Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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LIV.

In außerordentlichen Zeiten ist die Neigung groß, sich am Rand der Willkür dahinzubewegen, und der Anreiz zur Nachahmung dieses Verhaltens ist so beträchtlich, daß auch die Auslegung, Anwendung und Vollstreckung des geltenden Rechtes nicht verschont wird von Aenderungen, die in der allgemeinen Gemütsverwirrung nicht als Unrecht empfunden und wieder vergessen werden, sobald ein gewollter und oft sehr beschränkter Zweck damit erreicht ist.

Als daher Josua Leuthold, der abgesetzte Pfarrer, von neuem im Land herumzog und Vorträge über eine geheimnisvolle Fünfte Kolonne hielt, die den natürlichen Widerstandswillen des Volkes gegen einen möglichen Ueberfall durch ein unablässiges Gerede von der Nutzlosigkeit jeder Verteidigung zu zerrütten trachte und schwankend gemachte oder schwachmütige Volksgenossen zu landesverräterischen Umtrieben aller Art zu verlocken suche – da schritt Bruno zur Tat. Denn der frische Stoff, mochte an ihm sein, was wollte, wurde von Leuthold ausschließlich zur Wiederinszenierung seiner Fremdenhetze mißbraucht.

Leuthold hatte seit seiner Amtsentsetzung mit seinem Ausländerkreuzzug kein Glück mehr gehabt. Auch er hatte zwar in der Zwischenzeit taktisch manches gelernt und war in der Art, in der er sich an die Oeffentlichkeit wandte, weniger plump und gurgeltönig als früher. Er stellte sich den Leuten nicht mehr mit dem einstmals beliebten Nachdruck als berufener Retter des Vaterlands vor und als einen jener wenigen Männer, die über genügend Einsicht in die Wurzeln alles Uebels verfügten, um Anspruch auf eine Führerrolle erheben zu dürfen, sondern setzte stillschweigend voraus, daß jeder seiner Hörer ein ebenso uneigennütziger und reiner Idealist sei wie er selbst und daher von der gleichen edlen Besorgnis erfüllt: – wem hätte das nicht geschmeichelt, selbst wenn er der traurigste Lump sein mochte!

Mit um so größerer Betontheit arbeitete er in seinen Reden und Artikeln alles das heraus, was ihm an den gegenwärtigen Zuständen bedenklich und verwerflich erschien, und mit alleräußerster Anspannung seiner Geisteskräfte und seiner zweideutigen 517 Redekunst versuchte er den Leuten zu zeigen, wovor sie Furcht haben müßten. Da aber die Furcht in jedem Menschen einen Winkel seiner Seele bewohnt und jeder gern auch ein wenig fanatisch ist, zog er diesen und jenen, der irgendwo mittun wollte, aber sich selbst nicht lenken konnte, zu sich heran und spannte ihn vor seinen Wagen. Eine eigentliche Macht hatte er nicht, nicht einmal einen greifbaren Anhang. Politiker hielten ihn für einen Querkopf, der nur bei andern Querköpfen Anklang fand, so daß man glaubte, ihn am wirksamsten dadurch entmannen zu können, daß man ihn und seine chaotische Mitläuferschaft ignorierte. Sein Blättchen konnte nur noch alle vierzehn Tage erscheinen – auch das wurde als ein Zeichen schwindender Lebenskraft seiner Bewegung vermerkt.

Seit nun aber im gegenwärtigen Frühling zwei kleine nordische Länder von ihrem mächtigen südlichen Nachbar fast mühelos überrannt worden waren, nicht zuletzt, weil Angehörige dieser Völker sich mit der Invasionsmacht verschworen und deren Truppen geradezu mit offenen Armen empfangen hatten, seitdem war das Land in einen schlimmen Fieberzustand geraten, der jede Art von Verräterei in den eigenen Reihen für möglich hielt. Denn Stimmen von Männern, die mit den Ideologien der Diktaturstaaten sympathisierten, waren auch hier im Lande zu hören.

