns aber bald einmal besuchen kommen, im Schwedenhäuschen«, da fühlte er sich zwar überrumpelt, aber er protestierte nicht. Nele sollte nicht glauben, sie sei ihm nur recht bei Gelegenheiten, wo ihre verrückte Mutter außer Reichweite war, und er nicht viel zu opfern brauchte. Ebensowenig sollte sie auf den Gedanken kommen, daß er sich nichts daraus mache, einmal seine Hand auf den Tisch zu legen, an dem sie täglich saß, oder die Gegenstände zu sehen, in deren Gesellschaft sie lebte. Ebensowenig sollte ihre Mutter glauben, daß er ruhig zusehen würde, wenn es ihr einfallen sollte, seine Beziehungen zu Nele, so wie er sie nach dem Erlebnis von heute empfand, in irgend einer Art zu gefährden.

Er wollte deswegen gern das tun, worum Nele ihn bat.

 


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