Adolf Koelsch
Es ist sehr weit zum Paradies
Adolf Koelsch

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XXXIX.

Zum zweitenmal hatte Valär sich Nele erobert, und es machte ihm Freude, daß es so war. In ihrem Umgang gab es nun keine Hemmungen mehr. Sein Wochenendhaus stand ihr offen, und an jedem Samstag oder Sonntag machte sie unangemeldet von ihrem Besuchsrecht Gebrauch. Es gab kurze Besuche und lange Besuche, und bald war sie bei ihm so daheim, daß sie seine Gewohnheiten kannte und sich nach ihnen einrichten konnte. Hin und wieder kam sie an beiden Wochenendtagen; zuweilen behielt er sie auch zum Nachtessen da, aber spätestens um neun Uhr brachte er sie nach Hause. Ihr Schlaf war ihm heilig und der seinige auch.

An den Formen ihres Umgangs änderte sich während dieser Zeit nichts. Sie sagte ihm weiterhin »Sie«, und »Herr Valär«, und er ließ es dabei bewenden. Er gab ihr Bücher zum Lesen mit, und wenn Nele sie wieder brachte, sprachen sie miteinander darüber. Sie hörte ihm aufmerksam zu und oft sagte sie: »Ah, so sehen Sie das!« Aber sie blieb ihrer Art, die Dinge zu sehen, und ihrem Wesen trotzdem treu, und das gefiel ihm. 394

Einmal behauptete sie, sich verspätet zu haben. Sie habe ihr Haar waschen müssen, und es sei so lange nicht trocken geworden. Aber sie war gar nicht später als sonst. Nun, da sie davon gesprochen hatte, blickte er auf ihr Haar und sah, daß es glänzte. Es lag ein Schimmer darauf wie auf einem goldenen Sonnenuntergangshimmel, bevor die Wolkenränder sich rosig röten und die dunklen Purpurfarben der Dämmerung ihn überlaufen. Nele war wohl nur besorgt gewesen, er könne diese Herrlichkeit an ihr übersehen. Jetzt hob er seine Hand und strich ihr über den Scheitel. Sie stemmte ihren Kopf fest dagegen, und während ihre Augen sich schlossen, legte sie ihren linken Arm mit einer ungeschickten Bewegung um seinen Hals. Er küßte sie. Sie lachte, aber es war davon nichts zu hören.

 

Am Nachmittag des Neujahrstags veranstaltete Valär in seinem Häuschen ein kleines Fest: ein Fest der Jugend. Nele durfte aus ihrem Bekanntenkreis mitbringen, wen sie wollte, und sie tat daraufhin sehr geheimnisvoll. Schließlich brachte sie den jungen Streiff und ein sehr bürgerlich aussehendes rosiges Mädchen, das Valär fremd war. Es war ein beinahe kugelrundes Geschöpf mit kleinen, vergnügten, auffallend blauen und auffallend neugierigen Augen – jene ehemalige Schulfreundin Neles, die ungefähr gleichzeitig mit ihr wegen ungenügender Leistungen aus der Töchterschule geschwenkt worden war. Sie hieß Vreni Fehr; ihr Vater war Bäckermeister und machte die besten Streuslikuchen der Stadt. Sie selbst war bereits vielbeschäftigte Graphikerin: Modezeichnungen, Packungen, Reklame . . . Außerdem kamen die drei Elmenreich-Kinder, von denen Dinah und Bruno grad ihren Urlaub hatten: Dinah von einer Pflegerinnenschule, die sie in Lausanne besuchte – Bruno von der Rekrutenschule. Bruno brachte auch seine Freunde Kari Bösch und Emil Dormond mit. Bösch war jetzt Vorarbeiter in einer Möbelschreinerei, die für Valärs Ball-, Konzert- und Ausstellungshaus große Aufträge hatte. Bei Besuchen auf Valärs Büro hatte Bösch Luise kennengelernt, und sie hatten sich einander versprochen. Valär sah das gern. Denn Bösch war in 395 seinem Beruf ein außerordentlich tüchtiger Mensch, von dessen Zukunft er sich das Beste versprach. –

Dinah ließ ihre leicht kurzsichtigen Augen, das braune und blaue, forschend über die Runde gleiten, rückte das goldene Ringlein mit dem Opal, Valärs früheres Geschenk, so zurecht, daß es hinreichend zur Geltung kam, und wandte sich dann dem Büfett zu. Nachdem sie alles genau untersucht und abgezählt hatte, rief sie:

»Das sage ich! Kuchen und Süßigkeiten hat es genug, das reine Laubhüttenfest ist das ja! Aber belegte Brötchen sind entschieden zu wenig. – Na, ich werd mal die Hausfrau machen, ja, sei so gut, und werde Seline ein wenig helfen.«

Damit verschwand sie in der Küche.

