Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XXXIII.

Die deutschen Truppen marschierten in Oesterreich ein, und der Anschluß wurde vollzogen. Ging er zurück auf Begeisterung für die neue Europaidee? Oder auf Drohung mit Gewalt gegen die, die sich ihm widersetzen wollten? Jedenfalls wurde er kurz danach durch eine Volksabstimmung mit überwältigender Mehrheit für die Anschlußfreunde legalisiert.

Bei vielen, die es nicht gern sahen, daß damit ein großes Stück 341 der Schweizer Grenze aus politisch und militärisch ohnmächtigen Händen in den Besitz eines viel unruhigeren und stärkeren Nachbarn übergegangen war, hatte Furcht die Folgen dieses Ereignisses schon vor seinem Eintritt vorweggenommen und in sehr düsteren Farben gemalt. Es blieb daher nicht aus, daß ein erstauntes und zugleich erleichtertes Aufatmen durch ihre Reihen ging, als auf der politischen Bühne nichts Böses im Anschluß an dieses Ereignis geschah. Noch ein paar Tage befanden sich diese Leute in einem Zustand wie Pferde bei einem Gewitter. Als aber die Engländer weiterhin ruhig ihren Geschäften nachgingen, als sei für sie gar nichts Unangenehmes an dieser Machtverschiebung, da waren jene Leute die ersten, denen es gar nicht schwer fiel, sich mit den neuen Zuständen wie mit etwas unabwendbar Gewesenen abzufinden: nur, weil die öffentlichen Folgen der Umwälzung so weit entfernt waren von den schwarzen Einbildungen, mit denen ihre Angst sie geblendet hatte. Jetzt, wo sie meinten, daß für sie selbst keine Gefahr mehr bestehe, erhoben sie ihre Stimmen laut, daß, wer als Subjekt in der Weltgeschichte auftreten wolle, natürlich auch bereit sein müsse zu kämpfen: als hätten sie selbst diese Entdeckung gemacht und in ihrem Herzen nie etwas anderes erwogen. Etliche waren sogar aufgeblasen genug, um dem versunkenen Oesterreich ironische Komplimente dafür zu machen, daß es sich die Form seines Untergangs wenigstens noch selbst ausgesucht habe. Nicht allen ehemaligen Weltmächten sei das gelungen.

»Bande!« – sagte Valär. Und abermals klirrten die Sporen. Denn die Vorgänge jenseits der Grenze hatten auch für ihn eine längere Einberufung zur Folge gehabt. Außerdem hatte man ihn seines bisherigen Kommandos enthoben und im Generalstab an die Spitze einer Sektion für das Festungsbauwesen versetzt . . . Aber jetzt fuhr er wieder heim.

 

Auch das Sanatorium bekam die Umwälzung in Form eines neuen Zulaufs beunruhigter oder irgendwo durchgebrochener Menschen zu spüren, deren einziges Bedürfnis Sicherheit war. Vorübergehend war der Besuch etwas flau gewesen. Rosas 342 Reklamemann hatte bereits den Vorschlag gemacht, ein entzückendes junges Paar für Kranksein und anschließendes blühendes Gesundwerden zu engagieren. Die beiden Leutchen müßten in den besten Gesellschaftskreisen des Landes gut eingeführt sein und könnten durch eine vom Sanatorium aus unterhaltene Korrespondenz in unauffälliger Weise vom Wunder ihrer Heilung berichten. Er wolle dieses Paar gern besorgen.

Dieser Vorschlag brauchte nicht mehr länger erwogen zu werden. Denn aus einem böhmischen Bad, wo er sich infolge der wachsenden Erregung des Sudetenlandes nicht mehr ganz ungeniert fühlte, kam ein asiatischer Prinz mit seiner rehfarbigen Frau, zwei Kindern und zugehöriger Dienerschaft, und belegte viele Gemächer. Weniger hohe Persönlichkeiten männlichen und weiblichen Geschlechts folgten ihm auf dem Fuß.

 

Unter ihnen befand sich auch ein schmächtiger Mann mit einer tiefen leisen Stimme und einem ernsten ahnungslosen Maikäferkopf, der gar nicht begriff, daß er Jude sein sollte. Er hatte in einer Stadt an der Isar eine literarische Zeitschrift herausgegeben; ein schöngeistiger Fürst war sein Freund gewesen, war es noch immer, und er selbst war als Uebersetzer klassischer spanischer und italienischer Werke berühmt. Etwas Staatsgefährliches war nie an seiner Tätigkeit gewesen, zumal sie sozusagen unter Ausschluß der Oeffentlichkeit erfolgt war. Denn sie hatte vorwiegend darin bestanden, daß er längst selig und heilig gesprochene Tote in seiner Zeitschrift noch einmal selig und heilig sprach, immer wieder einen frischen Blumenstrauß in die Vasen vor ihren Denkmälern stellte und dafür sorgte, daß das Oel in ihrem Altarlämpchen nicht ausging.

