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45

Zwei Stunden später blickte Matthias von seiner gewohnten Bank auf einige Segelboote, die sich langsam aus der Weite näherten. Ein sanfter Wind wehte, der wohlige Duft blühender Mimosenbäume ging über Matthias hin. Ohne sich völlige Rechenschaft davon abzulegen, wartete er.

Taktmäßiger Hufschlag wurde laut, Kies knirschte unter Rädern, es ließen sich Stimmen hören, dann kamen leichte Schritte um das Haus. Matthias hatte sich erhoben … er stand vor der Fürstin, und in Erinnerung an einst Erlerntes wollte er sich niederbeugen, um ihre Hand zu küssen. Sie hielt ihn auf, erfaßte auch seine Linke und suchte seinen Blick. Sie atmete ein wenig schwer, vor Erregung oder vor Hast.

»Es war gut,« sagte sie flüsternd, so als könnten ihre Worte belauscht werden, »daß du mich nicht erkanntest … vor ihm. Mein Himmel, es war doch ein choc für mich, fast hätte ich laut geschrieen. Aber ich freue mich, Matthias, ich freue mich, das ist wahr …«

Sie nahm Platz. Matthias blieb vor ihr stehen in seinem leinenen Anzug und sah ohne rechten Blick auf ihr graues, dreieckiges Hütchen und auf das seidig in die Stirn fallende, rötliche Haar. Ja, er hatte es gefühlt, daß sie zurückkehren würde, er wurde auch nicht verlegen in ihrer Gegenwart. Dennoch war es nicht leicht, nun mit ihr zu reden …

»Komm, komm, Matthias,« wiederholte die Fürstin, und auch er ließ sich nieder. »Aber du sagst nichts, kein Wort … Ich glaube, Matthias, du hast keine Freude, daß ich gekommen bin? Hätte ich nicht wiederkommen sollen? Ich glaube, Matthias, du hast mich vergessen …«

Lächelnd schüttelte er den Kopf.

»So schnell bist du damals verschwunden, mein Freund, ich sah dich nicht mehr … Und wie habe ich nach dir gesucht!«

»Oh, Fürstin …«

»Ja. Aber sage mir, warst du damals denn schon hier in diesem Hause und bliebst dann so nahe, während ich dich suchte …?«

»Am nächsten Morgen, Fürstin, kam ich zuerst hierher. Hier fand man mich, auf einer von den Bänken …«

»Man fand dich …? Das verstehe ich nicht. Wer fand dich? Ach, Matthias, an jenem Morgen schon wußte ich, daß es gut für mich wäre, wenn ich dich länger sähe. Es wäre besser gewesen, sicherlich … Manches hätte ich besser gemacht.«

Und leiser fügte sie hinzu: »Es ist mir nicht sehr gut gegangen seit damals …«

Er blickte sie an, zum ersten Male jetzt. Schön war es wie einst, ihr schimmernd helles Gesicht. Aber unter den Augen hatten sich kleine bräunliche Flächen herausgebildet, die der Puder nicht völlig verbarg; und ihre Augen selbst schienen bleicher. Sie trug das zarte Haupt auf dem entblößten Halse so, als sei es schwer. Übrigens war sie wohl ein wenig voller geworden … Ihr Kleid war duftig, von leichter perlgrauer Seide. Auffallen konnte es, daß sie an langer Kette ein amethystenes Kreuz auf der Brust trug, das an ein Bischofskreuz erinnerte.

»Ja, Matthias, selten bin ich glücklich gewesen seither.«

»Das macht mich traurig,« sagte Matthias. Und aus einem Gedankengang heraus setzte er hinzu: »Nicht der Fürst war heute mit Ihnen …«

Sie richtete sich auf. »Der Fürst ist tot,« sagte sie mit festerer Stimme und mit einer eigentümlich trennenden Handbewegung. »Er ist noch in jenem Winter gestorben. Nein … kondoliere mir nicht, Matthias. Sage nichts. Er hat mir ja nichts bedeutet, du weißt es. Und wir Beide müssen in jeder Silbe wahr miteinander sein, das ist das Wichtigste …«

»Dennoch … es tut mir leid,« wiederholte Matthias, »er war nicht alt …«

Wahrheit wollte sie. Auch damals hatte sie Wahrheit gesucht … Er hörte ihr erhitztes Flüstern: »Wenn du etwas Häßliches zu gestehen hast, um so besser, um so besser, sei offen mit mir, sei frei …« Aber sie war verändert, der Trotz, die böse Lust war aus ihrem Drängen verschwunden. Müde, hoffnungslos beinahe klang ihre Stimme … Nein, offenbar, sie war nicht glücklich.