Damit hatte der abgesetzte Pfarrer einen neuen saftigen Agitationsstoff gefunden, und er quetschte ihn höchst kunstgerecht aus. Aus allen Parteilagern und Klassen, Vorder- und Hinterhäusern, Straßen und Gassen sog er die Aengstlichen auf, und ebenso strömte ihm jene undefinierbare Masse zu, in der sich die mit irgend etwas Unzufriedenen und jederzeit Korruptionsgläubigen stauen. Die Versammlungen, in denen er sprach, füllten sich wieder, und er konnte sich über Mangel an Beifallsgebrüll nicht beklagen, wenn er mit seiner dröhnenden Lautsprecherstimme und auch an Gesten nicht arm von Dingen sprach, über die man sonst nur zu flüstern und zu tuscheln wagte. Denn er sprach ja im Namen der »Sicherheit« und der »Volkswohlfahrt« für die Bewahrung heiligster Güter vor Verrat und Verschleiß. Jede Anklage, die er erhob, wurde mit demselben Aufwand schillernder und 518 vieldeutiger Wörter, die ihren Sinn unbemerkt wechselten, und mit einer dumpfen Eintönigkeit auf dieses sogenannte Wohl aller bezogen, und überall war Verführung, nur nicht bei ihm. Konkrete Fälle nannte er nie. Um so geschäftiger war er in Andeutungen. So vermehrte er die Angst und Unruhe noch, anstatt sie zu beschwichtigen, trieb das Fieber noch höher empor und peitschte auf die negativen Gefühle ein, bis sie schäumten. Zwar stob die chaotische Masse, die sich einfand bei ihm, wieder ebenso zusammenhanglos auseinander, wie sie herbeigeströmt war, und zerstreute sich in alle Winde wie eine Handvoll fortgewirbelten Staubes. Aber eine Frucht zeigte sich doch: das gegenseitige Mißtrauen wuchs.

Auch in Escholzwil war einer der Agenten des abgesetzten Pfarrers erschienen und hatte einen Wirtschaftssaal für einen Vortrag Leutholds über die Fünfte Kolonne sicherzustellen versucht. Alle Säle in der Gemeinde waren ihm jedoch verweigert worden – keiner der Besitzer wollte es darauf ankommen lassen, daß man ihn für einen seiner Parteigänger hielt. Der Agent war deswegen zuletzt nach Dreitannen gepilgert, und in Unkenntnis der Umstände hatte Zünds Vater, der Wirt, ihm die dortige Kegelbahn zur Verfügung gestellt; ein anderer brauchbarer Raum war nicht vorhanden.

Bruno erfuhr von diesem Plan. Er war inzwischen Fliegerleutnant geworden, war eingeteilt und flog eine der schnellen neuen Jagdmaschinen, die zu den stolzesten Vögeln der jungen Luftmacht gehörten. Da der westliche Kriegsschauplatz andauernd ruhig war, hatte er jedoch, gleich andern Altersgenossen, für das Sommersemester einen Studienurlaub erhalten, den er allerdings nicht in vollem Umfang ausnützen konnte, weil die eigentlichen Lehrkurse für Architekten der Anfangsstufe erst im Wintersemester begannen. Aber Brunos Interessen waren so weitläufig und so brennend, daß trotzdem seine Tage mit dem Besuch von Vorlesungen und handwerklichen Kursen ausgefüllt waren. Er wohnte in der Stadt, kam aber über das Wochenende oft genug heim. Er kam auch nach Dreitannen zu Zünd und traf sich dort, wie früher, mit seinen Freunden.

Von Zünd hörte er über die Abmachungen zwischen dessen 519 Vater und dem Quartiermacher Leutholds. Er habe größte Lust, dazwischenzutreten, sagte Zünd, und die Abmachung zu widerrufen.

Bruno, der Leuthold schon in der Stadt über das vorgesehene Thema hatte sprechen hören, riet davon ab.