Eines Tages, so erzählte er, habe man ihm seinen Betrieb gesperrt mit der Begründung, daß er Jude sei und daher nicht länger als Zeitschriftenherausgeber tätig sein dürfe. Er habe gelächelt, denn er habe sich bis dahin immer als Humanist, Traditionalist und, vollkommen bona fide, als Deutscher gefühlt und sei allem spezifisch Jüdischen mit grundsätzlicher Wachsamkeit 343 und einer bedeutenden Reserve von Mißtrauen gegenübergestanden, das ihm durch mancherlei Erfahrungen als berechtigt bestätigt war. Hatte doch ein spezifisch jüdischer Verlag ihn geradezu als Renommierchristen zu sich heranziehen wollen! Als er nun aber daran ging, das obwaltende Mißverständnis durch Beschaffung des Ariernachweises zu parieren, habe man ihm zu seinem Erstaunen aus den Standesregistern bewiesen, daß er drei jüdische Großeltern habe. In tiefstem Schmerz darüber, daß sein Vaterland ihn deswegen zu seinen Feinden zähle, habe er daraufhin seine sieben Sachen zusammengepackt, habe die Reichsfluchtsteuer bezahlt und sei mit seiner Zeitschrift nach Oesterreich ausgewandert. Aber kaum war er dort ein wenig warm geworden, da wurde die Luft abermals ungemütlich, sehr ungemütlich sogar, und nun war er auf Umwegen hier im Haus der Lebensfreude gelandet, um sich von den letzten Schrecknissen zu erholen. Er sah elend und verfallen aus, konnte nur noch mit Benutzung stärkster Schlafmittel schlafen und schüttelte zu seiner jüdischen Abstammung wie zu etwas ganz Unfaßbarem den Kopf, weil sie allein daran schuld sein sollte, daß andere, die sich ihre Eltern doch ebenfalls nicht hatten auswählen können, aus ihr die Berechtigung ableiten durften, ihn mit jedem Itzig, Wucherer und Schmuhl auf den nämlichen Abfallhaufen zu werfen und zu zertrampeln.

Im Sanatorium hatte er eine große Zuhörerschaft, wenn er mit seiner tiefen, leisen und langsamen Stimme von dieser Seite seiner Leiden erzählte. Manche nickten kühl und blieben stumm; andere bemitleideten ihn, und nur ein stets gereizter und sehr barscher Mann mit knochiger Hakennase, der an Blasensteinen und außerdem noch an einem tickartigen Augenblinzeln litt, war hartherzig genug, ihn vor allen andern zu fragen:

»Du meine Güte, aber wenn Sie jetzt in diesem teuren Sanatorium leben können, – woher haben Sie dann das Geld? Jetzt können Sie es ja nicht mitgebracht haben! Folglich haben Sie Ihrem Mammon schon längst eine Fahrkarte erster Klasse ins Ausland gekauft. – Ist das auch ganz bona fide geschehen?«

Entsetzen! Wie konnte man so taktlos sein?

Aber dem Frager schien gar nichts an einer Antwort gelegen 344 zu sein. Jedenfalls wartete er eine solche nicht ab, sondern rief, indem er dem verdutzten Mann einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter gab, in seiner grimmigen Art:

»Ganz recht, junger Mann! Ich habe es mit meinem Geld genau so gemacht, nur sind wir miteinander gleich nach dem Weltkrieg gegangen – ganze siebenunddreißig beschissene Papiermilliarden österreichischer Währung . . . und ich –, es reichte grad für drei Mittagessen bei den alkoholfreien Unterröcken im Blauen Kreuz – haha! Aber bilden Sie sich nur nicht ein, daß Ihr Unglück mich rühren könnte. Ein Mann, der als k. und k. Weltkriegsleutnant drei Tage in einem russischen Latrinengraben gelegen hat, weil es ein anderes Unterkommen weit und breit nicht mehr gab, junger Mann, und gesehen hat, wie die Würmer in dem Dreck auch noch Junge kriegten: – nein, pfui Teufel, mein Herr! Ich will ja nicht Gammerschwang heißen, wenn ich daraufhin nicht das Recht haben soll, jedes Unglück, das in der Welt sonst noch geschehen mag, aber auch jedes von Grund aus zu verachten. Ich muß es deswegen auch ablehnen, jawohl, ablehnen, sage ich, von diesen sogenannten R‑revolutionen neuesten Datums, ha, überhaupt nur Notiz zu nehmen: samt ihren Folgen für Mensch und Vieh! Aus dem gleichen Grund würde ich auch jede Hilfeleistung ablehnen müssen, falls Sie mich darum ersuchten. – Meine Herrschaften, küß die Hand!«

Auch Fräulein Molitor behauptete, sie sei nicht auf die Welt gekommen, um sich diesen exkommunizierten Literatur-Kaplan anzusehen, und ging ihm aus dem Weg. Andere aber nahmen sich in rührender Weise seiner an, und als in dem Unglückswurm mit der Zeit trotzdem Zweifel auftauchten wegen seiner Erwünschtheit in diesem Land, da sagte ein würdiger, etwas kurzatmiger Herr, der ihn dieserhalb trösten wollte, in breiter Gemütlichkeit:

»Machen Sie sich nur keine Sorge wegen dem Geist da bei uns! Wenn die Welt einem Menschen recht übel mitgespielt hat: – wissen Sie, was ich ihn dann jedesmal frage? Dann frage ich ihn, ob er ein Land auf der Erde weiß, zu dessen Oberhaupt er jederzeit sagen kann: ›Kommen Sie doch, bitte, morgen zu mir zum Mittagessen‹, – ohne daß man ihm die Ohren abschneidet 345 für seine Brüderlichkeit. Nein, antwortet dann jeder, ein Land, wo man das könne, wisse er nicht. Da sage ich ihm: ›Bei uns kann das jeder!‹ – Sehen Sie, das ist unser Geist.«

»Sagen! Nu! Wenn schon!« meinte der Unglückswurm. »Aber ob er auch kommt?« –

So war diese Zeit.

 


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