»Sie haben sich von Neuem vermählt?« sagte er behutsam.

»Nicht vermählt, noch nicht. Aber es ist wahrhaftig ebenso schlimm. Oh, furchtbar ist es …«

»Wie denn, Fürstin« – und er ergriff die Hand im zarten Leder, fast wie Kostomarow an dieser Stelle die seine genommen hatte – »wie denn, was kann so furchtbar für Sie sein? Sind Sie nicht völlig frei? Frei und schön und reich und können gehen, wohin Sie nur mögen … Wer hat denn Macht über Sie?«

Sie schlug einen klagenden Blick zu ihm auf, einen Blick, der an all das erinnern sollte, was sie gemeinsam wußten; unvermittelt aber brach es wie Heiterkeit und Schelmerei aus ihren traurigen Augen …

»Wie er nun dasitzt neben mir, mein kleiner Freund, mein kleiner Bauer … als wäre er mein Vater oder mein Beichtvater! So klug und überlegen sieht er auf mich … Ach ja, auch du hast dich verändert, Väterchen, aber in besserer Weise als ich …«

Matthias widersprach nicht, er ließ ihre schmale, heiße Hand in den seinen ruhen.

»Sage mir … sag mir, Matthias, mein Freund … bist du glücklich?«

»Glücklich,« antwortete er zögernd, denn er wollte nicht wehe tun, »Fürstin, ich habe Frieden …«

»Frieden, ja Frieden, ich habe ihn nicht. Und oft scheint es mir, als könnte ich ihn niemals finden. Wo habe ich ihn nicht gesucht! Auch bei Gott habe ich ihn gesucht, Matthias … noch suche ich ihn dort. Aber Gott läßt sich ja so leicht nicht finden von Augen, die ihn einmal verlassen haben. – Zu Hause war ich fromm,« sagte sie leise.

Und abermals nach einem Schweigen: »Vielleicht hätte ich niemals von Hause fortgehen sollen. Dort wäre er wahrscheinlich gewesen, der Friede, auf unserem Bauernhof in Rumänien …«

»Das ist ganz unsicher, Fürstin,« sagte er ernst. »Es ist wahr … es gibt freilich Geschöpfe, für die es ein Unglück bedeutet, wenn sie sich einmal loslösen von ihrem Felsen …«

»Von ihrem Felsen?«

»Von ihrem Boden. Aber wer weiß, ob er zu ihnen gehört! So wenig wissen wir … Wollen Sie mir nichts erzählen, Fürstin …? Sind Sie nicht zu mir gekommen, um zu erzählen …«

»Was wäre zu erzählen, Matthias? Und du weißt auch schon alles. Ich bin ja wieder mit einem von ihnen, von den Gebietenden … von unseren Herren …«

Sie unterbrach sich. »Von unseren?« wiederholte sie. »Aber ich glaube gar nicht, daß es auch deine Herren noch sind … So ruhig sitzest du da in deinem Dieneranzug, so sicher, so fest … nein, über dich haben sie keine Macht mehr, ich sehe es … Ist denn die Demut fort aus Ihrem Blut, Matthias … Wie haben Sie das gemacht?«

Er sah sie lächelnd an, mit einem Erröten.