»Lassen wir ihn ruhig kommen«, erwiderte er. »Mein Vater pflegt von ihm zu sagen, der Himmel möge wissen, wozu so einer gut sei auf dieser Welt. Aber zu irgend etwas werde er ja auch nötig sein. Wir wollen annehmen, daß mein Vater recht habe mit seinem Spruch. Wir wollen aber auch annehmen, daß es Menschen gibt, die sich gequält fühlen von dem üblen Geruch, den diese Stinkmorchel verbreitet, und wir wollen ihn warnen, mit dieser Quälerei weiterzufahren. Ich bin ja nun volljährig und stimmberechtigt – wir stehen uns daher jetzt als Staatsbürger wie gleich zu gleich gegenüber.«

»Sie wollen ihm hier entgegentreten?« fragte Zünd.

»Ich werde ihm schreiben und ihm raten, seine Versammlung hier abzusagen. Denn es ist der Weg des Niedergangs, den wir gehen, wenn wir sein Auftreten dulden, nur weil bei uns jedem das Recht zur freien Meinungsäußerung verfassungsmäßig gesichert ist. Hört er auf die Warnung, so ist es gut. Schlägt er sie in den Wind, so ist es vielleicht noch besser . . . Ich werde ihn nicht mit meinem Motorrad überfahren, wie ich es ihm einmal angedroht habe. Aber er wird einen so saftigen Denkzettel erhalten, daß er unseren Gemeindebann nicht mehr betreten wird. Dafür stehe ich ein.«

So sagte Bruno.

Einst hatte man nicht gewußt, was für Träume dieser junge Mann in seinem Kopfe wälzte und bei sich erwog. Man hatte nur gewußt, wovor er floh. Als dann die Träume in ihren flatternden Umrissen sichtbar geworden waren, schienen die heftigen Bedürfnisse der Einbildungskraft und ihr leidenschaftlicher Drang, sich an etwas Haltbietendes anzuklammern, mochte es noch so zufällig sein, in diesen Träumen mehr Raum einzunehmen, als überhaupt Raum darin vorhanden war. – Diese wilde und besorgniserregende Zeit war vorbei. Bruno hatte sich selber gefunden und mit seinem 520 unverwüstlichen Glaubens- und Willenskräften sich angeschlossen an etwas, was bleibt und die Sicherheit seiner Dauer sich dadurch verschafft, daß es sich unter Wehen und Krämpfen in jedem Menschen erneuert, der kommt und geht.

Dieses Bleibende, unfaßbar in seinem Wesen und in seiner wahren Weite und Ausdehnung nicht zu bestimmen, hatte einen mächtigen und sehr stoffreichen Kern, und dieser Kern war für Bruno das Vaterland, nun um so heißer geliebt, je mehr er es früher bemißtraut hatte . . . Es war eine Ehre, für dieses Land die Waffe zu tragen! Es war eine Freude, in ihm geboren zu sein, und es war für ihn ein Genuß, im gärenden gegenwärtigen Zustand des Vaterlandes die Vorbereitung auf eine allgemeine künftige Größe jenes Europa zu sehen, von dem es ein bescheidenes, aber lebenswichtiges Glied war.

Diese neue und große, glückhafte künftige Zeit, die sich für viele hinter den trüben Ausdünstungen einer schreckhaften und erschütternden Gegenwart so unnahbar verbarg, daß sie überhaupt nicht an sie glauben konnten, hatte für Bruno, wenigstens im Geist, schon begonnen. Denn die Umwälzungen, die faktisch jetzt erst im Anlauf waren, hatte er im Geiste alle schon durchgemacht und glücklich ans Ziel gebracht. Sie konnten für ihn nicht mehr scheitern. Aber der Vorwärtsdrängende blieb er auch jetzt, und wenn die andern nicht mutig waren und sich einen Unruhestifter wie Leuthold gefallen ließen, so mußte er für sie handeln.

 

Aber auch Leuthold war mutig und kam, trotz Brunos Rat, nicht zu erscheinen.