Auch Jürg Elmenreich hielt es nicht lange aus. Er behauptete, auf dem See Reiherenten und Tafelenten gesehen zu haben, nordische Wintergäste, und da mußte er mal . . . Er ließ sich von Valär den Schlüssel zum Bootsschuppen geben und wurde erst lange nach Einbruch der Nacht wieder gesehen.

Ganz von selbst ergab es sich, daß Bruno im Lauf des Zusammenseins zum Mittelpunkt der versammelten Jungmannschaft wurde. Valär hatte immer gefunden, daß Brunos leidenschaftliche Hingabe an die Zeit, in der er lebte, etwas unbedingt Herrliches war. Er hatte ihn dafür auch verteidigt. »Er begegnet dem Guten und begegnet dem Schlimmen«, hatte er einmal zu Brunos Vater gesagt, »dem Echten und Falschen, jedem in seinem Zeitgewand – und, sag mir, was will er mehr? Mag er sich auch manchmal verirren auf seinem Weg und in schwierige oder gefährliche Lagen geraten – um so besser für ihn! Er gehört zu den Menschen, die alles für sich allein herausfinden müssen, noch viel mehr als du oder ich.«

Auch jetzt stellte Valär mit Vergnügen fest, daß Bruno von diesem Willen zur Hingabe an seine Zeit nichts verloren hatte, und daß sein leidenschaftlicher, kluger und harter Kopf mit den sprühenden Augen hinter den langen seidigen Wimpern durch seine Entschiedenheit von allen andern sehr spürbar abstach. Nicht einmal er, so kam ihm vor, war zu seiner Zeit vom 396 Soldatsein so erfüllt gewesen wie dieser junge Mensch, für den es früher kaum etwas Schwierigeres gegeben hatte als zu gehorchen, ohne zu fragen nach dem Warum und Wieso. Es schien für Bruno gar kein Opfer zu sein, sich nach der Nase des Nebenmanns auszurichten, anstatt der eigenen nachzulaufen, und sein ganzes Verfügungsrecht über sich selbst wegzugeben an eine Instanz, die stofflich überhaupt nicht zu fassen war.

Hierbei wirkte offenbar auch eine innere Wandlung mit, die Bruno während seines Genfer Aufenthalts durchgemacht hatte: er steckte nicht mehr so voller Theorien wie vor dieser Zeit, sondern war dem Leben selbst nähergekommen. Die Menschen und ihre Einrichtungen störten ihn nicht mehr in einem fort, und damit war auch ein Stück jener blinden Widersetzlichkeit und finsteren Liebe für grausame Dogmen verschwunden, die wahrscheinlich nur ein Ausdruck seiner Furcht gewesen war, er könne mit dem Leben nicht fertig werden, wenn er sich nicht mit solchen Waffen umgab. Doktrinen irgendwelcher Art waren ihm eher verdächtig geworden; schon allein dadurch, daß sie Doktrinen waren, riefen sie seinen Argwohn wach, und sogar, wenn er sie selber aufgestellt hatte, konnte er ihnen mißtrauen. Mit einer Doktrin konnte man einem andern Doktrinär ganz prächtig den Kopf abschlagen. Aber wuchsen solche Köpfe nicht wieder nach?

Das zeigte sich auch, als Valär mit harmloser Miene Bruno und seinen Dreitannenfreunden die Frage zuwarf: »Und was macht euer Neues Europa?« – Bösch und Bruno blickten einander an, als erwarte jeder, daß der andere ihm die Last dieser Frage abnehmen werde, und erst, als Valär dem Ball mit der Frage: »Seid ihr mit seinem Befinden zufrieden?« einen neuen Stoß versetzte, und auch das rosige Fräulein Fehr neugierig näher rückte, antwortete Bösch nicht ohne Betretenheit:

»Grad auf dem Herweg haben wir davon gesprochen. Bruno hat gesagt, daß sie nichts als himmeltraurige Fehler machten, und ich habe gesagt, daß man mit seinem eigenen Volk und seinen schwer erworbenen Freiheitsrechten natürlich nicht so umspringen darf, wie sie es tun. – Nicht wahr, Bruno?«