»Das Blut verwandelt sich wohl niemals, Fürstin … Aber es kann vorkommen, daß man den Herrn wechselt, nicht wahr? Ich habe nur meinen Herrn gewechselt … Niedrigen Herren diene ich jetzt, den niedrigsten.«

Aber während er sprach, änderte sich der Ton seiner Stimme, sein Antlitz verdunkelte sich, er richtete sich empor:

»Längst hätte ich fragen müssen … Was ist denn aus Ihren Freunden geworden … sagen Sie, was ist mit Herrn Kiprjanoff geworden, was tut er …«

»Tot,« sagte die Fürstin Lanskoj, »alle sind tot. Ja, ist das nicht seltsam?«

»General Kiprjanoff ist gestorben … wirklich … ist das gewiß …«

»Nicht gestorben, Matthias, nein. Sie haben ihn ermordet. Ein junger Edelmann aus der Ukraine hat ihn ermordet, oh, auf eine romantische Art. Bei irgend einer Einweihung war es, das heißt nachher … man gab ein Festmahl dem Gouverneur zu Ehren, dabei geschah es. Der junge Edelmann war nämlich auch eingeladen, er saß sogar, weil er aus einem großen und geehrten Hause stammt, dem General gerade gegenüber. Er war ganz ruhig, aß und trank und lachte wie die Anderen auch. Aber nach der Rede des Kreismarschalls, als alles aufstand und durcheinander rief und mit den Gläsern klingelte und die Musik einen Tusch blies – da beugte er sich ein bißchen vor, hob seinen Arm und stieß dem General mit einem festen Ruck seinen Dolch mitten in die Brust. Kiprjanoff soll umgefallen sein wie ein Baum …«

»Seinen Dolch …« rief Matthias und griff nach der Seitenlehne.

»Ja, seinen Dolch. Und mitten in das Herz. Aber das Beste ist, daß der Mörder – oh, aber er ist kein Mörder, nein – daß er in dem ungeheuern Tumult entkam und fliehen konnte und daß ihn niemand mehr sah. Und jetzt lebt er irgendwo im Auslande, in Parks vielleicht, oder vielleicht lebt er auch hier an der Küste – da in dem Städtchen womöglich,« sagte sie und wies mit dem Haupte nach den weißen Häusern der Bucht. »Ja, er ist ein Held …«

»Das ist er,« sagte Matthias hochaufatmend. »Obgleich es für ihn vielleicht nicht so schwer war … General Kiprjanoff ist tot …!«

»Ja,« wiederholte sie, »er ist tot. Aber nicht er allein. Auch Besborodko ist tot, erinnern Sie sich, Matthias: der Dicke, Bärtige, der immer den Stanislausorden trug, auch er ist tot. Er hat sich duelliert, der Dummkopf, aus Eleganz, wissen Sie, Matthias … Aber er hatte Pech. Denn der Andere war noch viel eleganter und schoß wie ein richtiger Herr. Und Besborodko lag da. Ja, der ist auch fort.«

Hierauf antwortete Matthias nichts. Er blickte von der Fürstin hinweg, auf das sacht dunkelnde Meer. Schritte näherten sich, und auf dem breiten Kieswege ging Kostomarow an ihnen vorüber. Freundlich nahm er, ohne Erstaunen zu zeigen, mit einer weiten Bewegung seinen altmodischen Hut ab. Matthias hatte sich erhoben und verneigte sich tief.

»Wer war denn dieser schwarze Herr?«

»Der Direktor war es. Mein Direktor. Professor Kostomarow …«

»Ein Russe?«

»Natürlich, Fürstin. Hier sind viele Russen. Es ist ein russisches Institut.«

»Unter lauter Russen leben Sie hier, Matthias? Nun, und sind es gute Leute?«

»Herr Kostomarow wenigstens ist herrlich,« antwortete Matthias, und lächelnd fügte er hinzu: »Ich bin sogar selbst ein Russe geworden, Fürstin …«

Doch wieder, wie zuvor, unterbrach er sich, – mit einer Stimme, in der es klang wie Selbstanklage:

»Das Wichtigste vergesse ich ja. Das Wichtigste habe ich nicht gefragt. In seinem Bezirk, Fürstin … in General Kiprjanoffs Gouvernement, haben denn dort die Unterdrückungen nun aufgehört? Wird nicht mehr den Bauern das Vieh weggenommen für die Steuer … Und wie,« sagte er leise, »wie steht es mit den Juden? Verfolgt sie jetzt keiner mehr?«