Der Zulauf zur Versammlung war nicht sehr groß; denn die meisten wehrfähigen Männer waren im Dienst. Von Brunos Getreuen aus dem Dreitannenklub war aus diesem Grund nur Kari Bösch mit zugegen. Aber im Augenblick, in dem Leuthold sich erhob, um zu beginnen, trat Bruno auf ihn zu und sagte, so daß alle es hören konnten:

»Diese Gemeinde hat Sie weggewählt und hat Ihnen damit zu verstehen gegeben, daß sie nichts mehr mit Ihnen zu tun haben 521 will. Man hat Sie auch gewarnt, unser Gebiet noch einmal zu betreten. Trotzdem haben Sie sich abermals bei uns eingedrängt, um Verwirrung zu stiften. Das ist nicht schön von Ihnen. Es ärgert uns. Wir werden Ihre Rede nicht dulden. Wir fordern Sie auf, davon abzusehen und lautlos zu verschwinden. Sollten Sie diesem Rat nicht augenblicklich Folge leisten und den Saal hier verlassen, so werde ich Sie eigenhändig am Kragen nehmen und in dem draußen stehenden Auto an die Gemeindegrenze befördern.«

»Ich bin nicht mehr Pfarrer«, wehrte sich Leuthold. »Ich rede als Bürger hier. Sie haben mir nichts zu gebieten.«

»Schmeißt ihn raus! Recht so ist's«, rief im Hintergrund eine Stimme. »Was will er, der Schleicher? Schmeißt ihn auf die Straße! Es ist nicht Gottes Wille, daß er hier spricht. Es ist auch nicht unser Wille!«

»Halt, solche Reden können hier nicht geduldet werden«, warf sich ein anderer dazwischen. »Herr Leuthold steht unter dem gleichen Gesetz wie jeder von uns. Unter diesem Gesetz darf er auch sprechen.«

»Wenn der Elmenreich ihn nicht hinauswirft, tun wir es«, schrie ein anderer in das sich verstärkende Stimmengewirr. »Bei Gott, wir tun es! Er hat lange genug bei uns herumgestunken und uns die Köpfe verdreht.«

»Er darf sprechen!« erhob sich die dünne Stündlerstimme des Briefträgers Aebersold. »Er darf sprechen so gut wie ihr. Was ihr macht, ist Aufruhr. Wir rufen die Polizei!«

»Darf er auch lästern?« fragte Bruno zurück. »Darf er unter unserem Gesetz nach Belieben verleumden?«

»Die öffentliche Hand wird ihn zur Rechenschaft ziehen, wenn er es tut«, mischte der frühere Verteidiger sich wieder ein. »Die öffentliche Hand wird ihn bestrafen. Ihr habt nichts zu bestimmen hier!«

»Die öffentliche Hand mag sich zeigen, wenn sie zur Stelle ist«, rief Bruno in den Saal. »Sie mag ihn unter ihre Fittiche nehmen. Wenn sie ihn unter ihren Fittichen hat, soll er reden dürfen. – Wo ist die öffentliche Hand, die ihn bestraft, wenn er sich vergeht? Sind Sie die öffentliche Hand, Aebersold?« 522

Ein stürmisches Gelächter erhob sich bei dieser Frage. Dieses verschlissene Männchen mit seiner frommen Schnüffelnase, dieser Lemur!

»Meldet sich niemand?« fuhr Bruno fort. »Gut! Die öffentliche Hand sind dann eben wir in dieser Stunde! Und wir verfügen, daß er nicht spricht. Denn wenn er nicht spricht, kann er auch kein Unrecht begehen. Von fünf Uhr an können dann andere wieder die öffentliche Hand sein und deren Amt übernehmen. Jetzt sind es wir!«

Damit packte Bruno den abgesetzten Pfarrer mit einer Hand im Genick, mit der andern an der Schulter, Kari Bösch faßte von der andern Seite her zu, und sie stießen ihn vor sich her an der sich drängenden Menge vorbei durch die Türe, und draußen stießen sie ihn in den Wagen. Kari Bösch setzte sich neben den Delinquenten, Bruno ließ den Wagen an und fuhr ab, aber nicht in der Richtung gegen die Gemeinde, sondern westwärts gegen das Hintertal, wo in einer Entfernung von etwa drei Kilometern die Gemarkung zu Ende war und der Bann einer neuen Gemeinde begann.