»Also das Kind hat Fieber!« sagte Valär und fischte sich ein 397 zweites Sardellenbrötchen von der Platte, die Nele anbot. »Sardellenbrötchen zum Beispiel sind ihm verboten. – Und wie heißt die Krankheit?«

»Ihre Methoden, Götti!« – fiel Bruno ein. »Früher ist alles gar nicht so sichtbar gewesen. Früher hat man nur Druck gespürt, und Druck ist ja natürlich ganz gut. Die Hefe muß unten bleiben, es hat gar keinen Zweck, daß sie aufgerührt wird, – und die klare Brühe soll oben sein: darüber sind wir ja einig. Druck erzeugt außerdem Gegendruck. Das gibt Bewegung und Leben. Aber geistige Zwangswirtschaft, Konzentrationslager, Spitzeltum in allen Farben und geheime Herrschaft von Schreckensmännern, und das nicht als Auswuchs, sondern als staatliche Einrichtung: – nein, Götti, damit macht man kein Volk gesund. Damit zimmert man auch kein neues Europa zusammen! Man darf sich nicht an die Spitze einer Staatengemeinschaft stellen wollen, die Hand ausstreckend nach dem vornehmsten Amt – und im gleichen Augenblick verwendet man die persönliche Freiheit, die man für sich selber in Anspruch nimmt, kaltblütig dazu, um die Freiheit im eigenen Volk zu unterdrücken, als wäre sie nur ein ekelhaftes Geschwür, das man ausrotten muß, wo man es antrifft. So etwas geht einfach nicht. Es geht um keinen Preis!«

»Brav von dir, Bruno!« sagte Valär. »Ich habe nie daran gezweifelt, daß du es eines Tages ganz von selbst merken würdest. Daß es so schnell gehen würde, hätte ich allerdings nicht gedacht. Aber es ist leider wirklich so, wie du sagst. – Meinen Sie nicht auch, Dormond?«

»Doch, Bruno hat vollkommen recht. Man darf sich als Staatsmann von seinem Volk wirklich nicht zuerst jede nur erdenkliche Macht bewilligen lassen – und wenn man die Macht dann erhalten hat, so nimmt man sie und wischt die ganze Volksherrlichkeit mit ihr unter den Tisch. Entweder man liebt sein Volk. Dann ist man gar nicht imstand, ihm sein blindes Vertrauen mit so furchtbarer Münze heimzubezahlen. Oder man liebt nur die Macht. Dann muß man aber auch die Hoffnung aufgeben, daß man andere Völker mit seinem Beispiel zu sich heranziehen kann.« 398

»Das Neue Europa ist trotzdem eine wunderbare Idee«, rief Bruno ungeduldig. »Das wird sie auch bleiben.«

»Mit Gewalt wird sie aber niemals zu verwirklichen sein«, entgegnete Dormond. »Die deutschen Kaiser des Mittelalters haben dieses Europa bereits mit Gewalt zu schaffen versucht und sind daran gescheitert. Die spanischen Könige haben es versucht und sind gescheitert. Ludwig XIV. hat es versucht, und Napoleon hat es versucht, und alle sind daran zugrund gegangen. Auch der jetzige Versuch ist ein Gewaltversuch, und er wird scheitern, weil die Völker Europas niemals dulden werden, daß eine Macht sich als Vormacht fühlt und alle beherrscht, als wären sie mit minderen Rechten geboren. Europa als Schicksalsgemeinschaft: dem stimmen wir zu. Dagegen lehnen wir ein Europa ab, in dem man, mitsamt seinen Menschenrechten, bloß dadurch schon in Gefahr gerät, daß man mit den Zähnen knirscht oder sich mit einem Zähneknirscher befreundet.«

»Wollen Sie damit sagen, daß die Diktatoren bisher überhaupt nichts Anerkennenswertes geleistet haben?« ließ sich das rosige Fräulein Fehr mit beinahe indignierter Stimme vernehmen.