»Die Juden, Matthias … ich weiß es nicht. Ich denke wenig an die Juden, lieber Freund, ich denke mehr an mein eigenes Schicksal, will ich gestehen. Aber weil Sie fragen … ja, ich besinne mich: der neue Herr dort, hat man mir gesagt, soll ein guter Mann sein. Ein Mann der neuen Schule, sagte Wladimir Alexandrowitsch … Er sagte es mit Naserümpfen, Matthias, denn er selbst gehört nicht zu der neuen Schule, fi donc. Er ist für die Peitsche, Matthias, das können Sie glauben, und er prophezeit, daß alles schlecht gehen muß, dort in dem Gouvernement, unter dem neuen, milden Regiment. Oh, Wladimir Alexandrowitsch, das ist Einer …«

»Fürstin,« sagte Matthias, »warum lassen Sie nicht wirklich Ihre Koffer packen und fahren zur Eisenbahn und reisen heim nach Rumänien? Nun sage ich es selbst. Versuchen Sie es wenigstens einmal. Vielleicht ist es doch das Beste …«

»Das Beste, Matthias … Das Beste kann nur sein, was zugleich auch möglich ist. Aber ich bin wohl in meinem Inneren zu weit von dort. Zu weit auf dem Wege, Matthias … ich weiß nicht ob Sie mich begreifen …«

Er schwieg.

»Soll ich denn in mein Dorf zurück und wieder Mais auskörnen? Ich bin zu weit gegangen, Matthias. Zu sehr trage ich schon die Zeichen eines andern Daseins, nicht wahr? Oder sollte ich vielleicht in unserer Hauptstadt leben mit meinen Kleidern und mit meinem Gelde … dort, wo ich zuerst auf dem Varieté getanzt habe? Ich weiß, Matthias: vielleicht wäre alles besser als bleiben. Denn nicht lange, so wird er anfangen mich zu schlagen … der Tag ist nicht fern … Und dann werde ich ihn betrügen, ohne daß es mich frei macht, betrügen wie den Andern mit dir … Aber ich werde nicht wieder so einen guten Bubi finden …«

Sie sprach die letzten Worte sonderbar zwischen Lachen und Weinen, und Matthias hörte mit Unbehagen, mitleidig, auf den falschen Ton …

Sie setzte sich zurecht, wie von einem Einfall berührt. Ihrem goldenen Täschchen entnahm sie ein winziges Tuch, betupfte sich die Augen und sagte mit fragender Betonung:

»Aber der gute Bubi will ja nichts mehr von mir wissen! Er würde nicht daran denken, mein Kamerad, mein kleiner Bauer, um meinetwillen von hier fortzugehen, und bei mir zu bleiben und mich durch die Welt zu begleiten …«

»Das, Fürstin, wäre gewiß nicht das Rechte, nicht für Sie, nicht für mich.«

»Nicht …? Vielleicht nicht. Vielleicht ist es wahr, Matthias. Was weiß man … Aber sagen Sie mir, wollen Sie denn ewig hier bleiben in dieser Anstalt, und solche Tiere bewachen …«

»Ja,« sagte er, leise, aber mit einer freudigen Bestimmtheit im Ton.

»Ja, immer!« wiederholte er, und nun klang es fast wie ein verhaltenes Jauchzen. Es war das erste Mal, daß er sich sein Vorhaben deutlich und sogar laut selber bestätigte.

»Wie heiter Sie aussehen, Matthias! Gewiß, Sie sind glücklich. Gestehen Sie es.«

Er schwieg einen Augenblick. »Ja,« sagte er dann, »ich bin glücklich.« Aber beschämt über dieses Geständnis wandte er seinen Blick fort und sah wie suchend über das Wasser hinaus, in die milde, tieffarbene Weite.

»Schauen Sie, Fürstin,« rief er, »heute kann man Korsika sehen …«

»Korsika, Matthias? Nein, das liegt zu weit.« Sie hob das Lorgnon zum Auge und spähte.

»Doch,« sagte er eifrig, »an so schönen Abenden wie heute kann man es sehen. Nicht oft freilich …«

Die Fürstin ließ das Glas auf die Seide ihres Schoßes zurückfallen. »Ich glaube, Matthias, Sie sehen schon Dinge, die andere Menschen nicht sehen können …«

Sie sprach natürlich im Scherz. Und auch Matthias scherzte vielleicht oder vielleicht zerstreute ihn der ferne und seltene Anblick, da er lächelnd erwiderte:

»Noch nicht.«

 


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