Hier hielt Bruno an; sie holten Leuthold aus dem Wagen und führten ihn über die Grenze. Dort hielten sie abermals an, und Bruno sagte zu Leuthold:

»Sie sind nun viele Jahre der Sämann gewesen. Sie sind durch unser Land geschritten, als ob es Ihr Acker wäre. Sie haben Ihren Samen in die Furchen gestreut, und niemand hat Sie gehindert an dem Ihnen so wohlgefälligen Werk. Nun möchten Sie wohl auch ernten und die Früchte genießen, die Ihre segensreiche Tätigkeit unter Gottes Himmel getragen hat? – – Mensch, Mensch, das sollen Sie auch! Und weil Sie sonst ja doch keinen haben, der Ihnen zu diesem verdienten Genuß Ihrer Arbeit verhelfen könnte, so wollen wir es jetzt tun und wollen versuchen, es recht zu machen, damit Sie nicht höheren Ortes behaupten können, man habe Sie um den Ertrag Ihrer Arbeit betrogen.«

Nach diesen Worten ging Bruno zum Wagen, holte aus dem Kofferkasten ein Bündel langer Stricke hervor, kam wieder heran und sagte zu Leuthold: 523

»Sie können von uns jetzt verlangen, daß wir Sie zum nächsten Polizeiposten bringen, damit Sie uns wegen Freiheitsberaubung anzeigen können. Dann werden wir diese Stricke nicht nötig haben. Wir setzen Sie in den Wagen und führen Sie hin. Schon früher einmal habe ich Ihnen eine Anzeige nahegelegt. Sie haben mir nicht diesen Gefallen getan. Jeder Auseinandersetzung vor dem Richter sind Sie bisher aus dem Wege gegangen, weil Sie selbst nur allzugut wissen, daß Sie sich ja nicht rechtfertigen können. Vielleicht finden Sie sich endlich, endlich nun aber doch genötigt dazu. – Wollen Sie es also jetzt tun?«

»Nein!« antwortete Leuthold.

»Nein – so – abermals nein!« wiederholte Bruno, mit einemmal weiß vor Wut und sich nur noch mühsam beherrschend: »Feig wie eine Hyäne, aber immer mutig dabei, wenn es gilt, irgendwo ein Aas auszuscharren und sich darauf in Wollust zu wälzen! . . . In diesem Fall gibt es für Sie nur noch die Möglichkeit, daß Sie diesen Weg hier so schnell wie möglich unter die Beine nehmen und aus unserem Gesichtsfeld verschwinden. Denn wenn Sie auch das nicht tun – wissen Sie, was Ihnen dann blüht? . . . Dann ziehen wir Ihnen die Kleider vom Leib, hier auf diesem Platz, und mit diesen Stricken binden wir Sie dort an jenen Straßenbaum, so daß jeder Sie sehen kann, der des Weges daherkommt. Der Herr Christus, den Sie so oft im Mund geführt haben, hat weniger Schlimmes getan als Sie und ist dafür sogar gekreuzigt worden. Niemand wird sagen können, wir seien grausamer gewesen als seine Henker, wenn wir Sie nur binden, und Sie hätten Ihr Los nicht verdient.«

Damit drehte Bruno ihn um, reichte ihm seine Aktentasche und gab ihm einen Stoß in der Richtung der Straße, die vor ihnen weiterführte ins Bauernland. Leuthold, einmal in Gang gebracht, ging mechanisch weiter, und sie blickten ihm nach, bis er um eine Biegung verschwand. 524

 

Dennoch hätte sich Bruno wohl abermals von Leuthold betrogen gefühlt, wären nicht Ereignisse eingetreten, die so aufwühlend waren, daß die ganze Leuthold-Affäre auch für ihn lautlos im Gebrüll der plötzlich über Europa hinrasenden Stürme versank.