»Im Gegenteil. Sie haben sogar etwas ganz Großes vollbracht, groß wenigstens in meinen Augen.«

»Und das wäre?«

»Sie haben gefühlt, daß es eine Schande ist für das Menschengeschlecht, sich so zu erniedrigen unter das Geld, wie es in vielen Ländern jetzt noch geschieht, und unter die Einrichtungen, die die Macht des Geldes vertreten. Mit diesem Despotismus sind sie abgefahren. Aber sie haben an die Stelle der Erniedrigung unter das Geld die Bevormundung der Gewissen gesetzt, und damit haben sie nur die Cholera durch die Pest ausgetrieben.«

»Lieben Sie mehr die Cholera oder die Pest?« fragte Freddy das Fräulein in seiner weichen liebenswürdigen Art und streckte ihr eine Schale mit Pralinen entgegen.

»Ach Gott, so bin ich nun ja auch wieder nicht, daß ich für die Cholera lieber die Pest haben möchte. Ich glaube, diese Kirsche mit Schnaps ziehe ich vor«, sagte das Fräulein, worauf alle lachten und fanden, dies sei die beste Erledigung des unmittelbar vorher 399 noch so schwierig erschienenen Falles über die Lage, in der sich das Neue Europa augenblicklich befand.

Dieser Freddy war auch sonst gar kein leider Mensch, und in mancher Hinsicht war er geradezu eine Perle. Er sah zwar wie ein Mädchen aus, Bruno hatte das seinerzeit sofort erfaßt, und er war glücklich, daß es Winter geworden war, und daß er deswegen wieder in der Stadt wohnen durfte. Dieses Leben auf dem Land, seufzte er, diese anstrengenden Radtouren mit jungen übermütigen Damen! Ebensowenig schleckte er sich den Finger nach dem Soldatenleben – trotz der Anwesenheit eines Oberstleutnants, eines Offiziersaspiranten (Emil Dormond), eines Unteroffiziers der Sappeure (Kari Bösch), des Rekruten Bruno und einiger junger Damen mit Heldenverehrung gab er seine Abneigung gegen solche Zumutungen ohne Umstände zu . . . Um so reiner konnte er sich seines Daseins auf jener Seite des Lebens freuen, auf der das ewig Schöne daheim ist, die »poésie pure«. Hier war die geistige Produktion noch nicht zu einem Nebenarm des Wirtschaftslebens herabgesunken. Hier gab es noch Büttenpapier, köstliche altvenezianische Druckbuchstaben, Goldschnitteinbände und Verse. »Kennen Sie die neuesten Gedichte von Valéry?« – Niemand kannte sie. Er zog das Bändchen hervor. Er steckte es aber auch sofort wieder ein. Jeder Esel, erklärte er gutgelaunt, könne ja so einen Band in der Tasche haben. Er habe auch schon die Idee zu einem Verlag, und das könne ebenfalls jeder Esel in aller Gemütlichkeit sagen. Einstweilen feiere er seine Triumphe auf andern Gebieten. Als eines der Mädchen wissen wollte, auf welchen, machte er abermals von seiner Gabe Gebrauch, eine ganze Gesellschaft mit nichts brillant zu unterhalten. Da sei, berichtete er, neulich ein Herr in den Laden gekommen und habe ziemlich aufgeregt »Die Venus im Pelz« verlangt. Von wem sie sei? Das sei einerlei, es sei jedenfalls etwas von einem – na ja – und einem Diwan. Ein schwieriger Kunde, nicht wahr? Schließlich habe er den Mann aber doch zur Strecke gebracht und ihm, gegen bar, den »Trompeter von Säckingen« verkauft, nachdem er auf den »Westöstlichen Diwan« nicht anbeißen wollte. Mache ihm einer das nach! 400

Wer Freddy nur nach einzelnen seiner Aeußerungen bemaß, mochte ihn für leichtfertig halten. In Wahrheit war er eine zarte verschämte Natur, besaß eine bequeme heitere Sicherheit und mochte sich selber gut leiden, genau wie sein Vater. Er hatte es gern, daß Dinah ihm von Zeit zu Zeit immer wieder etwas Süßes auf den Teller legte, ein Stück Zuger Kirschtorte oder so, und er zögerte nicht, ihr anzuvertrauen, noch lieber als Tee hätte er zu all diesen guten Sachen Schokolade gehabt.

Auch Dinah und Nele vertrugen sich. Nele ließ sich von der die Hausfrau spielenden Dinah geduldig herumkommandieren zu diesem und jenem Geschäft, und Nele tat mit Valär nicht intimer, als nötig war, um Dinah nicht zu reizen. Mindestens eines von Dinahs Augen war aber zeitweise nicht ganz von Eifersucht frei.

 


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