Das erschütterndste dieser Ereignisse war der blitzartige Zusammenbruch Frankreichs unter den Schlägen der Deutschen, deren bewaffnete Macht mit einemmal auch an der ganzen westlichen Grenze des Landes erschien und siegesbewußt dort Stellung bezog. Auch Italien trat plötzlich aus seiner Nonbelligerenza hervor und sprang in den Krieg, und niemand wußte, was hinter diesem Getümmel noch drohte. Nur eines war gewiß: schon als Frankreich bereits knieweich war und zu wanken begann, aber zunächst noch widerstand, wurde der heimatliche Luftraum in den Verfolgungskämpfen der feindlichen Flieger so oft verletzt, daß fast täglich ein Protest nach da- oder dorthin abgehen mußte. Ob es sich bei diesen Uebergriffen um ungewollte Versehen handelte, die durch mangelhafte Kenntnis der Grenzen verschuldet waren, oder um unbekümmerte Nichtbeachtung, auf die man es von Fall zu Fall ankommen ließ, weil sich für den einen oder andern der Gegner gewisse Vorteile aus seinem Verhalten ergaben, fiel weniger ins Gewicht, als daß die Uebergriffe überhaupt geschahen, und daß sie sich, trotz papierener Entschuldigungen der Missetäter, fortgesetzt wiederholten. Das durfte unter keinen Umständen auf die Dauer geduldet werden. Wie leicht konnte jede nachlässige Behandlung dieser Verstöße von einer der Parteien als neutralitätswidrige Begünstigung des Gegners ausgelegt werden: ganz abgesehen von dem schlechten Eindruck, den eine mangelhafte Wahrung der eigenen Hoheitsrechte im Lande selbst hätte machen müssen.

Auch Bruno wurde daher aus seinem Studienurlaub zurückgerufen und mit seiner Staffel jenen Jägern erster Linie zugeteilt, die in Zukunft zur Abwehr jeder Verletzung des heimatlichen Luftraums eingesetzt werden sollten. Ließen sich die eingedrungenen Flieger gutwillig zur Umkehr bewegen und widerstandslos zur Grenze zurückgeleiten: – um so besser für sie. Auch Nötigung zur Landung kam in Betracht, wenn es bis zur Grenze zu weit 525 war. Im Fall von Widersetzlichkeit oder einer feindseligen Gegenhandlung galt es jedoch, Gewalt unerbittlich mit Gewalt zu vergelten.

Bei einer dieser Aktionen ging Brunos Stern unter. Ein Trupp fremder Bomber, der gegen Ziele im Feindesland eingesetzt worden war, wählte zur Umgehung der feindlichen Abwehr und zur Verkürzung des Abmarschwegs den Weg quer durch die Schweiz. Er wurde gestellt und unblutig zersprengt. Nur zwei dieser Bomber, die für sich allein ziellos im Land herumflogen, wollten sich nicht zur Raison bringen lassen und beantworteten die Aufforderung zur Landung ohne weiteres mit einer wilden Schießerei. Bruno, der Blitz, wie Dinah ihn nannte, warf sich sofort mit seinem ganzen Ungestüm wie ein Habicht auf einen der Gegner, und nach einem kurzen heißen Kampf schoß er ihn ab.

Inzwischen wurde er aber selbst vom zweiten Bomber gefaßt und zu Boden gezwungen. Mitten in einem wogenden Aehrenfeld schlug er nieder und wurde schließlich mit einem Schläfenschuß tot unter den Trümmern der Maschine hervorgeholt.

Er war zwischen Himmel und Erde gefallen wie eine Sternschnuppe, die auftaucht aus der unergründlichen Nacht, eine blendende kurze Leuchtspur erzeugt und im unergründlichen Dunkel wieder erlischt. Aber einige hatten den fliegenden Stern doch gesehen.

 


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